Christian Bourgin: EU-Verfassung hat Ängste kristallisiert
Nachdem die Franzosen und die Niederländer die EU-Verfassung abgelehnt haben, herrscht auch in Tschechien Ungewissheit über den weiteren Weg der Europäischen Integration. Über die aktuelle Entwicklung in der EU und über die Europa-Stimmung der Tschechen ein Jahr nach dem Beitritt hat sich Gerald Schubert mit Christian Bourgin unterhalten, dem Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Prag:
Herr Bourgin, in letzter Zeit war wieder einmal viel von der Europäischen Union die Rede. Die Franzosen, und drei Tage später auch die Niederländer, haben sich in Referenden gegen den Verfassungsvertrag ausgesprochen. Was ändert sich jetzt für Sie konkret?
Bourgin: "Wir dürfen natürlich die Referenden in Frankreich und den Niederlanden nicht ignorieren. Aber für die tägliche Aktivität unseres Büros ändert sich zurzeit nicht viel. Unsere Verantwortlichkeit ist es, die EU und die EU-Politik so gut wie möglich zu erklären und den Bürgern näher zu bringen. Dieses Ziel hat sich nicht geändert."
Geändert hat sich aber vielleicht die Haltung der Tschechen. Es gibt eine neue Umfrage, die kurz nach dem Referendum in den Niederlanden erschienen ist. Soweit ich weiß, hat sich darin das erste Mal eine kleine Mehrheit der Tschechen gegen die Verfassung ausgesprochen, nämlich knapp mehr als ein Drittel. Ungefähr ein weiteres Drittel war dafür, und ein Drittel antwortete mit 'Weiß nicht'.
Bourgin: "Alle Umfragen sind provisorisch. Vor einigen Wochen hat man festgestellt, dass die Mehrheit der Tschechen für die EU-Verfassung war. Damals konnten wir auch nicht sagen, dass das endgültig ist. Das größte Drittel ist das der Unentschlossenen. Die jetzige Periode würde ich eigentlich als Periode der Unsicherheit bezeichnen. Mehr als alles andere."
Mir fällt auf: Wenn man den Diskurs in Frankreich und den in der Tschechischen Republik vergleicht, dann ist ein gewisser Unterschied in den europakritischen Argumenten zu erkennen, insbesondere in den Argumenten gegen die Verfassung.
Bourgin: "Es ist richtig, dass die beiden Völker ganz andere Vorstellungen haben. Bei der Abstimmung in Frankreich hat das soziale Problem eine ganz wesentliche Rolle gespielt. Die Franzosen haben einfach Angst, dass die Erweiterung, die ja schon stattgefunden hat, für sie mehr Nachteile als Vorteile bringt. Das wurde auch in den Medien groß gespielt. Natürlich haben auch einige Politiker diese Angst vor dem Wettbewerb benutzt - die Angst vor Leuten, die niedrigere Löhne haben, eventuell auch bessere Leistungen bringen und deshalb den Franzosen Arbeitsplätze wegnehmen könnten. Das wurde sehr stark übertrieben, und vielleicht hat man zugleich auch nicht genug auf die Vorteile der Osterweiterung hingewiesen. In Tschechien ist es ganz anders: Die Tschechen haben vielleicht auch ein bisschen Angst, aber nicht wegen der Löhne oder der Sozialleistungen. Sie fürchten mehr, dass Firmen, die aus Deutschland, Frankreich oder anderswoher kommen, zu viel Einfluss bekommen, oder auch dass größere Länder mehr Einfluss haben könnten als die eigenen Behörden. All diese Ängste sind natürlich da. Und die Verfassung hat, wenigstens in Frankreich, diese Ängste kristallisiert."
Kommen wir weg von der Verfassung. Tschechien ist jetzt etwas mehr als ein Jahr lang Mitglied der Europäischen Union. Welchen Eindruck haben Sie denn ganz allgemein? Wie hat sich die Stimmung der Tschechen gegenüber der EU in diesem ersten Jahr entwickelt?
Bourgin: "Der ganze Prozess der Vorbereitung hat so lange gedauert, dass Tschechien schon vor einigen Jahren 'dabei' war, ohne wirklich Mitglied zu sein. Das heißt, der 1. Mai 2004 war natürlich kein 'Big Bang', brachte also keine große Änderung, und die Leute empfinden es heute als fast normal, in der EU zu sein. Vielleicht sogar zu normal, denn ich glaube, sie erkennen noch nicht genug die Vorteile. Die Wirtschaft ist in Tschechien noch nie so blühend gewesen, die Exporte sind höher als je zuvor, und auch die Landwirte befinden sich in einer viel bequemeren Situation als früher. Natürlich ist nicht alles rosig. Es kann natürlich sein, dass einige Teile der Bevölkerung diese Vorteile nicht genießen. Aber im Allgemeinen ist die Mitgliedschaft für Tschechien unbestreitbar positiv."
Gerade haben die Schweizer in einem Referendum dem Beitritt zum Schengen-Raum zugestimmt. Die Frage, wann Tschechien im Schengen-Raum sein wird, ist ja auch hierzulande ein Thema. Können Sie da schon eine ungefähre Perspektive sehen?
Bourgin: "Schengen ist sicher auch für die Tschechen ein interessantes Thema, aber ich glaube, es ist für sie nicht dramatisch wichtig. Sie können schon jetzt in der ganzen EU frei reisen. Schengen würde nur bedeuten, dass man an der Grenze, speziell auf der Autobahn, den Pass nicht zeigen muss. Und die Tschechen wissen, dass das Schengener Abkommen etwa 2007 ohnehin auch hier gelten wird. Ganz ehrlich gesagt: Die meisten Leute sind an der Problematik der Preise interessiert, und an der Möglichkeit, in den anderen Mitgliedstaaten arbeiten zu dürfen. Das sind wahrscheinlich die beiden Hauptpunkte. Früher haben die Leute gefürchtet, dass die Preise in der EU steigen werden. Das ist nicht passiert. Und was die Arbeitsmöglichkeiten in den anderen Mitgliedstaaten betrifft: Hier gibt es die berühmte Problematik der Übergangsfristen. Zurzeit gibt es noch Quoten. Deutschland und Österreich waren die beiden Länder, die am stärksten an der Einführung dieser Fristen interessiert waren. Und die Tschechen erwarten, dass diese Frist so kurz wie möglich sein wird."
Sehen Sie da eine Bewegung?
Bourgin: "Ich sehe offiziell noch keine Bewegung in den zwei vorher erwähnten Ländern, aber in gewissen anderen Ländern schon. Natürlich ist das aber eine Entscheidung der einzelnen Mitgliedstaaten."