„Zeit spielt im Ausland eine ganz andere Rolle“ – Frank Leßmann-Pfeifer, Pfarrer der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Prag

Foto: Romy Ebert

Versteckt zwischen hohen Altbau-Gebäuden der Prager Innenstadt liegt die Kirche St. Martin in der Mauer. Die dazugehörige Kirchgemeinde, die deutschsprachige evangelische Gemeinde in Prag, lebt aber nicht so zurückgezogen – im Gegenteil. Konzerte und Ausstellungen sie in ihrem Gotteshaus. Auch den zahlreichen Touristen, die jeden Tag an ihm vorbeibummeln, stehen Kirche und Gemeinde offen. Im vorigen Jahr präsentierte sich die deutschsprachige Gemeinde sogar mit einem weihnachtlichen Fernsehgottesdienst. Radio Prag traf die besondere Gemeinde zum Adventssingen und Pfarrer Frank Leßmann-Pfeifer zum Gespräch.

Frank Leßmann-Pfeifer  (links) und seine Gemeinde beim Adventssingen  (Foto: Romy Ebert)
Herr Leßmann-Pfeifer, Sie betreuen gemeinsam mit Ihrer Frau die deutschsprachige evangelische Gemeinde in Prag. Die Gemeinde gibt es seit 1994. Sie sind seit vier Jahren hier – fühlen Sie sich in Prag bereits zu Hause?

„Schon seit Langem. Ich erinnere mich daran, wie wir nach rund einem Jahr in Tschechien von einem Aufenthalt in Deutschland zurück nach Prag gefahren sind, und das erste Mal gesagt haben:‚Wir fahren jetzt nach Hause.’ Das war für mich und meine Frau ein sehr schönes Gefühl. Inzwischen sind wir hier richtig zu Hause. Zwar nur auf begrenzte Zeit, aber in dieser Zeit wirklich ‚zu Hause’.“

St. Martinskirche in der Mauer  (Foto: Romy Ebert)
Ihre Kirche hier in Prag, die St. Martin in der Mauer, ist ein kleines Schmuckstück – da kann man sich ja auch gut zu Hause fühlen…

„Das stimmt, darin kann man sich sehr wohl fühlen. Es ist eine der ältesten Kirchen in Prag und ein toller Ort, um Gottesdienst zu feiern. Die Gemeinde und ich sind dankbar dafür, dass uns diese Kirche zur Verfügung steht.“

Wie kommt man allgemein dazu als Pfarrer ins Ausland zu gehen und dort eine Gemeinde zu betreuen? Welche Prozesse muss man dafür durchlaufen?

St. Martinskirche in der Mauer  (Foto: Romy Ebert)
„Ganz unkompliziert ist das nicht. Wenn man ins Ausland möchte, muss man zunächst fünf Jahre in einer normalen Pfarrstelle in Deutschland gearbeitet haben. Danach kann man sich bei der Evangelischen Kirche in Deutschland bewerben. Man wird dann zu einem Vorgespräch eingeladen, oder eben auch nicht. Wenn nicht, dann ist die Bewerbung schon dort gescheitert. In dem Vorgespräch geht es darum, ob man ganz grundsätzlich für einen Auslandsaufenthalt geeignet ist. Wenn man dieses Auswahlgespräch besteht, wird man an die Gemeinde, für die man sich beworben hat, weitergeleitet. Soweit kommen zwischen zehn und zwanzig Bewerber und von denen wählt die Gemeinde drei oder vier aus, die noch einmal zu einem Bewerbungswochenende eingeladen werden. Bei meiner Frau und mir war das auch nicht die erste Bewerbung. Wir haben schon einige Erfahrungen mit Bewerbungswochenenden gemacht.“

In Prag oder auch woanders?

Adventssingen  (Foto: Romy Ebert)
„Nein, auch woanders. Zum Beispiel im englischsprachigen Raum.“

Warum haben Sie sich als Ziel Prag ausgesucht?

„Weil Prag eine tolle Stadt ist. Aber auch, weil die Ausschreibung der Gemeinde so interessant war. Es ist eine sehr junge Gemeinde. Wir haben unter unseren mittlerweile rund 160 Gemeindemitgliedern, gerade einmal drei oder vier Menschen, die älter als 70 Jahre sind. Das ist eine besondere Situation. Es gibt viele jungen Menschen, viele Familien mit kleinen Kindern. Die sind in den 90er oder 2000er Jahren nach Prag gekommen. Das ist eine echte Herauforderung. Der Kontakt mit Touristen, ist auch sehr schön. Er macht einen wichtigen Bestandteil der Arbeit hier aus. Außerdem ist es gut, dass diese Gemeinde, im Gegensatz zu vielen anderen Auslandsgemeinden der EKD (Evangelische Kirche Deutschland), in eine einheimische evangelische Kirche integriert ist. Das ist in dem Fall die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder. Es bedeutet, dass man nicht in einem deutschsprachigen ‚Ghetto’ lebt, sondern auch wirklich zu der tschechische Kirche und Gemeinschaft dazugehört.“

Die deutschsprachige evangelische Gemeinde in Prag ist außergewöhnlich jung  (Foto: Romy Ebert)
Sie haben gesagt, von den 160 Mitgliedern Ihrer Gemeinde sind sehr viele jung. Was für Menschen bringen Sie generell zusammen – gibt es beispielsweise auch Tschechen in Ihrer Gemeinde?

„Wir sind ganz international. Die Gemeinde heißt ja auch ‚deutschsprachige evangelische Gemeinde’. Es gibt etliche tschechisch-deutsche Ehepaare. Aber es sind auch Tschechen da, die einfach die Gemeinde und die Begegnungen dort interessant finden. Wir haben auch Slowaken, Niederländer, Engländer – eine ganz bunte Mischung.“

Foto: Romy Ebert
Welches Ziel verfolgen Sie bei Ihrer Arbeit mit der Gemeinde?

„Ich spreche jetzt für meine Frau und mich: Unser Ziel ist, dass jeder, auch wenn er nur für einen kurzen Besuch in Prag ist, sich zu Hause fühlen kann. Das gilt auch für Touristen, die nur mal kurz am Sonntagmorgen in unsere Kirche hineinschauen. Es soll keine Distanz geben, sondern es soll jedem, wenn er möchte, möglich sein sofort mitzumachen. Ich glaube, dass funktioniert ganz gut, weil die Menschen in der Gemeinde sehr offen und einladend sind.“

Die religiöse Arbeit in Tschechien birgt noch eine andere Herausforderung: Das Land ist sehr säkular – ungefähr zwei Drittel der Tschechen sind konfessionslos. Wie sind Sie dem begegnet?

Hl. Martin  (Foto: Kristýna Maková)
„Das ist eine ganz schöne Sache. Man kann dazu unterschiedlich stehen. Die Einen erfahren es als einen Verlust, wenn man aus einer so volkskirchlichen Struktur, wie es sie in Westdeutschland meistens noch gibt, kommt und dann in einem so säkularen Land wie Tschechien ist. Es kann sein, dass man manches vermisst. Es kann aber auch anders herum sein – das man etwas neu entdeckt. So war es bei mir. Ich habe dafür vielleicht ein bisschen Zeit gebraucht, aber mittlerweile finde ich es ganz spannend, Menschen zu begegnen, die keine religiösen Erfahrungen oder Vorkenntnisse haben. Dabei merke ich, um nur einen Punkt zu nennen, wie sehr ich auf meine Worte achten muss. Religiöse Sprache kann manchmal wie eine Insider-Sprache sein. Hier wird man von einem Jugendlichen auch mal gefragt‚ was ‚Gemeinde’ eigentlich ist, weil er das Wort noch nie vorher gehört hat. Das ist eine Herausforderung, und führt dazu, dass man viel elementarer sprechen muss. Und das ist auch eine gute Erfahrung.“

St. Martinskirche in der Mauer  (Foto: Kristýna Maková)
Haben Sie Tschechen kennengelernt, die sich durch die Begegnung mit Ihnen jetzt mehr für Religion interessieren?

„Ich würde nicht sagen, durch die Begegnung mit mir, aber durch die Begegnung mit Gemeindemitgliedern auf alle Fälle. Das kommt wirklich vor, auch deswegen, weil die Gemeinde so übersichtlich ist. Die Gemeinde ist ein Ort, an dem man interessante Menschen treffen kann. Es gibt einige Tschechen, aber auch Deutsche, die vorher wenig mit Religion oder Kirche zu tun hatten, das aber hier für sich neu entdecken - zumindest als eine Möglichkeit, Fragen zu stellen und interessante Antworten zu bekommen.“

St. Martinskirche in der Mauer  (Foto: Kristýna Maková)
Sie haben gesagt, die deutschsprachige evangelische Gemeinde ist übersichtlich – sie ist aber auch sehr aktiv. Es gibt unzählige Gruppen und es werden viele verschiedene Veranstaltungen organisiert. Könnten Sie ein bisschen erzählen, was Ihre Gemeinde alles macht?

„Wie bei einer ganz normalen Gemeinde in Deutschland gibt es auch bei uns eine Krabbelgruppe. Dann geht es vom Alter her weiter: mit Kindergottesdienst und Kindergruppe. Wir haben auch ein Frauenfrühstück, Bibelgesprächskreise und einen Posaunenchor. Es gibt ganz viele ‚klassische’ Gruppen. Das einzige was es nicht gibt, ist ein Seniorenkreis. Dafür haben wir einfach nicht genug Senioren. Ein ganz wichtiger Teil des Lebens im Gemeindehaus ist eine Art ‚Gemeinde-Volkshochschule’. Vor allem Frauen nutzen das Gemeindehaus und bringen Menschen, die etwas Bestimmtes können, mit anderen Menschen zusammen, die etwas davon lernen wollen. Dort gibt es also einen Fotografie-Kurs, einen Koch-Kurs, einen Englisch-Kurs –alles mögliche. Hauptsache jemand kann den Kurs betreuen.“

Familie Boué aus der Gemeinde veranstaltet das Adventssingen  (Foto: Romy Ebert)
Bei Ihnen leben aber auch Traditionen weiter. Zum Beispiel fand am zweiten Adventswochenende das typische Adventssingen statt – eine ganz langjährige Tradition.

„Das Adventssingen ist in der Tat für unsere Verhältnisse ein echter Klassiker. Ich weiß gar nicht, wie lange es das schon gibt. Aber die Familie Boué, die das Singen trägt, ist seit 14 Jahren in Prag und ungefähr so lange, wird es die Veranstaltung auch schon geben. Das ist für uns echt lang. Die Familie Boué ist sehr musikalisch und prägt die Veranstaltung mit ihrer Musik und der Atmosphäre, die sie verbreitet. Eine tolle Sache, zu der jedes Jahr auch Touristen hinzukommen, die einfach in die Kirche schauen, weil sie von draußen die Musik hören.“

Kinder beim Adventssingen  (Foto: Romy Ebert)
Mir ist aufgefallen, bei dem Adventssingen wurden deutsche, englische aber auch tschechische Lieder gesungen. Sehen Sie solche Veranstaltungen auch als eine Art Kulturvermittlung?

„Das Adventssingen ist sicher eine Kulturvermittlung. Man merkt dabei auch, wie unterschiedlich die Menschen sind, die zu uns kommen. Viele wohnen schon seit zwanzig Jahren in Prag und sprechen gut Tschechisch. Für andere ist bei einem tschechischen Advents- oder Weihnachtslied noch der ein oder andere Zungenbrecher dabei.“

Und bei Ihnen? Haben Sie erst hier Tschechisch gelernt?

St. Martinskirche in der Mauer  (Foto: Kristýna Maková)
„Ich habe vorher gar kein Tschechisch gesprochen. Ich muss gestehen, nach den viereinhalb Jahren hier, bin ich immer noch nicht so richtig gut. Da ist meine Frau wesentlich fleißiger. Ich kann inzwischen viel verstehen, auch Zeitung lesen – aber ein normales Alltagsgespräch zu führen, fällt mir noch schwer. Dafür ist mir diese Sprache einfach zu schnell.“

Was planen Sie mit Ihrer Gemeinde an Weihnachten?

„Zunächst findet traditionellerweise an Heiligabend das große Krippenspiel statt. Es war letztes Jahr so, dass wir in der Kirche nicht mal mehr gute Stehplätze hatten. Wer einen guten Platz haben will, sollte schon eine Stunde eher kommen. Mir wurde gesagt, dass es noch vor ungefähr zehn Jahren kein Krippenspiel der Gemeinde gab, weil damals noch viele Mitglieder über Weihnachten zu ihren Familien nach Deutschland gefahren sind. Das hat sich in den letzten Jahren verändert. Es gibt immer mehr Familien, die an Weihnachten hier sind. Deswegen ist es auch möglich, so etwas wie ein Krippenspiel mit den Kindern zu machen. Und dann gibt es natürlich auch den ganz normalen Weihnachtsgottesdienst.“

St. Martinskirche in der Mauer  (Foto: Kristýna Maková)
Gibt es in diesem Jahr zu Weihnachten ein bestimmtes Thema, dass Sie Ihrer Gemeinde ans Herz legen wollen. Es ist ja eine turbulente Zeit…

„Als wir uns im Gemeindevorstand überlegt haben, wie wir in diesem Jahr die Weihnachtszeit gestalten, waren die Schlagworte ‚Ruhe’, ‚Besinnung’ und ‚stressfrei’. Wir haben im vergangenen Jahr einen Fernsehgottesdienst ausgerichtet, der vom ZDF und dem tschechischen Fernsehen übertragen wurde. Das war ein Projekt, das sehr viel Kraft und Energie gekostet hat. Als Weihnachten dann vorbei war, waren viele in der Gemeinde ausgelaugt. Da war für uns alle klar: Weihnachten 2012 wird ganz ruhig.“

Foto: Archiv ČRo 7
Sie haben vorher eine Pfarrgemeinde in Deutschland betreut. Haben Sie den Eindruck, dass die Deutschen in Prag mit anderen Sorgen und Problemen zu Ihnen kommen, als es in Deutschland der Fall war?

„Ich glaube, wenn man ins Ausland geht, braucht man auf ganz andere Weise Kontrakte und Freundschaften. ‚Freundschaft’ ist ein sehr großes Wort. Aber ich denke trotzdem, dass auch Freundschaften im Ausland schneller geschlossen werden. Man findet sehr schnell zusammen. Das ist vor allem so bei Menschen, die wissen, dass sie nur zwei oder drei Jahre, oder gar nur wenige Monate hier sind. Es ist eine intensive Zeit. Den Unterschied merke ich. Ich war vorher auf einem Dorf, zu dessen Gemeinschaft man – vielleicht - dazugehört hat, wenn man zwanzig Jahre lang dort gewohnt hat. Zwanzig Jahren dort sind hier eher zwei Wochen. Das finde ich sehr interessant. Zeit und Gegenwart spielen hier eine ganz andere Rolle. Viele wissen nicht, wo sie im nächsten Jahr sein werden. Ob sie dann vielleicht in China sind, wie ich von einer unserer Familien weiß. Deswegen konzentriert sich die Gemeinde darauf, dass wir jetzt hier sind und die Zeit, so gut wie wir können, miteinander verbringen. Das ist eine sehr schöne und intensive Erfahrung.“

Frank Leßmann-Pfeiffer ist Pfarrer  (Foto: Archiv der Deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Prag)
‚Zeit’ ist auch das Stichwort für die letzte Frage: Sie sind noch für zwei Jahre in Prag. Wissen Sie schon, was danach passiert? Bleiben Sie in Tschechien, geht es zurück oder gehen Sie ganz woanders hin?

„Meine Heimatkirche ist die evangelische Kirche von Westfalen. Im Ausland hat man einen Vertrag über sechs Jahre. Den kann man, wenn alle möglichen Institutionen zustimmen und auch die Gemeinde das möchte, um drei Jahre verlängern. Das streben meine Frau und ich an. Wir wären dann bis 2017 hier. Danach geht es erst einmal zurück nach Westfalen. Man muss zunächst zurück, aber man kann sich später noch einmal fürs Ausland bewerben.“