Zwei Universen treffen sich im Kosmos: Das Prager Café „Vesmírna“
Haben Sie Berührungsängste im Umgang mit Behinderten? Ja oder nein – Sie können das ganz leicht nachprüfen. Wenn Sie das nächste Mal in Prag sind, machen Sie einfach einen Abstecher in das Café „Vesmírna“. Dort jonglieren nämlich Behinderte die Tabletts. Und dass das gut funktioniert, davon hat sich Iris Riedel im wahrsten Sinne „mit Leib und Seele“ überzeugt.
Prager Innenstadt-Gewusel kennt man hier nicht. Wenige Gässchen vom Wenzelsplatz, der Milchstraße Prags entfernt, tut sich ein eigener Kosmos auf, nämlich das Café Vesmírna (zu Deutsch: Kosmos). Von außen verrät das Haus in seinem sozialismusgrauen Anstrich nicht, dass es das Tor zu einer anderen Welt ist.
Gleich nachdem man sich gesetzt hat, überreicht einem die Kellnerin auf einem kleinen Tellerchen das Willkommenstäfelchen Schokolade. Ihre blonden Haare sind akkurat geflochten und hochgesteckt, mit der orangenen Schürze fügt sie sich vollends ins Farbkonzept des Cafés ein: universell orange. Eigentlich ist sie eine hübsche Erscheinung, wäre da nicht dieser träge, abgleitende Blick und ihre gedrungene Gestalt. Denisa hat Trisomie 21 und ist seit ihrer Geburt geistig behindert. Sie hat die Schule abgebrochen, weil sie arbeiten wollte, richtig arbeiten. Nicht in einer abgeschotteten Werkstatt für Behinderte. Im Café Vesmírna durchläuft sie ein anderthalbjähriges Trainingsprogramm, das sie auf den freien Arbeitsmarkt vorbereiten soll. Jana Hrazdilová ist die Koordinatorin des Pilotprojekts.„Unser Anliegen ist es, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass Menschen mit geistiger Behinderung arbeiten können und ihnen auch die Möglichkeit dazu zu geben. Im Kommunismus und noch viele Jahre danach herrschte die Ansicht, dass geistig Behinderte weder fähig sind zu arbeiten noch dazu, ein soziales Leben in der normalen Gesellschaft zu führen. Wir wollten dieses Stereotyp durchbrechen.“Das Café Vesmírna wurde 2002 gegründet. Seitdem werden hier immer sechs bis sieben Behinderte gleichzeitig ausgebildet. Jeder hat einen persönlichen Assistenten, von dem er regelmäßig Feedback bekommt und mit dem er die nächsten Schritte plant. Denn ans große Ziel - nämlich fit für eine normale Arbeitsstelle zu sein - führen nur kleine Schritte, erläutert Jana Hrazdilová.
„Wir haben gerade eine neue Klientin. In der ersten Woche geht sie ihren Kollegen immer nur mit einer kleinen konkreten Sache zur Hand, sie hilft zum Beispiel bei der Reinigung des Cafés. Gegen Ende des ersten Monats sollte sie schon einen Teil der Reinigung selbstständig erledigen können. Und so kommen Schritt für Schritt neue Tätigkeiten hinzu. Je selbstständiger der Klient dann wird, desto weniger greift der Assistent ein.“Der Kontakt mit den Gästen erfordert den meisten Mut und steht deshalb für die behinderten Mitarbeiter an der Spitze der Ausbildungsleiter.
“Meistens haben sie Angst davor, weil sie etwas wirklich fertigbringen müssen, zum Beispiel den Kaffee an den Tisch bringen oder die Bestellung ausrichten, aber vor allem mit dem Gast kommunizieren. Aber diese erste Woche als Bedienung geht immer gut, denn irgendwie schafft es jeder. Und dann entdeckt derjenige viel an sich, wovon er noch gar nicht gewusst hat, dass er es kann“, sagt Hrazdilová.Aber Mut brauchen wohl erst einmal beide Seiten – Kellner und Gäste. Denn es kann auch mal etwas schiefgehen, wie die Kellnerin Denisa verschmitzt gesteht.
„Ja (stottert), alles klappt gut. Ich bediene die Gäste und manche kriegen was und manche nicht, aber die nehmen das mit Gelassenheit.“Es sei wohl auch schon vorgekommen, dass Gäste empört wieder gegangen sind, wenn nicht alles so problemlos funktionierte wie in jedem anderen Lokal. Aber viele bleiben um so lieber, nachdem sie bemerkt haben, auf was für einem Stern sie da gelandet sind. Olga zum Beispiel ist Stammgast im Café „Vesmírna“.
„Weil es in der Nähe ist (lacht), weil hier nicht geraucht wird und es hier so angenehm und ruhig ist. Es gibt gute Desserts und guten Wein. Und mir gefällt auch das mit der Bedienung. Wir wissen von Vornherein, dass die Bedienung hier so ist, wie sie eben ist, und ich habe da auch irgendwie ein gutes Gefühl dabei.“
Die lockere Atmosphäre spiegelt sich nicht zuletzt in dem bunt zusammengewürfelten Publikum wider. In der Kissenecke mit Teetischchen versuchen Mütter ihre Babys und Kleinkinder zu bändigen. Am großen Tisch in der Mitte findet ein Geschäftstreffen statt und in den Großmutter-Sesseln an der Bar berät sich weit nach vorn gebeugt ein Liebespaar. Am Abend ist es kaum möglich einen Platz in dem kleinen Café zu bekommen und auch ehemalige Teilnehmer des Trainingsprogramms müssen beim Kellnern aushelfen. Auch wenn der Laden brummt, ist das Café „Vesmírna“ natürlich aufgrund der hohen Personalkosten für die Behinderten und ihre persönlichen Assistenten ein Minusgeschäft. Dass das Projekt trotzdem überleben kann, dafür sorgt der Trägerverein „Máme otevřeno?“, was soviel heißt wie: Wir haben geöffnet. Marta Pellar ist die Direktorin des Vereins. Sie erklärt, warum man Behinderte überhaupt auf den freien Arbeitsmarkt vorbereiten muss.“Wenn ein Klient bei uns das Trainingsprogramm in dem Café beginnt, dann ist das oft seine allererste Arbeitserfahrung. Hier soll er das Arbeitsumfeld kennen lernen, lernen, wie man mit dem Arbeitgeber, dem Vorgesetzten und Kollegen redet. Und allmählich bringen wir ihn dazu, seine eigenen Bedürfnisse, Meinungen und Wünsche zu formulieren.”Ein anderes Projekt des Vereins ist das Transitprogramm. Das greift in den letzten zwei Monaten der Ausbildung, in denen Jana Hrazdilová ihre Schützlinge dann langsam loslässt, damit sie aus ihrem in unseren Kosmos eintreten.
„Meine Kollegin hilft dem Klienten, der bei uns aufhört, Inserate herauszusuchen und begleitet ihn auf Vorstellungsgespräche. Wenn er den Arbeitsplatz bekommt, steht sie ihm den ersten Monat zur Verfügung und sorgt dafür, dass der Übergang von uns in die neue Arbeit, wo es dann keinen Assistenten mehr gibt, möglichst reibungslos verläuft.“Das Transitprogramm ist es, das den eigentlichen Erfolg des Cafés „Vesmírna“ ausmacht. Denn die meisten Behinderten können so nach der Ausbildung auch wirklich vermittelt werden. Eine Absolventin etwa ist in einem größeren Unternehmen für die Reinigung und die Kaffeeküche zuständig, eine andere arbeitet in der Backwarenabteilung eines Supermarkts. Ein weiterer ehemaliger Klient des Cafés arbeitet im „Hotel Imperial“ sozusagen als männliches Zimmermädchen.
„Das sind einfache Arbeiten, die gemacht werden müssen und die irgendjemand einfach erledigt, aber es könnte sie eben auch unser Klient machen. Ein bisschen kontraproduktiv wäre es, wenn man sich extra für unseren Klient eine Arbeit ausdenken würden, für die eigentlich kein Bedarf ist“, so Hrazdilová.Das kann aber durchaus passieren. Denn grundsätzlich muss jedes Unternehmen in Tschechien, das mehr als 25 Mitarbeiter beschäftigt, einem oder mehreren Behinderten einen Arbeitsplatz anbieten oder andernfalls eine gewisse Summe als Entschädigung an den Staat abführen.
Kellnerin Denisa hat eine klare Vorstellung von ihrer Zukunft nach dem „Vesmírna“. Ihr größter Traum ist es Baletttänzerin zu werden - und zum Ballettunterricht geht sie schon jetzt. Aber für die nähere Zukunft hat sie noch einen Plan B – richtig tschechisch.„Ich arbeite hier, weil es mir gut gefällt, hier sind ausgezeichnete Trainer, ich habe hier Freunde – das ist gut. Und es gefällt mir hier noch aus einem anderen Grund, nämlich wegen meiner zukünftigen Arbeit. Und zwar würde ich gern in einer Kneipe Bier austragen.“
Vielleicht wird sie aber auch etwas ganz anderes, zum Beispiel Konditorin. Denn am ersten Juni hat die Konditorei „Vesmírna“ ihre Tür geöffnet. Noch einmal Direktorin Marta Pellar:
„Die Konditorei funktioniert als gemeinnütziges Unternehmen, wo wir Arbeit für Menschen mit geistiger Behinderung anbieten werden. Sie werden in der Produktion arbeiten, zum Beispiel Törtchen dekorieren oder Obst vorbereiten. Das ist so ein Beispiel für eine soziale Firma, in der man Behinderte beschäftigen kann.”Mit diesem konkreten Projekt will der Verein „Máme otevřeno?“ anderen Arbeitgebern zeigen, dass es möglich ist, Behinderte in den normalen Arbeitsrhytmus einer kommerziellen Firma einzubinden. Hinter der Theke und in der Backstube werden ein behinderter und ein gesunder Mensch stehen und sie werden die gleichen Rechte und Pflichten haben, vor allem aber – die gleiche Bezahlung.