Werden die Tschechen zu den Neinsagern in Europa?

Europaparlament in Strassburg, Foto: Europäische Kommission

Das Europaparlament hat vor kurzem mit überwältigender Mehrheit Ja zur Europäischen Verfassung gesagt. Blickt man aber konkret auf die tschechischen Abgeordneten, so ergibt sich ein anderes Bild: Unter ihnen überwogen nämlich die Neinsager. Und zwar so eindeutig, wie in keiner anderen Delegation. Die tschechische EU-Skepsis scheint in letzter Zeit immer stärker zu werden. Hören Sie dazu den nun folgenden "Schauplatz" von Gerald Schubert.

Europaparlament in Strassburg,  Foto: Europäische Kommission
Was ist eigentlich mit den Tschechen los? Wer in letzter Zeit gemeint hat, eine europapolitische Neuorientierung Tschechiens zu erkennen, hat sich diese Frage vielleicht schon einmal gestellt. Einst, in den Tagen der Samtenen Revolution, kursierte das Motto: Zurück nach Europa! Mit Václav Havel wurde ein Mann zum Präsidenten, der nicht nur die Symbolfigur der demokratischen Wende schlechthin war, sondern auch ein klarer Verfechter der europäischen Integration. Und der ehemalige Premierminister Vladimír Spidla, der das Land als Regierungschef in die EU geführt hat, galt hierzulande quasi als Mister Europa und genoss als solcher vor allem auf internationalem Parkett hohes Ansehen.

Mittlerweile ist Spidla Kommissar in Brüssel. Die Amtszeit von Václav Havel ging vor zwei Jahren zu Ende, der jetzige Präsident Václav Klaus betont immer wieder die seiner Ansicht nach negativen Seiten des europäischen Integrationsprozesses. Ein Brüsseler Superstaat sei im Entstehen, meint er, die einzelnen Mitgliedstaaten, und zwar vor allem die kleinen, seien drauf und dran, ihre nationale Souveränität zu verlieren. Die Partei, die er einst gegründet hat, die Demokratische Bürgerpartei (ODS), sieht das genau so. Und die Kommunisten, die als Protestpartei der Modernisierungsverlierer derzeit fest im Sattel sitzen, auch. Die sozialliberale Regierungskoalition fährt zwar weiterhin einen pro-europäischen Kurs, aber die Oppositionsparteien, eben die ODS und die Kommunisten, feiern einen Wahlsieg nach dem anderen, zuletzt im Jahr 2004 bei Europa-, Regional- und Senatswahlen.

Dass die Euroskeptiker in Prag immer mehr Gewicht bekommen, das zeigt sich auch in Brüssel und Strassburg: Am 12. Januar, als das Europaparlament über die EU-Verfassung abstimmte, erwies sich die tschechische Delegation als die mit der geringsten Zustimmung überhaupt: Nur sieben der 24 tschechischen Abgeordneten stimmten für den Verfassungsvertrag, die Bürgerdemokraten, die Kommunisten und zwei Unabhängige waren dagegen. Bei den Kommunisten gibt es, was die negative Haltung gegenüber der europäischen Integration betrifft, weitgehende Übereinstimmung zwischen der Partei und ihren Wählern. Bei der konservativen ODS gilt das jedoch nicht immer. Die Stammwähler der Bürgerdemokraten stehen der EU nämlich meist recht positiv gegenüber. Dennoch meint Jan Bures, Politologe an der Prager Karlsuniversität:

"Wir werden uns wohl mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass die tschechischen Europaabgeordneten, vor allem die der ODS, so etwas wie die 'zweiten britischen Konservativen' werden und langfristig gegen eine Vertiefung der Integration und gegen eine Stärkung der Europäischen Institutionen auftreten. Ich halte das auch für eine sehr stark innenpolitisch motivierte Angelegenheit: Die ODS will den Wählern zu Hause zeigen, dass sie in dieser Frage ihrer Linie treu bleibt. Und sie wird die Wähler weiterhin davon zu überzeugen versuchen, dass die Europäische Verfassung die Souveränität der einzelnen Staaten gefährdet und für Tschechien unvorteilhaft ist."

Ist diese Politik der ODS gegenüber der eigenen, eher wirtschaftsliberal gestimmten Wählerschaft aber nicht einigermaßen paradox? Jan Bures:

"Die Linie der ODS, die der europäischen Integration sehr skeptisch gegenüber steht, ist in gewisser Weise vielleicht noch ein Überbleibsel der Politik von Václav Klaus. Der behält diese Linie auch als Präsident bei, und die ODS identifiziert sich damit. Aber meiner Meinung nach ist das nicht der einzige Grund. Die ODS als solche durchlebt gerade einen ideologischen Wandel, und zwar von einer mehr oder weniger liberalen hin zu einer konservativen - und auf dem Gebiet der Außenpolitik sogar sehr konservativen Partei."

Ob die Wähler der Partei in diesem Wandel folgen, das bleibt abzuwarten. Aber offenbar setzt die ODS auf eine gewisse Übersättigung durch EU-Themen und spielt nun die nationale Karte. Denn ein Argument bleibt ihr gegenüber den Wählern mit Sicherheit, ohne das Gesicht zu verlieren. Nämlich: Wir sind nicht gegen eine EU-Mitgliedschaft Tschechiens, sondern gegen eine weitere Vertiefung der europäischen Integration und gegen eine Ausweitung supranationaler Strukturen.

Was die EU-Verfassung betrifft, so sagt die ODS zum Beispiel, dass diese die kleinen Mitgliedstaaten benachteiligt. Die Befürworter der Verfassung sagen genau das Gegenteil. Wer hat nun eigentlich Recht? Jan Bures:

"Die Verfassung wird für die kleinen Staaten vorteilhaft sein, wenn diese fähig sind, miteinander zu kooperieren. Denn hinsichtlich der Abstimmungsmechanismen, der nötigen Mehrheiten etc. können die kleinen Staaten gemeinsam tatsächlich großen Einfluss haben. Aber so einfach wird das wohl in der Praxis nicht werden. Denn die großen Staaten in der EU wissen das natürlich auch, und werden versuchen, immer einige der kleineren Länder auf ihre Seite zu ziehen. Letztendlich ist es also wohl so, dass beide Recht haben. Ob die Verfassung nun für kleinere Länder vorteilhaft ist oder nicht, das wird wirklich davon abhängen, inwieweit die Repräsentanten der kleinen Staaten fähig sind, gemeinsame Strategien zu entwickeln."


Premierminister Stanislav Gross
"Die ODS", sagte Premierminister Stanislav Gross kürzlich gegenüber Radio Prag, "führt die Tschechische Republik in die Isolation. Sie behauptet zum Beispiel, dass die Verfassung für kleine Länder unvorteilhaft ist. Ich kann mir nicht erklären, warum dann andere kleine EU-Staaten die Verfassung sehr wohl unterstützen."

Wir haben den Vergleich gezogen, konkret mit Ungarn. Ungarn ist, genauso wie Tschechien, ein postkommunistisches Land in Ostmitteleuropa und mit etwa 10 Millionen Einwohnern auch fast genauso groß. Dennoch hat Ungarn nicht nur bei der Abstimmung im Europaparlament die Verfassung klar unterstützt, sondern diese sogar im eigenen Parlament bereits mit überwältigender Mehrheit ratifiziert. Während in Prag also noch diskutiert wird, ob und wann es in dieser Frage ein Referendum geben wird, ist in Budapest bereits alles entschieden. Wir haben Csaba Bánky von Radio Budapest International gebeten, die ungarische Haltung ein wenig näher zu beschreiben:

"Für die ungarischen Parteien gab es hier vor allem zwei Fragen: Die erste war eigentlich für alle wichtig, nämlich die Verankerung der Minderheitenrechte in der Verfassung. Und zwar deshalb, weil ja viele Ungarn außerhalb der Landesgrenzen, in den Nachbarstaaten, leben. Diese Verankerung ist, wenn auch nicht in der Form, wie es viele wollten, erfolgt. Die andere Streitfrage, die im Zusammenhang mit der Verfassung in Ungarn auftauchte, war die Verankerung der christlichen Werte."

Die bürgerlichen Parteien in Budapest hielten zunächst an jenem christlichen Bezug fest. Als der sich im Europäischen Rat aber als nicht durchsetzbar erwies, gaben die Konservativen auch in der heimischen Debatte nach. Von da an gab es kaum noch Ungereimtheiten. Diskussionen über den Verlust von Souveränität, wie sie in Tschechien lautstark geführt werden, blieben in Ungarn weitgehend aus. Ein Anzeichen für generell größere Konsensfreudigkeit sei das aber keinesfalls, sagt Bánky:

Foto: Europäische Kommission
"Eigentlich ist die EU das einzige Thema, wo bei uns Frieden zwischen Opposition und Regierung herrscht. Hier im ungarischen Parlament beschimpfen sich die Abgeordneten eigentlich nur. Aber jene, die nach Brüssel übersiedelten, die können dort doch zusammenarbeiten."

Warum unterscheiden sich die Ungarn aber genau in diesem Punkt so stark von den Tschechen? Wie ist es möglich, dass die europäische Integration in Prag regelmäßig für aufgeregte Debatten sorgt, während sie in Budapest fast ebenso wenig Diskussionsstoff liefert wie das Wetter? Csaba Bánky:

"Ich glaube, der kleine Unterschied besteht darin, dass die Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit doch etwas mehr demokratische Erfahrungen gemacht hat als Ungarn. Bei uns ist dieser Wunsch, zu Europa zu gehören, vielleicht deshalb stärker, weil wir von diesem Ziel schon einmal ein bisschen weiter entfernt waren. Daher nehme ich an, dass sich die Tschechen schon eher erlauben können, miteinander zu streiten."

Gewiss: Ein offener Diskussionsprozess über die Richtung, die Europa einschlagen soll, hat nicht zuletzt für das Vertrauen, das den europäischen Institutionen künftig entgegengebracht wird, große Bedeutung. Die Ratifizierung der europäischen Verfassung könnte in Tschechien aber zu einem Wahlkampfschlager im Vorfeld der Parlamentswahl 2006 werden. Und die Erfahrung sagt uns, dass "offener Diskussionsprozess" und "Wahlkampf" nicht unbedingt dasselbe sind.