„Wolfskinder“ im Zentrum Prags
Zwei Jungen im Alter von anderthalb und drei Jahren wurden im Frühling dieses Jahres zufällig in einer Wohnung in Prag-Vinohrady entdeckt. Sie sind zu Hause zur Welt gekommen und hatten bis dato die Wohnung nie verlassen. In dieser Woche begann am Stadtgericht Prag der Prozess gegen die Eltern, die ihre Kinder durch einen alternativen Lebensstil vor der ihrer Meinung nach verdorbenen Welt schützen wollten. Dafür drohen den Eltern nun bis zu zwölf Jahre Freiheitsentzug.
„Die Eltern sollen der Anklage zufolge eine Straftat begangen haben, indem sie die Existenz ihrer Kinder nach der Hausgeburt vor den Behörden verborgen haben. Die minderjährigen Kinder wurden weder den Behörden noch den Ärzten gemeldet. Die Eltern haben ihnen die notwendige Versorgung nicht gewährleistet, keine hygienische Pflege, schlechte Ernährung, keine Spielzeuge und sie sind mit ihnen nicht raus gegangen. Sie sollen die Gesundheit ihrer Kinder durch ein spezifisches Vernachlässigungssyndrom geschädigt haben.“
Eigentlich wollten die alternativ lebenden Eltern keine Kinder haben, da die Welt ihnen zufolge schlecht sei. Nachdem aber die Verhütung nach einer chinesischen alternativen Medizin versagt hatte, wurde der erste Junge geboren. Damit er nicht allein leben musste, haben sich die Eltern noch für ein zweites Kind entschieden. Die Kinder trugen keine Kleidung und keine Schuhe. Doch die Eltern hätten beiden Jungen – ihrer eigenen Aussage zufolge – die beste Bionahrung gekauft und mit ihnen gespielt. Es seien frohe, kluge Kinder gewesen, denen es an nichts gefehlt habe – außer Papiere, wie die Mutter vor Gericht erklärte.Die Kinder waren zwar gut ernähert, haben aber psychische Auffälligkeiten gezeigt. Der ältere Sohn hat einmal die Wohnung verlassen, der jüngere überhaupt nie. Sie haben nur zu Hause und auf dem Balkon ihre Tage verbracht und konnten, als sie entdeckt wurden, weder sprechen noch kauen. Könnten diese frühen Kindheitserlebnisse lebenslange Folgen für sie haben? Dazu die Kinderpsychologin Václava Masáková gegenüber dem Tschechischen Fernsehen:
„Einiges kann durch ein neues und liebevolles Milieu ausgeglichen werden. Dies betrifft vor allem die gewissermaßen verspätete Entwicklung. Was sich aber nicht wiedergutmachen lässt, ist das fehlende Vertrauen in die Umwelt und die verkümmerte emotionale Entwicklung. Dabei ist das erste Lebensjahr am wichtigsten. Fast so wichtig ist die Zeit bis zum dritten Lebensjahr, in der das Kind lernt, wie es sich in der Welt zu verhalten hat, und sich eine sichere Bindung an die Welt durch die Eltern und ihre Liebe schafft. Wenn es in diesem Fall Elternliebe gegeben hat, dann nicht in einer Form, wie wir sie uns vorstellen würden.“
Ob Elternliebe in diesem Fall existiert, ist aber fraglich. Die Eltern haben noch eine dreizehnjährige Tochter, die seit ihrem fünften Lebensjahr bei den Großeltern lebt und ihre Mutter seit acht Jahren nicht mehr gesehen hat. Nicht einmal die Großeltern haben bis zur Entdeckung im Mai von der Existenz ihrer weiteren Enkelkinder gewusst. Kann man in diesem Fall vom Versagen des Staates, der Behörden sprechen? Václava Masáková:„Die Behörden haben in diesem Fall nicht versagt, weil sie nichts davon gewusst haben. Vielleicht hat aber die Gesellschaft versagt. Denn das Weinen eines Kindes ist doch zu hören. Ein aufmerksamer Nachbar kann doch merken, dass irgendwo ein Kind weint, obwohl man das Kind die draußen gesehen hat. Das ist unter anderem eine Sache des sozialen Umfelds, das hätte man ahnen können, dass etwas Ungewöhnliches geschieht.“
Die Kinder wurden zunächst in ein Kinderzentrum eingeliefert und leben heute in der Familie ihres Onkels.