St. Martin in der Mauer - die bewegte Geschichte eine Prager Kirche

Kirche St. Martin in der Mauer

Sie liegt mitten in der Prager Altstadt und täglich strömen Scharen von Touristen an ihr vorbei: die Kirche St. Martin in der Mauer. Erst vor zwei Wochen wurde der ZDF-Fernsehgottesdienst von hier gesendet. Pächter des Sakralbaus ist die Kirche der böhmischen Brüder, aber die deutschsprachige evangelische Gemeinde in Prag ist hier zur Untermiete. Frank Leßmann-Pfeiffer ist Pfarrer dieser Gemeinde und hat für Radio Prag die bewegte Geschichte und architektonischen Besonderheiten von „St. Martin in der Mauer“ schildert.

Kirche St. Martin in der Mauer
Herr Leßmann-Pfeiffer, „St. Martin in der Mauer“ ist eine der ältesten Prager Kirchen. Woher stammt der Name?

„Der Name ‚in der Mauer’ kommt daher, dass hier kurz nach Errichtung der Kirche die Prager Stadtmauer stand. Die Kirche war ein Teil der Stadtmauer. Um Steine zu sparen, hat man die Kirche in die Mauer eingebaut. Gebaut wurde die Kirche schon von 1178 bis 1187, und im 13. Jahrhundert ist es dann zum Bau der Stadtmauer gekommen. Woher der Name ‚St. Martin’ kommt, ist vielleicht ein bisschen schwieriger zu erklären. Der Ort, an dem die Kirche gebaut wurde, lag damals noch am Rand der Stadt. Früher waren an den Stadträndern ganz oft Gegenden, die man heute als Rotlichtviertel bezeichnen würde. So auch hier in Prag. Es war also eine Arme-Leute-Gegend. Kirchen, die in solchen Stadtvierteln standen, sind oft Sankt Martin geweiht worden. Denn Sankt Martin war durch die Legende von der Mantelteilung der Schutzpatron der Armen.“

Kirchenschiff mit dem Blick auf den Altarraum
Welche geschichtlichen Ereignisse haben die Kirche denn noch betroffen?

„Das wichtigste Datum in der Geschichte der Kirche war mit Sicherheit Oktober 1414. Hier in der Kirche wurde eine der Hauptforderungen der Anhänger von Jan Hus realisiert: der so genannte Laienkelch. Das bedeutet, dass das Abendmahl nicht nur in der Form des Brotes, sondern auch des Kelches an die Gläubigen ausgeteilt wird, also in seiner ganzen und vollen Form. Nach der Hussitischen Revolution in Prag im Jahre 1419 war St. Martin in der Mauer dann wie alle Prager Kirchen eine hussitische Kirche. Das änderte sich dann erst wieder nach 1621, nach der Schlacht am Weißen Berg. Danach war St. Martin in der Mauer wieder katholisch – und zwar so bis Joseph II.; der Sohn Maria Theresias hat viele Kirchen in seinem Kaiserreich und im Königreich Böhmen säkularisiert. St. Martin in der Mauer wurde dann wie viele andere Kirchen in Prag außer Dienst gestellt. Es gab hier Wohnungen, Geschäftszeilen und eventuell sogar einen Tanzboden, für den fehlen mir aber die Belege. Hier im Kirchenraum sieht man auch noch teilweise Türen, die ins Nichts führen, und Emporen, zu denen es keinen Zugang gibt. Also lauter architektonische Kleinigkeiten, die darauf hinweisen, dass die Kirche über viele Jahre anders genutzt wurde.“

Kelch und Bibel im Kirchenchor
Beispielsweise eine Empore, zu der es keinen Aufgang gibt…

„…Genau, ursprünglich gab es einen Zugang von außen. Die Empore gehörte der Familie Holec, einer Bürgerfamilie, die im 15. Jahrhundert einen Umbau der Kirche finanzierten. Über eine überdachte Brücke kam diese Familie dann von außen auf ihre eigene Empore. Seitdem diese Brücke irgendwann im 19. Jahrhundert abgerissen worden ist, gibt es keinen Zugang mehr zu der Empore.“

Was hat sich denn im Chorraum so getan?

„Der hat im Laufe der Zeit viele Veränderungen Erfahren. Ich habe ein Foto aus den 1920er Jahren gesehen: Damals stand hier noch ein großer Wandaltar. Seitdem hat sich viel verändert. Der Blickfang ist heute der Kelch mit der aufgeschlagenen Bibel an der Wand. Der Kelch ist bis heute das Symbol des Protestantismus in Böhmen, angefangen mit der Bewegung von Jan Hus und seinen Anhängern. Die aufgeschlagene Bibel symbolisiert die intensive Bibelfrömmigkeit der Hussitischen Bewegung und des Protestantismus in Tschechien.“

Wappen der Familie Holec
An der Decke über dem Chor sieht man zwei Wappen, was für Wappen sind das?

„Das sind die Familienwappen der Familie Holec, denen dieser spannende Zugang zur Empore gehörte. Sie stammen, soweit ich weiß, aus dem 17. oder 18. Jahrhundert.“

Im Eingangsbereich der Kirche stehen links und rechts der Tür drei Grabplatten…

Deckenmalerei
„Diese erinnern an den Friedhof, der früher um die Kirche herum angelegt war. Sie stammen aus dem 17. Jahrhundert. In mittelalterlichen Kirchen war es ja sogar üblich, Geistliche oder höher gestellte Adelige in der Kirche zu bestatten. Solche Gräber gab es hier zwar auch einmal, aber die Grabplatten, die jetzt hier stehen, lagen ursprünglich nicht hier drinnen, sondern außerhalb der Kirche. Im Prager Stadtmuseum gibt es alte Stiche, auf denen man gut erkennen kann, dass es im Mittelalter einen Friedhof rund um die Kirche gab. Außerdem gibt es auch Bilder aus dem 19. Jahrhundert, also aus der Zeit der Säkularisierung. Auf denen sieht man, dass die Kirche zu dieser Zeit richtig eingebaut worden ist und Teil einer Häuserzeile war. Man hat also auch architektonisch versucht, die Kirche in die Zeile der Wohnhäuser mit einzubeziehen. An diese Zeit erinnert auch eine Holzdecke hier in der Kirche. Sie ist nämlich nicht mit kirchlichen Motiven bemalt, sondern eher mit Motiven aus dem Hellenismus oder der griechischen Mythologie. Man sieht zum Beispiel Blumen und Vögel. Diese Bemalung war nie Teil eines Kirchenraums, sondern stammt aus der Zeit, als hier Privatwohnungen waren.“

Frank Leßmann-Pfeiffer ist Pfarrer  (Foto: Archiv der Deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Prag)
Gibt es noch mehr architektonische Besonderheiten?

„Es gibt auch noch eine andere Empore, zu der es keinen Zugang gibt, sowie zugemauerte Fenster und Wandvorsprünge, die darauf hinweisen, dass über die gesamte Breite des Kirchenschiffs eine Zwischendecke eingezogen war. Spannend ist auch noch der Kirchturm. Der wurde im Mittelalter bestimmt als Fluchtturm genutzt. Der Weg auf den Turm ist relativ beschwerlich. Die Tür zum Turm beginnt erst in vier Metern Höhe. Zu dieser Tür kommt man also nur mit einer Leiter. Direkt hinter der Tür befinden sich noch weitere Treppenstufen und eine weitere schwere, angewinkelte Eisentür. Von dort oben konnte sicherlich ein Mensch alleine zehn andere abwehren, die von unten kamen.“

Die Deutschsprachige Evangelische Gemeinde bietet Führung auf den Spuren von Jan Hus mit einem Rundgang durch die Prager Altstadt an.