Widerstand gegen Hitlers Besetzung: 28. Oktober und 17. November 1939

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In Kürze wird überall in Tschechien der Samtenen Revolution gedacht. Auslöser für den Sturz des Kommunismus vor 25 Jahren waren die Studentendemonstrationen am 17. November 1989. Ein halbes Jahrhundert vorher jedoch gingen schon einmal Studenten auf die Straße, um gegen ein Unrechtsregime zu protestieren: gegen die Nazi-Herrschaft im Protektorat. Die Reaktion des Regimes war äußerst brutal. Diese Ereignisse fanden zwischen dem 28. Oktober und 17. November 1939 statt.

Mitte März 1939 hatten die Nazis die verbliebenen Teile der Tschechoslowakei besetzt  (Foto: Free Domain)
Mitte März 1939 hatten die Nazis die verbliebenen Teile der Tschechoslowakei besetzt und das so genannte „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ errichtet. Zwar wurde eine tschechische Regierung belassen, aber es war eine Marionettenregierung von Hitlers Gnaden, der ein Reichsprotektor vor die Nase gesetzt worden war.

Der Widerstand im Protektorat formierte sich zunächst langsam, mit Flugblattaktionen. Im Herbst 1939 kommt es aber schon zum Boykott der öffentlichen Straßenbahnen in mehreren Städten. Dann rückte der 28. Oktober des Jahres näher. An diesem Tag war im Jahr 1918 die Tschechoslowakei gegründet worden. Der Tag war seitdem Staatsfeiertag gewesen. Die Nazis schafften den Feiertag ab und befahlen den Leuten, normal zur Arbeit zu gehen. Doch Widerstandsgruppen bereiteten Proteste vor, wie der Historiker Petr Koura sagt:

Petr Koura  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Sie gaben mehrere Flugblätter heraus. Sie riefen die Leute auf, diesen verbotenen Jahrestag zu feiern, allerdings in Ruhe zu feiern. Die Leute sollten sich festlich anziehen mit Zeichen der Trauer wie beispielsweise schwarzen Krawatten und damit demonstrieren, dass der Staat nicht mehr existiert.“

Dass es am 28. Oktober 1939 zu Widerstandsaktionen kommen könnte, damit rechnen aber auch die deutschen Besatzungskräfte, wie Historiker Lukáš Vlček ergänzt:

„Sie haben vorher die Protektoratsregierung und andere Institutionen aufgefordert, auf die Bevölkerung einzuwirken, damit es nicht zu Demonstrationen kommt. Die Protektoratsregierung hat entsprechende Aufrufe verfasst und die Okkupationsmacht hat sogar mit Todesstrafen gedroht.“

Mehrfach spricht beispielsweise der Vorsitzende des neu gegründeten Gewerkschaftsverbandes NOÚZ, Zelenka, im Radio. Er mahnt, am 28. Oktober zur Arbeit zu gehen und warnt:

„Taten anderer Art verschärfen unnütz die Lage, provozieren und können zu beträchtlichem Schaden für den Einzelnen wie für das Volk führen“, so Zelenka am 26. Oktober.

Demonstration am 28. Oktober 1939 in Prag  (Foto: ČT24)
Trotz aller Warnungen und Drohungen kommen zwei Tage später viele Menschen auf dem Wenzelsplatz in Prag zusammen. Und es sind mehr, als die Organisatoren im Widerstand und die Besatzer erwartet haben. Manche Historiker schätzen bis zu 100.000 Menschen, Petr Koura geht eher von 60.000 bis 80.000 aus:

„Häufig wird das Rosenkranzfest in Österreich vom Oktober 1938 als größte öffentliche Massenkundgebung gegen das Dritte Reich gesehen. An ihm nahmen etwa 8000 junge Leute teil. Ich glaube, die größte Demonstration fand am 28. Oktober 1939 in Prag statt.“

Die Demonstration verläuft zunächst ruhig, wie Petr Koura beschreibt:

„Es wird die Nationalhymne gesungen, es werden Volkslieder angestimmt. Es werden Sprüche gerufen wie ´Hoch lebe Beneš´ oder sogar ´Es lebe Stalin´, aber auch ´Weg mit Hitler´ oder Ähnliches.“

Medizinstudent Jan Opletal
Der Leiter der SS und Polizeichef im Protektorat, Karl Hermann Frank, aber fährt zu Präsident Emil Hácha und ordnet an, die tschechische Polizei eingreifen zu lassen. Sie räumt den Wenzelsplatz. In den Straßen rund um den zentralen Platz in Prag aber greifen Gestapo, SS und Schutzpolizei durch. Am Karlsplatz feuern die Nazi-Sicherheitskräfte mit scharfen Geschossen in die Menge. Ein Mann stirbt vor Ort, es gibt Schwerverletzte, unter ihnen auch der Medizinstudent Jan Opletal, der danach um sein Leben ringt. Opletal ist es auch, dessen Schicksal die weitere Entwicklung beeinflusst, erläutert der Historiker Lukáš Vlček vom tschechischen „Institut für das Studium totalitärer Regime“:

„Man muss sich vorstellen, dass nach diesem für den Widerstand erfolgreichen 28. Oktober die Stimmung sehr aufgeheizt war. Den Leuten war bewusst, dass es irgendwann zu einem nächsten Zusammenstoß kommt. Alle waren bereit, auf die Straße zu gehen und ihren Unwillen kundzutun. Eigentlich kam es zu keinen größeren Zusammenstößen nach dem 28. Oktober, aber alle haben den Kampf des Studenten Opletal um sein Leben verfolgt. Und als er dann am 11. November starb, wollten die Studenten einen Trauermarsch machen.“

Der Trauermarsch wird von den Protektoratsbehörden auch tatsächlich genehmigt. Er findet am 15. November 1939 in Prag statt und an ihm nehmen auch Professoren und Personen aus dem öffentlichen Leben teil. Unter den Studenten ist Jiří Kosta, der im Sommer begonnen hatte Wirtschaftswissenschaften zu studieren:

„Wir waren auf der Straße, wir hatten eine bestimmte Route einzuhalten. Das ist dann aber auseinander geraten und da haben sich viele Prager Mitbürger angeschlossen“, erinnert sich Kosta.

Und als Historiker ergänzt Lukáš Vlček:

Begräbnis von Jan Opletal  (Foto: Archiv der Karlsuniversität in Prag)
„Die eigentliche Trauerfeier verlief ruhig, etwa 4000 Menschen kamen zum Begräbnis. Erst nach dem offiziellen Teil kam es dazu, dass Studentengruppen in Richtung Zentrum gegangen sind, sich vor den Hochschulen gruppiert haben und dort kam es zu den Zusammenstößen mit den nazistischen Sicherheitskräften.“

Nach den Zusammenstößen fahren die deutschen Besatzer Protektorats nach Berlin zu Beratungen mit Hitler. Die Nazi-Spitzen setzen danach die so genannte „Sonderaktion 17. November Prag“ in Gang: Insgesamt sieben Studentenwohnheime in Prag und Brno / Brünn werden besetzt, alle Hochschulen werden geschlossen und es wird wahllos verhaftet. 1200 Studenten werden ins KZ Sachsenhausen verschleppt, neun Studenten werden hingerichtet.

Jiří Kosta hatte zu dem Zeitpunkt noch einmal Glück. Weil er bei seiner Familie und nicht in einem Studentenwohnheim lebte, wurde er nicht verhaftet. Da aber er und seine Familie jüdisch waren, ging es darum, sich nun über Wasser zu halten:

„Hilfsarbeiten habe ich dann eine Zeit lang machen müssen, meine Mutter hat zu Hause Puderquasten genäht und verkauft. Aber man hatte immer irgendwo Ersparnisse und man hat natürlich auch verschiedene Wertgegenstände beiseite geschafft“, erzählt Kosta.

Zwei Jahre später wird Jiří Kosta in das KZ Theresienstadt verschleppt. Er überlebt mit viel Glück die Vernichtungsmaschinerie der Nazis, studiert nach dem Weltkrieg zu Ende, emigriert 1968 in die Bundesrepublik, wo er eine Hochschulprofessur annimmt.


Nach den Verhaftungen und Erschießungen wendet sich am 18. November Staatspräsident Emil Hácha in einer Rundfunkansprache an die Bürger des Protektorats:

„Ich und die Regierung rufen Sie eindringlichst dazu auf, dass Sie jegliche Störung der Ruhe und der Ordnung vermeiden und immer daran denken, dass jegliches Tun gegen die öffentliche Macht und die Ordnung, die im Protektorat eingeführt worden ist, umgehend unvorhersehbaren Schaden für den Einzelnen und die Volksgemeinschaft bedeuten.“

Solcher Worte jedoch bedurfte es wohl zu dem Zeitpunkt nicht mehr. Historiker Vlček erläutert:

„Die Bevölkerung im Protektorat und auch die Regierung waren ziemlich überrascht von der Härte, mit der die Nazis vorgegangen sind. Und der Sicherheitsdienst der NSDAP hat in den Tagesmeldungen nach Berlin berichtet, dass es eine erfolgreiche exemplarische Aktion war, dass alle schockiert sind von der Brutalität und dass es jetzt ruhig ist.“

In den ersten Monaten nach der Besetzung des Landes waren die Nazis bemüht gewesen waren, Normalität vorzugaukeln. Auf den Anlass brutal durchzugreifen hatten sie indes gewartet. Ein Ziel war, die tschechischen geistigen Eliten zu vernichten. Parallelen gibt es dabei zu Polen, wie Petr Koura sagt:

„Es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit - im November 1939 – auch in Polen die Verfolgung der Intellektuellen beginnt. Dort wird aber von oben vorgegangen. Es werden Professoren von der Uni Krakau verhaftet, die dann wie die tschechischen Studenten ins KZ Sachsenhausen verschleppt werden. Bei uns begann die Verfolgung von unten, denn die Studenten galten als Gefahr im Protektorat, als radikale junge Leute.“


November 1989  (Foto: ČT24)
Welche Bedeutung haben die Ereignisse im Herbst 1939 für die tschechische Geschichte? Historiker Koura hält den 17. November des Jahres auch daher für einen wichtigen Gedenktag, obwohl seine Bedeutung mittlerweile durch den Jahrestag des Beginns der Samtenen Revolution überdeckt wird:

„Es ist ein wichtiges Datum auch deshalb, weil der 17. November zum internationalen Studententag erklärt wurde, mit dem Verweis auf die Verfolgung der tschechischen Studenten. Und am 50. Jahrestag des Datums begannen in Prag die Studentendemonstrationen.“

Anders als 50 Jahre zuvor hatten die Studentendemonstrationen aber Erfolg und läuteten die Samtene Revolution und den demokratischen Wandel ein.

Der 28. Oktober aber ist nicht weniger wichtig, glaubt Petr Koura. Die meisten Tschechen denken jedoch bisher vor allem an die Staatsgründung im Jahr 1918 - zu Unrecht, so Koura:

„Der 28. Oktober 1939 wird meiner Meinung nach etwas unterschätzt in seiner Bedeutung. Es wird häufig vergessen, dass es an diesem Datum zu Massendemonstrationen kam. Die Demonstrationen waren meiner Meinung nach der Ausdruck fester Überzeugung und des Mutes. Ich sage, wir können daher nicht nur den 28. Oktober 1918, sondern vor allem den 28. Oktober 1939 feiern, wo es zu den Ereignissen kam, auf die wir stolz sein können und die auch häufig aus europäischer Sicht vergessen werden.“


Dieser Beitrag wurde am 24. Oktober 2009 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.

Autor: Till Janzer
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