„Zeichne, was du siehst“ – Die Künstlerin Helga Hošková-Weissová über ihre Zeichungen aus dem Ghetto Theresienstadt

Helga Weissová-Hošková (Foto: Annette Kraus)

„Zeichne, was du siehst“. Das sagte der Vater zu Helga Weissová, als die jüdische Familie 1941 im Ghetto Theresienstadt / Terezín ankam. Und die 12-jährige Helga malte, was ihr vor die Augen kam: Magere Menschen mit dem Judenstern auf der Kleidung, SS-Männer in Uniform, Brotlaibe, die auf Leichenwagen transportiert wurden, beengte Stockbetten im Kinderheim. Helga Weissová überlebte den Holocaust, und wurde Künstlerin. Ihre Zeichnungen aus Theresienstadt, die durch großes Glück erhalten blieben, sind ihr bis heute ihr wichtigstes Werk.

Helga Weissová-Hošková  (Foto: Annette Kraus)
In einem kleinen Koffer bewahrt die Künstlerin Helga Hoskova-Weissova ihre wertvollsten Werke auf – seit über 70 Jahren. Es sind Kinderzeichnungen, entstanden im Ghetto Theresienstadt, tschechisch Terezín. Nur 50 Kilo Gepäck durften Helga Weissová und ihre Eltern mitnehmen, als sie die deutschen Besatzer 1941 aus Prag nach Terezin deportierten – Helga packte Buntstifte und Wasserfarben ein. Ihr erstes Bild in Terezín zeigt eine unbekümmerte Szene:

„Es war Dezember, und ich war zwölf. Ich habe zwei Kinder gemalt, die einen Schneemann bauen. Für mich markiert das Bild eine Art Grenzstein. Denn es war mein erstes Bild, das ich in Terezín gemalt habe, aber eigentlich meine letzte, tatsächliche Kinderzeichnung. Denn mein Vater hat mir damals gesagt: ‚Zeichne, was du siehst‘. Ich war fast drei Jahre in Terezín. Und in dieser Zeit habe ich fast 100 Bilder gemalt, die das alltägliche Leben zeigten.“

Foto: Annette Kraus
Ermutigt vom Vater, der ihr Talent früh erkannt hat, malt Helga. Magere Menschen sind auf den Bildern zu sehen. Sie wirken abgehetzt, verängstigt und tragen den Judenstern auf der Kleidung. Auch Männer in Uniform finden sich auf den Zeichnungen. Das Mädchen ist nicht die einzige, die im Geheimen zeichnet:

Bilder zeigen die tägliche Erniedrigung

„Es gab auch erwachsene Maler. Sie arbeiteten offiziell in der Zeichenstube, wo sie für die Deutschen Plakate und Gemälde herstellen mussten. Heimlich haben auch sie Bilder von der Realität gemalt. In Terezin waren wir ja abgeschlossen von der Welt, ohne Telefon, ohne Zeitungen. Wir dachten, die Welt draußen weiß nicht, was geschieht. Den Malern ist es gelungen, einige Zeichnungen nach draußen zu schmuggeln. Doch leider wurde eine der Zeichnungen entdeckt. Daraufhin wurden sie alle in die kleine Festung geschickt, ein politisches Gefängnis. Alle diese Maler haben die Zeichnungen mit dem Leben bezahlt. Ich hatte großes Glück, denn niemand hat erwartet, dass es auch im Kinderheim solche Zeichnungen geben könnte.“

Foto: Annette Kraus
Helga Weissová lebte im Mädchenheim L410, Zimmer 24, denn Familien wurden in Terezin getrennt. Dass sie ihre Eltern nur eine Stunde täglich Gesicht bekam, ist eine der schlimmsten Erinnerungen der heute 86-Jährigen. Die alltägliche Erniedrigung durch die Deutschen, davon sprechen die Bilder. Eines davon zeigt Kinder, die einen Wagen voller Brot ziehen:

„Das ist ein sehr typisches Bild, fast mein Favorit, weil es so ein typisches Beispiel aus Terezín zeigt. Denn wir wurden dort nicht nur körperlich erniedrigt, sondern auch psychisch. In Terezín gab es keine Transportmittel, keine Autos, keine Pferde. So wurden wir gezwungen, alles selbst zu transportieren. Es gab dort alte, ausrangierte Leichenwagen. Mit diesen Wagen wurde alles transportiert: Dreckwäsche, alte Menschen und zum Beispiel auch Brot. Wir im Kinderheim Nr. L410 hatten auch einen solchen Wagen. Darauf stand die Aufschrift ‚Jugendfürsorge‘ und selbst wir Kinder mussten unser Brot auf einem Leichenwagen transportieren.“

Onkel konnte die Zeichnungen retten

Friedel Dicker-Brandeis  (Foto: Public Domain)
Es gab in Terezín auch eine offizielle Malklasse. Die Wiener Künstlerin Friedel Dicker-Brandeis leitete sie. Sie wollte den Kindern die Flucht vor der Realität ermöglichen, ließ sie schöne Dinge malen, Bäume, Blumen, Erinnerungen an die Zeit vor dem Ghetto. Helga Weissová malte, was sie sah. Dass diese realistischen Zeugnisse aus dem Ghetto erhalten geblieben sind, war Zufall. Im Herbst 1944 wurde Helga Weissová mit ihrer Mutter nach Auschwitz deportiert.

„Wir wussten nicht, wohin die Transporte gingen, nannten sie ‚Osttransporte‘. Dass es so etwas wie Vernichtungslager oder Gaskammern geben könnte, haben wir nicht geahnt. Aber wir dachten uns, dass uns noch schlimmeres erwarten würde. Dinge, die uns viel wert waren, haben wir darum nicht mitgenommen, sondern haben sie in Terezín gelassen. Zum Glück habe ich meine Zeichnungen und mein Tagebuch – denn ich habe dort auch ein Tagebuch geschrieben – in diesem Koffer meinem Onkel gegeben. Er versteckte sie und hat sie auf diese Weise gerettet.“

Auschwitz  (Foto: Barbora Kmentová)
Helga Weissová und ihre Mutter bleiben zehn Tage in Auschwitz, werden kahlgeschoren und im ungewissen gelassen, was mit ihnen passiert. Die 14-Jährige übersteht die Selektion und kommt mit ihrer Mutter nach Freiberg bei Dresen, ein Außenlager des KZ Flossenbürg. Bis Kriegsende müssen sie dort für Rüstungsindustrie arbeiten. Als die Alliierten näher rücken, löst die SS das Lager auf und transportiert die Häftlinge mit einem Zug durch ganz Böhmen ins KZ Mauthausen nach Österreich. Halb verhungert wird sie dort gemeinsam mit ihrer Mutter befreit. Zurück in Prag zeichnet Helga Weissová auch die schlimmsten Erfahrungen der letzten Haftmonate auf – in Bildern und in ihrem Tagebuch.

Denkmal für den Vater

Foto: Annette Kraus
„Ich wollte das einfach zu Ende bringen. Es war gleich nach dem Krieg. 1946 war das alles noch so lebendig, dass ich das im Präsens aufgeschrieben habe.“

Für Helga Weissová sind das Tagebuch und die Zeichnungen auch ein Denkmal für den Vater. Denn nach ihrer Rückkehr nach Prag, werden die Ängste zur Gewissheit. Otto Weiss wurde in Auschwitz ermordet. Helga Weissová war nach Kriegsende erst 15 Jahre alt – und kein Kind mehr.

Foto: Annette Kraus
„Diese Entwicklung kann man auch in diesen Zeichnungen erkennen. Das erste ist dieser Schneemann, und die allerletzten Bilder zeigen Tote in Mauthausen. Dazwischen liegen nur drei Jahre. Man sieht also, was einem Menschen innerhalb von drei Jahren passieren kann.“

Helga und ihre Mutter erhalten nach dem Krieg ihre Wohnung im Prager Stadtteil Libeň zurück. Das Mädchen macht Abitur und besucht die Kunstgewerbeschule. Später heiratet Helga Weissová einen Musiker, bekommt einen Sohn und eine Tochter. In den 1960ern beginnt sich die Künstlerin erneut mit dem Holocaust auseinanderzusetzen. Doch nach dem Ende des Prager Frühling wird das Thema in der Tschechoslowakei zum Tabu. Die Gedenkstätte Terezín gilt zu dieser Zeit als nationale Gedenkstätte für die tschechischen Opfer, nicht aber die jüdischen. Helga Weissovás Bilder zeigte ihren Kindern die Bilder aus dem Ghetto, doch öffentlich zu sehen waren sie nicht.

Foto: Annette Kraus
„Eigentlich hat sich niemand dafür interessiert. Das geschah alles erst nach 1989. Eines Tages wurde ich eingeladen, vor eine Gruppe deutscher Lehrer aus Niedersachsen zu sprechen. Da habe ich meine Zeichnungen mitgenommen. Ich hatte schon lange den Wunsch, sie herauszubringen, aber es ist nicht gelungen. Erst bei diesem Treffen kam es dann zu der Idee.“

Zeugnis ablegen für die Ermordeten

Foto: Verlag Wallstein
In den 1990er Jahren erschienen die Zeichnungen von Helga Hošková-Weissová – unter dem Titel „Zeichne was du siehst“. Nun erhält sie mehrere Staatsauszeichnungen, spricht häufig als Zeitzeugin vor Schülern. Auch ihr Tagebuch erscheint, und wird in 17 Sprachen übersetzt. Was die Kunst für ihr Leben bedeutet hat, darauf hat Helga Hošková-Weissová eine klare Antwort:

„Als ich nach dem Krieg zurückgekehrt bin, habe ich mich gefragt: Warum ausgerechnet ich? Ich denke, diese Frage haben wir uns alle gestellt. Es gab doch so viele Andere, Bessere, Schlauere, Talentiertere – warum ich? Da habe ich mir gesagt, es musste jemand überleben, um Zeugnis abzulegen – für diejenigen, die das nicht konnten. Es könnten heute auch diese besseren, talentierteren hier sein. Aber ich bin hier, also spreche ich nicht für mich, sondern auch für sie. Ich denke, dass Kunst diesen Vorteil hat, dass sie ihre Urheber überlebt. Künstler können also den Menschen auch nach ihrem Tod noch etwas sagen. Das ist vielleicht der ganze Sinn. Ich hoffe, dass die Zeichnungen und das Tagebuch dieses Zeugnis weitertragen werden – auch wenn ich nicht mehr da bin.“


Theresienstadt  (Foto: Denisa Tomanová)
Die Kinderzeichnungen von Helga Hošková-Weissová sind derzeit im Ghettomuseum der Gedenkstätte Terezín zu sehen, die Aussstellung dauert noch bis zum 29. Februar. Ihre Memoiren sind auf Deutsch unter dem Titel „Und doch ein ganzes Leben. Erinnerungen eines Mädchens, das Auschwitz überlebt hat.“ Der dreisprachige Bildband „Zeichne was du siehst. Zeichnungen eines Kindes aus Theresienstadt“ ist im Wallstein Verlag erschienen.