Wunderwelt in Jablonec – nicht nur zu Weihnachten
Das Museum für Glas- und Bijouterie in Jablonec nad Nisou / Gablonz an der Neiße rühmt sich, die weltweit größte öffentliche Sammlung von gläsernem Weihnachtsschmuck zu besitzen. Die mehr als 15.000 Stück zählende Sammlung enthält alle Arten von Christbaumbehang, die auf dem Gebiet des heutigen Tschechien in Geschichte und Gegenwart hergestellt worden sind: geblasene Glaskugeln, Figuren aus Hohlperlen und Gegenstände aus kleinen Vollperlen. Die Sammlung ist in einem neuen Museumsflügel ausgestellt, der 2020 eröffnet wurde. Der preisgekrönte Glasanbau hat die Gestalt eines geschliffenen Kristalls. Nicht weniger außergewöhnlich ist die Installation der Ausstellung selbst: Sie ist einer Schifffahrt nachempfunden.
„Es kommt ein Schiff, geladen bis an sein‘ höchsten Bord.“ Als dieser bekannte Advent-Choral im 15. Jahrhundert entstand, machte man im alten Böhmen bereits Glasperlen. Zuerst waren es kleine, volle Perlen. Sie wurden mit der Hand gewickelt, gehackt oder gedrückt. Zu Rosenkränzen aufgefädelt, ließen sie sich in weiten Teilen Europas gut verkaufen. In der Neuzeit wurden die „korálky“, wie sie tschechisch heißen, auch von Großhändlern auf Schiffe verladen und als Schmuckware nach Übersee verschickt. Das voll beladene schwimmende Schiff, es weckt seit jeher Hoffnungen und regt zu Visionen an.
Die Technik des Glasblasens wurde in Böhmen ebenfalls schon früh ausgeübt. Mundgeblasene Kugeln und andere größere Gegenstände als Schmuck für Weihnachtsbäume seien jedoch jüngeren Ursprungs, als man denken möchte, sagt Petr Nový. Er ist leitender Kurator des Museums für Glas- und Bijouterie Jablonec nad Nisou:
„Die älteste Erwähnung der Herstellung gläserner Christbaumkugeln stammt aus der Glashütte Antonínov (deutsch Antoniwald, Anm. d. Red.) im Isergebirge und bezieht sich auf das Jahr 1840. Zu jener Zeit prosperierte in Nordböhmen allerdings die Bijouterie aus Glas, daher wurde der Weihnachtsschmuck hier nicht weiterverfolgt.“
Baumschmuck aus mundgeblasenen Hohlperlen
Als Gewerbezweig lohnte sich der Christbaumschmuck erst, als die geschmückte Tanne in der guten Stube zu einem festen Bestandteil des Weihnachtsfests wurde. Dieser Brauch verbreitete sich in vielen europäischen Ländern sowie in Nordamerika ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch die Glasmacher aus der Gegend des Isergebirges besannen sich in jener Zeit erneut auf den Weihnachtsschmuck – und kreierten eine eigene Variante. Sie sei im Handel unter dem Namen „Gablonzer Glasperlen-Christbaumschmuck“ gängig gewesen, so Petr Nový:
„Für den sogenannten ‚Gablonzer Glasperlen-Christbaumschmuck‘ werden innen versilberte oder gefärbte Hohlperlen so auf Draht gereiht, dass sie Figuren bilden. Die Perlen werden zuvor aus kleinen Glasröhrchen geblasen. Dieser Typ von Christbaumschmuck war vorwiegend für den Export nach Deutschland und in die USA bestimmt. Der Hintergrund war, dass die hiesige Glaswirtschaft auf dem für sie wichtigen indischen Markt Schwierigkeiten bekam. Günstigere japanische Perlen verdrängten die einheimischen geblasenen Glasperlen allmählich. Da kamen die Händler durch ihre Lager voller unverkäuflicher Ware auf die Idee, eine neue Warenart auszuprobieren, die im Trend lag. Das war eben der Christbaumschmuck. Sie ließen sich darauf ein – und eine neue Geschäftssparte war geboren.“
Die dünnwandigen, leichten Hohlperlen aus Glas waren schon seit dem 18. Jahrhundert für Modeschmuck erzeugt worden. Zunächst blies man sie über einem Brenner mit der freien Hand, später nahm man Holz- oder Metallformen zu Hilfe. Die Hohlperlen wurden innen versilbert, und zwar mit Fischsilber, Wachs oder auf dieselbe Art wie Spiegel. Die färbende Lösung musste mit dem Mund eingeblasen werden. Diese gesundheitsschädliche Arbeit verrichteten häufig Kinder oder alte Leute. Eine Folge davon waren die sogenannten „blauen Leute“. Manch einer mag da ein Schiff herbeigesehnt haben, das kommt, um ihn über den großen Teich in eine bessere Welt zu bringen…
Geblasene Glaskugeln und ähnliche große Formen des Christbaumbehangs blieben bis in die Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik eine Randerscheinung. In dieser Sparte waren die Glasmacher des Thüringer Waldes weltweit führend. Besonders das thüringische Städtchen Lauscha hatte sich als Standort für diese Art von Christbaumschmuck einen Namen gemacht. Ausgerechnet die Weltwirtschaftskrise bewirkte dann, dass Know-how von dort ins Riesengebirgsvorland verpflanzt wurde. Denn die weltweite Rezession setzte dem wenig krisenfesten Modeschmuckgewerbe dort hart zu. Hunderte Arbeiter verloren ihre Lebensgrundlage. Petr Nový:
„Damals regten staatliche Stellen an, dass diese Arbeiter mit der Herstellung von Weihnachtsschmuck beschäftigt werden könnten. Das Glasmacherinstitut in Hradec Králové fand dazu einen ungewöhnlichen Weg. Man engagierte an der Glasmacherschule in Železný Brod einen erfahrenen Praktiker aus Lauscha. Er schulte die Arbeiter darin, klassischen Weihnachtsschmuck deutscher Prägung zu gestalten. Die Arbeiter nahmen die geschaffenen Formen mit nach Hause und erzeugten dann selbst ähnliche Gegenstände.“
Neuausrichtung mit Know-how aus Thüringen
Will heißen: farbige Kugeln mit und ohne Dekor, Baumspitzen und andere größere Gegenstände angefangen von weihnachtlichen Figuren über Früchte bis hin zu Tieren. Die Neuausrichtung erfolgte 1931. Wenige Jahre später wurde der Glas-Christbaumschmuck bereits aus der Tschechoslowakei exportiert, außer in europäische Länder besonders in die USA.
„Der Weihnachtsschmuck wanderte ähnlich wie Modeschmuck und Glas über die hanseatischen Häfen, vor allem über Hamburg in die USA. Erteilt wurden Großaufträge, die amerikanischen Abnehmer waren keine kleinen Player, sondern große Vertriebsgesellschaften und Kaufhausketten. Manche gaben Sorten von Weihnachtsschmuck in Auftrag, die für ihren Bedarf maßgeschneidert waren.“
Nach den tiefgreifenden Einschnitten infolge des Zweiten Weltkriegs ging es mit dem Weihnachtsschmuck aus Glas erst wieder ab den 1960er Jahren aufwärts. Er wurde in der Planwirtschaft weiterhin erzeugt, doch nun von Genossenschafts- und Staatsbetrieben, deren Standorte über die ganze Tschechoslowakei verteilt waren. Wichtigster Abnehmer der größeren geblasenen Formen des Christbaumbehangs blieb ungeachtet der politischen Neuordnung die westliche Welt, während der Gablonzer Glasperlen-Christbaumschmuck in Polen und anderen Comecon-Ländern beliebt war. In Spitzenjahren beschäftigte die Sparte des Weihnachtsschmucks mehr als 1000 Menschen hierzulande. Das Exportmonopol hatte von 1948 bis 1989 der Staatsbetrieb Jablonex. Nach der Wende zur pluralistischen Demokratie und Marktwirtschaft richtete sich Jablonex neu aus und beendete schließlich 2008 die unternehmerische Tätigkeit auf dem Gebiet der Glaswaren. Für das Museum für Glas und Bijouterie ergab sich damit eine einmalige Gelegenheit. Petr Nový:
„Meiner Kollegin Dáša Havlíčková ist es gelungen, die Musterkollektionen der Firma nach deren Schließung für unser Museum zu erwerben. Damit besaßen wir über Nacht plötzlich 15.000 Stück neuen Christbaumschmuck. Sie waren der Grundstock für unsere Ausstellung.“
Geschichte als Reise über den Ozean
Denn es stand von Beginn an fest, dass dieser Schatz nicht im Depot des Museums verschwinden sollte. Allerdings enthielten die Kollektionen von Jablonex nur Waren aus der Periode von 1960 bis 2008. Um sie in einer ständigen Ausstellung zu zeigen, musste eine tragfähige Formel her.
„Wir haben uns für ein narratives Konzept entschieden. Unser Narrativ lautet: Ein bedeutendes Zielgebiet des tschechischen Weihnachtsschmucks sind von Beginn an immer die USA gewesen, und sie werden es wohl auch weiterhin bleiben. Wir laden die Besucher daher zu einer Schifffahrt in das ‚Land der Wunder‘ ein. Diese fiktive Schifffahrt beginnt und endet in Manhattan. Und tatsächlich haben wir eine Installation in Gestalt eines Dampfschiffs geschaffen, es gibt in unserer Ausstellung Wellen, ja sogar einen Kapitän.“
Selbst Wolkenkratzer deuten die Konturen einiger Vitrinen an. Das Narrativ soll den Ausstellungsbesuchern einprägsam vor Augen führen, dass ein Großteil des einheimischen Glas-Weihnachtsschmucks immer in die Welt hinausging.
„Jede Vitrine steht in einem breiteren Kontext, zugleich erzählt sie aber jeweils eine eigene Geschichte. Ein Abschnitt der Ausstellung hat zum Beispiel Manhattan als übergeordnetes Thema. Und eine Vitrine dieses Teils enthält lauter Artikel, die für den nordamerikanischen Markt bestimmt gewesen sind, etwa ein Hamburger mit einem bekannten Firmenlogo. Ein anderes Thema ist die Arche Noah. Oder wir haben Meereswellen, sie werden durch eine bestimmte Anordnung von bunten Christbaumkugeln nachempfunden.“
Inselartige Gruppen von älteren Ausstellungsstücken ergänzen das Meer der zeitgenössischen Kollektionen von Jablonex. Auf diese Weise ist die gesamte Entwicklung des Weihnachtsschmucks auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens vertreten. Die jüngsten Trends werden ebenfalls vorgestellt:
„Einen Abschnitt der Ausstellung haben wir ‚Klippe‘ genannt. Denn niemand weiß, was die Zukunft bringen wird. In den Vitrinen dieses Teils zeigen wir den heutigen Weihnachtsschmuck, also die neuesten Kollektionen.“
Nach wie vor fließe in den gläsernen Weihnachtsschmuck viel Handarbeit ein, ergänzt Nový, auch wenn Grundformen wie Kugeln nun maschinell produziert werden könnten. Einige Firmen probieren cooles neues Design aus, andere setzen auf herkömmliche Techniken und Formen – und das trotz der beträchtlichen Konkurrenz durch vollautomatisch erzeugte Massenware aus Fernost. Selbst die kleinen vollen Perlen, die es schon im Mittelalter gab, haben es als Weihnachtsschmuck bis in die Gegenwart geschafft. Wachsender Beliebtheit würden sich Spaßartikel erfreuen, sagt Fachmann Petr Nový:
„Man findet jetzt sogar Teller mit Weihnachtsessen als Christbaumschmuck. Der Humor spielt im heutigen Sortiment eine größere Rolle als in der Vergangenheit. Und die Kunden sprechen auf diese Artikel sehr an.“
Der neue Museumsflügel – eine Apotheose
Ebenso neuartig wie die Installation lässt sich der museumspädagogische Ansatz der Dauerausstellung an. Der Weihnachtsschmuck entfaltet schon allein durch seine überwältigende Fülle eine starke visuelle Wirkung. Das Motto „World of Wonders“, abgekürzt „WoW“, suggeriert einen Ausruf des Erstaunens, der einem beim Eintreten in der Tat auf die Lippen kommt. Zusatzwissen über die ausgestellten Gegenstände wird in mehreren Stufen angeboten:
„Die Besucher können entweder nur in die Ausstellung hineingehen und genussvoll in dem schwelgen, was sie dort sehen. Wem das nicht genügt, der kann sich beim Eingang einen Ausstellungsplan nehmen, in dem der Aufbau beschrieben ist. So entsteht ein Überblick über die zeitliche Einordnung der Vitrinen und die Geschichten, die damit zusammenhängen. Wem auch das zu wenig ist, der kann mit dem Handy über einen QR-Code auf einen Audio-Guide zugreifen und sich diese Geschichten anhören. Und für Besucher, die es ganz genau wissen wollen, haben wir ein Buch über Christbaumschmuck, das sie vor Ort durchblättern oder im optimalen Fall mit nach Hause nehmen können.“
Den Audio-Guide gibt es in fünf Sprachen. Das erwähnte Buch trägt den Titel „Glas-Christbaumschmuck. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“. Es enthält einen Überblick der Entwicklung, Arten, Techniken und Akteure in der Sparte des Weihnachtsschmucks auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens. Die Fachpublikation ist dreisprachig, darunter deutsch, und reich bebildert. Zu sehen ist der Weihnachtsschmuck das ganze Jahr über in dem futuristisch anmutenden neuen Flügel des Museums für Glas und Bijouterie.
„Unser Museumsanbau wurde 2020 fertiggestellt. Entworfen hat ihn der Prager Architekt Michal Hlaváček. Der Auftrag lautete, dass der neue Flügel des Museums das verkörpern sollte, als was wir uns verstehen: ein Tempel des Glases und der Bijouterie. Der Einfall des Architekten, dem Anbau die Gestalt eines geschliffenen Kristalls zu verleihen, hat uns voll und ganz überzeugt. Aufgrund des Gesamtentwurfs und des Aussehens, aber auch der funktionalen Qualitäten wurden wir mit dem Titel ‚Bau der Tschechischen Republik 2020‘ ausgezeichnet.“
Und so ankert der Glas-Weihnachtsschmuck mit dem Ozeandampfer in einem würdigen Hafen, gleichsam startklar, um künftig wieder in See zu stechen.