„Zeit der Fröhlichkeit“ - böhmische Zuwanderung nach Berlin-Rixdorf
Keines der Berliner Viertel ist so sehr durch Zuwanderung geprägt wie das südwestlich gelegene Neukölln. Türkische Gastarbeiter waren jedoch bei weitem nicht die ersten, die hier Zuflucht fanden. Als die damals von Berlin noch unabhängige Stadt Rixdorf, bevor diese dem späteren Berliner Stadtteil Neukölln zugefügt wurde, 1903 ihr eigenes Wappen erhielt, bestand dieses neben dem brandenburgischen Adler und dem Johanniterkreuz auch aus dem hussitischen Kelch: zu Ehren böhmischer Religionsflüchtlinge.
Das böhmische Dorf entstand in Rixdorf unter der Schirmherrschaft von Preußen-König Friedrich Wilhelm I. in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bis heute erinnert daran neben ursprünglichen tschechischen Straßenschildern und dem böhmischen Gottesacker auch das Böhmische Museum. Museumsverwalterin Cordelia Pollina.
„Die böhmischen Exulanten (Bezeichnung für die böhmischen Religionsflüchtlinge des 17. und 18. Jahrhunderts, Anm. d. Red.) sind 1737 aus Böhmen geflüchtet. Sie sind über Herrnhut in der Lausitz nach Berlin gekommen. In der Lausitz hatte Graf Zinsendorf bereits Flüchtlinge aufgenommen, doch es wurden zu viele. Deswegen nahm Zinsendorf mit dem preußischen König Kontakt auf und hat ihm sein Anliegen vorgetragen. Friedrich Wilhelm I. war bereit, Exulanten aufzunehmen und hat dann verschiedene Gruppen in Berlin angesiedelt. Eine Gruppe wurde in der Wilhelmstraße, also im heutigen Kreuzberg, angesiedelt, das war 1732. Und 1737 sind die böhmischen Exilanten nach Rixdorf hier gekommen.“
Es waren insgesamt 18 böhmische Familien, die fast ausschließlich aus dem Dorf Rothwasser nicht weit von Ústí nad Orlicí / Wildenschwert in Ostböhmen stammten. König Friedrich Wilhelm gab ihnen die Erlaubnis, ihren protestantischen Glauben frei auszuüben, was sie im katholischen Habsbuger-Reich nicht konnten. Zudem erhielten die Familien ein Grundstück mit neun Doppelhäusern. Andere böhmische Exilanten ließen nicht lange auf sich warten. Das böhmische Dorf begann also zu wachsen. Neben neuen Siedlungen entstanden auch Bethäuser und ein Friedhof. Im Jahr 1753 wurde dann feierlich auch das böhmische Schulgebäude eingeweiht, in dem heute das Böhmische Museum seinen Sitz hat.
„Dieser Schulhausbau war eigentlich der erste Versammlungssaal der Brüdergemeinde hier in Berlin. 1757 wurde dann ein richtiger Saal gebaut und das Gebäude hier wurde in ein Schulhaus umgewandelt beziehungsweise voll als Schulhaus genutzt“, so Pollina.
Unterrichtet wurde, wenigstens am Anfang, selbstverständlich auf Tschechisch. Allmählich hat sich aber auch das Deutsche durchgesetzt, wie die Museumsleiterin sagt:
„Die tschechische Sprache hat sich gut 200 Jahre in etwa gehalten. Man hat untereinander geheiratet, man blieb unter sich. Das war zu Anfang. Aber die Deutschen haben dann doch nachher Tschechen geheiratet und so vermischte man sich. Man hat dann Deutsch gesprochen, aber die älteren Leute blieben beim Tschechisch. Bis 1905 etwa gab es Leute, die noch Tschechisch sprachen.“
Tschechisch wurde auch noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts bei Gottesdiensten der Brüdergemeinde verwendet, vor allem beim gemeinsamen Gesang. Gerade beim Ablauf des Gottesdienstes, aber auch bei den Grundregeln des Alltagslebens im böhmischen Rixdorf lässt sich der Herrnhuter Einfluss des Grafen von Zinsendorf erkennen.
„Die Böhmen sind ja über Herrnhut nach Berlin gekommen. Und Zinsendorf hatte in Herrnhut praktisch eine Lebensform entwickelt, die den Glaubensmessenaspekt im Mittelpunkt sieht. Er hatte eine pietistische Erziehung, war also ein sehr frommer Mensch und übertrug dies praktisch auf die Lebensweise der Leute in Herrnhut. Niedergeschlagen hat sich das in bestimmten Baustilen einerseits, und andererseitshat es auch die Form des Miteinanderlebens geprägt“, so Cordelia Pollina.
Es wurde zur Angewohnheit, dass ledige Brüder und ledige Schwestern getrennt lebten, genauso wie verwitwete Frauen. Im Kleiderschrank jedes Mitgliedes hing neben einem dunklen Kleid, das für Gottesdienste bestimmt war, auch eine festliche Tracht, die nur zu Weihnachten und zum so genannten „Liebesmahl“ getragen wurde. Mädchen und Frauen zogen sich Hauben auf den Kopf, deren Farben andeuteten, ob die Trägerin jeweils ledig, verheiratet oder verwitwet war. Das ist übrigens noch heute bei festlichen Anlässen der Fall. Museumsverwalterin Pollina:
„Wir tragen kleine weiße Hauben auf dem Kopf, und die Bänder sind jeweils dem Stand zugeordnet. So tragen junge Mädchen von 14 bis 18 Jahren, also nach der Konfirmation, knallrote Bänder. Und wenn sie dann ledige Schwester sind, also ab 18, werden die Bänder rosa. Und wenn sie nie heiraten, bleiben die Bänder rosa bis an das Lebensende. Wenn sie dann aber heiraten, wird ein Band in himmelblau eingelegt. Witwen tragen wiederum weiße Bänder an ihrem Haupt. Andere Farben gibt´s nicht, nur die vier.“
Ihren Traditionen blieben die böhmischen Exulanten bis Anfang des 20. Jahrhunderts treu. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde es aber immer schwieriger, dies zu erhalten. Nicht nur, dass alle Mitglieder, die noch Tschechisch sprachen, starben; hinzu kam, dass die böhmische Schule 1909 geschlossen wurde. Andere Verluste bereitete der Zweite Weltkrieg. Bei einem Luftangriff kam der Prediger und zehn Mitglieder der Gemeinde ums Leben, das historische Gebetshaus wurde zerstört.
Das Böhmische am Ort wurde noch vor dem Mauerfall wiederbelebt, wenngleich das ursprüngliche böhmische Dorf in Westberlin lag, Böhmen selbst hingegen im Ostblock. Die Stadt Ústí nad Orlicí knüpfte schon Mitte der 80er mit dem Berliner Viertel Neukölln erste bedachtsame Kontakte, die seitdem sogar an Intensität gewonnen haben. Das böhmische Element ist heute im ehemaligen Rixdorf so präsent wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr.
(Foto: commons.wikimedia.org, -jkb-) Noch heute finden sich hier Nachkommen jener 18 Familien, die in Rixdorf im Jahr 1737 Zuflucht fanden, sagt Cordelia Pollina:
„Von diesen 18 Familien bewohnen etwa sechs noch ihr Gehöft. Das lässt sich auch an den Namen nachvollziehen. Eine Familie Mares, Motel, auch Schultze –ein bisschen ist Deutsches und Böhmisches in Rixdorf vermischt.“
Obwohl kein Nachkomme dieser Familien mehr Tschechisch spricht, haben sie ein tschechisches Lied noch immer im Gedächtnis.
„Zu Weihnachten wird ein einziges tschechisches Lied noch gesungen, von dem Chor und von der Gemeinde. Das heißt Čas radosti, veselosti.“
Neben dem Lied „Zeit der Freude und der Fröhlichkeit“ erinnert an die böhmischen Wurzeln seit vier Jahren auch das Böhmische Museum. Es ist im ehemaligen Schulgebäude untergebracht ist, wie auch der nach Comenius genannte Garten. Im vorigen Jahr wurde überdies auch die Tradition des Strohballenrollens wiederbelebt. Eine Disziplin, in der einst einmal jährlich eine böhmische und eine deutsche Mannschaft aufeinander trafen, und zwar am zweiten Wochenende im September. Der Wettkampf heißt noch heute Popráci, das bedeutet: „Nach der Arbeit“. Der Name Popráci ist jedoch so heimisch geworden, dass ihn mittlerweile keiner mehr übersetzt.