"Wir müssen nur den Mut haben, die Wahrheit zu sagen." Die Auseinandersetzung der Tschechen mit dem Roma-Holocaust
Während das frühere Konzentrationslager Terezin/Theresienstadt, Symbol vor allem für den Holocaust an den Juden, heute in Tschechien"nationale Gedenkstätte" und obligatorische Station für Politiker aus dem In- und Ausland ist, erinnert in den beiden früheren Roma-Konzentrationslagern nichts an ein Gedenken. Ganz im Gegenteil: Auf dem Areal des früheren KZ im mährischen Hodonin befindet sich ein Erholungszentrum, in Lety, Südböhmen, sogar eine Schweinefarm. Warum eigentlich tun sich die Tschechen so schwer mit dem Gedenken an die Roma, die dem Holocaust zum Opfer gefallen sind? Dieser Frage ist Silja Schultheis in einer neuen Ausgabe der Sendereihe "Forum Gesellschaft" nachgegangen.
Auf dem Lagergelände selbst befindet sich eine Schweinefarm mit 14.000 Tieren. Damit der Gestank nicht zum Friedhof herüberzieht, haben die Betreiber die Belüftung ausgeschaltet. Dennoch sei dies ein unwürdiger Ort für die Opfer des Holocaust, sagt Cenek Ruzicka, der seinen Großvater und seinen Bruder im KZ Lety verloren hat und heute Vorsitzender des Komitees zur Entschädigung des Roma-Holocausts ist:
"Schon seit zehn Jahren gibt es diesen unglaublichen Streit darüber, ob der Opfer des Rassenhasses würdig gedacht werden kann. Doch allen Bemühungen zum Trotz ist die Farm immer noch in Betrieb. Das zeigt, wie kompliziert das Verhältnis zwischen Tschechen und Roma bis heute ist."Dass die tschechische Regierung bislang nichts unternommen hat, liegt auch an den Kosten, die ein Abriss der Farm verursachen würde: nach Schätzungen zwischen 17 und 27 Millionen Euro. Doch egal wie hoch die Summe auch wäre, der Kern des Problems liegt woanders, meint Petr Pithart, Vizepräsident der oberen Parlamentskammer Tschechiens:
"Die öffentliche Meinung bringt nicht entschieden genug zum Ausdruck, dass die Schweinefarm sie stört. Wenn das die Öffentlichkeit wirklich stören würde, dann würde jede Regierung schnell und gerne die nötigen Gelder aufbringen. Wir müssen endlich die Opfer des Roma-Holocausts als unsere eigenen Toten begreifen."
Über 1300 Roma waren seit August 1942 in Lety interniert. Diejenigen, die überlebten, wurden 1943 zum großen Teil in Vernichtungslager deportiert. Nur knapp 10 Prozent der insgesamt 6500 Roma aus dem Protektorat Böhmen und Mähren haben den Holocaust überlebt. Traurige Fakten, die der tschechischen Gesellschaft bis 1989 komplett unbekannt waren. Selbst für aufgeklärte Dissidentenkreise war der Holocaust an den Roma während des Kommunismus ein weißer Fleck. Petr Uhl, Mitbegründer der Bürgerrechtsbewegung Charta 77:
"Wir haben das erst nach November 1989 gelernt überhaupt. Wir haben in der Schule ein wenig über den Holocaust an den Juden gelernt. Sehr wenig, aber immerhin. Aber über den Genozid an den Roma haben wir kein Wort verloren in der Schule."
Und selbst Ende der 1990er Jahre noch wurde das Thema Roma-Holocaust hierzulande lieber verschwiegen, schildert Petr Uhl seine Erfahrungen als Menschenrechtsbeauftragter der tschechischen Regierung in den Jahren 1998-2001. Sein Bemühen um eine Beseitigung der Schweinefarm in Lety sei damals bei der Regierung auf taube Ohren gestoßen, so Uhl:
"Es gab damals wenig Geld. Aber hauptsächlich war es eine Tendenz, darüber nicht zu sprechen, sondern zu schweigen, weil das unsere Schuld war."
Kein leichtes Gedenken: Während für den Holocaust an der jüdischen Bevölkerung im Protektorat Böhmen und Mähren die Nazis verantwortlich waren, lässt sich im Falle des Genozids an den Roma die Mitschuld der Tschechen nicht von der Hand weisen. So habe die tschechoslowakische Nationalversammlung bereits 1927, also lange vor der nationalsozialistischen Okkupation, ein Gesetz erlassen, das den Roma das Vagabundieren verbot, erinnert Uhl. Damit war die Tschechoslowakei der erste Staat in Europa, dessen Regierung eine systematische Diskriminierung der Roma einleitete. Und während des Krieges seien tschechische Aufseher im Lager Lety für den Tod der internierten Roma mitverantwortlich gewesen. Genau in dieser Mitschuld liegt für Petr Uhl der Kern des Problems:
"Bei uns hat man bis heute nicht die Wahrheit über die Kollaboration mit dem Nazi-System gemacht. Und deshalb brauchen wir keine juristischen Schritte. Wir müssen nur den Mut haben, die Wahrheit zu sagen."
Obwohl inzwischen bekannt ist, dass das Lager Lety für die allermeisten dort inhaftierten Roma entweder den Tod oder die Deportation ins Vernichtungslager bedeutete, hält es der heutige tschechische Präsident Vaclav Klaus dennoch nicht für nötig, dass in Lety eine Gedenkstätte entsteht. Denn Lety, so sagte Klaus kürzlich in einem Interview, sei gar kein KZ im "eigentlichen Sinne" gewesen. Klaus reagierte damit auf eine Resolution der Europäischen Union von Ende April. Darin hatte die EU die tschechische Regierung zur Beseitigung der Schweinefarm aufgefordert. Für Klaus eine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten. Ganz anders sieht das Milan Horacek. Der gebürtige Tscheche vertritt die deutschen Grünen im Europaparlament. Und genau dort hat er in einer Ausstellung über die Geschichte des KZ Lety informiert. Den Protest der EU hält Horacek für dringend geboten:"Einmischung in innere Angelegenheiten ist unbedingt erwünscht, wenn es um Menschenrechte geht. Und wenn das heute als Politisierung betrachtet wird, dann mag das stimmen. Aber wie anders soll man das problematisieren?"
Auch nach Meinung von Katerina Jacques aus dem Büro des Menschenrechtsbeauftragten der tschechischen Regierung sind jetzt die Politiker gefragt. Denn für Jacques steht fest:
"dass die Gesellschaft eigentlich roma-feindlicher ist als die Regierung. Da würde ich sagen, ist die Regierung tatsächlich das Vorbild und kann sich nicht auf den Druck der Gesellschaft berufen. Das ist für mich klare Sache, dass wir da gegen die öffentliche Meinung laufen werden und das ist auch richtig so."
Noch scheint die tschechische Gesellschaft dem Holocaust an den Roma überwiegend gleichgültig gegenüber zu stehen. Doch es gibt auch Signale für eine Verbesserung, meint der Publizist Markus Pape, der sich seit Jahren für die Belange der Roma einsetzt:
"Wir sehen Anzeichen, dass sich in der Öffentlichkeit mehr Verständnis bildet für dieses Problem - und für das Vorhaben, dieses Problem zu lösen. Es gibt Meinungsumfragen, und jetzt haben schon 40 Prozent der Bevölkerung gesagt, dass sie einverstanden wären, wenn die Schweinefarm verlegt wird, um hier eine würdige Gedenkstätte zu errichten. Und das ist schon ein großer Fortschritt."
Und vielleicht geben ja auch die jüngsten Entwicklungen auf politischer Ebene Anlass für vorsichtigen Optimismus: Das tschechische Kabinett gab am Mittwoch bekannt, es wolle mit dem Besitzer der Schweinefarm verhandeln und gemeinsam mit dem Menschenrechtsbeauftragten der Regierung und Roma-Organisationen nach einer geeigneten Lösung suchen.