Zwischen Klischee und Kooperation: Tschechien und Österreich 20 Jahre nach der Wende
20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs scheinen Tschechen und Österreicher eine vornehme Distanz zueinander wahren zu wollen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden von den Medien zwar häufig zum Thema gemacht, der Befund fällt jedoch in der Regel ernüchternd aus: Das Bild, das die Nachbarn voneinander haben, wird verzerrt von Stereotypen und verdunkelt von den Schatten der Vergangenheit. Aber der Schein trügt: Auf vielen Gebieten trägt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit längst Früchte, zum Beispiel in der Wissenschaft. Wie haben sich beide Länder seit 1989 entwickelt? Diesen Fragen gehen Experten aus Tschechien und Österreich in einem Sammelband nach, der vergangene in Prag präsentiert wurde.
Deutschland hat zehnmal mehr Einwohner als Österreich. Wenn aber die Tschechen über sich und ihre Nachbarn nachdenken, dann scheint es fast, als ob ihr Verhältnis zu den Österreichern weitaus interessanter wäre als das zu den Deutschen. Vielleicht gerade wegen der vergleichbaren Größe, und wohl auch aufgrund der gemeinsamen Geschichte in der Habsburgermonarchie.
Jüngstes Beispiel: Am vorigen Freitag titelte die wöchentliche Beilage der Tageszeitung Lidové noviny mit „Unser Österreich-Komplex – Tschechen und Österreicher leben immer noch eher nebeneinander statt miteinander.“ Es folgen acht Seiten über gegenseitige Vorurteile und Stereotypen, über Tschechen in Österreich und Österreicher in Tschechien, über Geschichte und Gegenwart, über Wiener Schnitzel und
böhmischen Kartoffelsalat. Das Problem bei dieser Art von Nabel- und Nachbarbeschau: In dem Maße, in dem Klischeebilder thematisiert werden, werden sie oftmals auch gefestigt. Die Fotos in dem genannten Artikel zeigen etwa neben dem unvermeidlichen Schnitzel auch den Bergdoktor und Kommissar Rex – „österreichische Klassiker“, so der Begleittext.Ganz andere Perspektiven auf das nachbarschaftliche Verhältnis zeigt ein Buch, das am Donnerstag im österreichischen Kulturforum Prag präsentiert wurde: „Tschechien und Österreich nach dem Ende des kalten Krieges. Auf getrennten Wegen ins neue Europa.“ Der Sammelband ist das Ergebnis einer zweisemestrigen Ringvorlesung an der Universität Wien und der Karlsuniversität Prag. Mitherausgeber Gernot Heiss, Historiker am Institut für Geschichte der Universität Wien, zur immer wiederkehrenden Frage der so genannten Beneš-Dekrete:
„Es ist ganz eigenartig: Durch solche Dinge werden alte Vorurteile aus teilweise unerfindlichen oder absurden Gründen immer wieder aktiviert und fallen dann recht schnell auf fruchtbaren Boden.“
Die Beneš-Dekrete, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage für die Enteignung von etwa drei Millionen Sudetendeutschen darstellten, wurden nach dem Ende des Kalten Krieges wieder zum Thema für Historiker aus Deutschland, Österreich und Tschechien. Und auch zum Thema für
populistische Politiker, die der jeweils anderen Seite mangelnde Aufarbeitung der Geschichte vorwarfen. In Österreich etwa habe Jörg Haider die Beneš-Dekrete wieder auf die politische Agenda gesetzt, meint Heiss:„Österreichische Historiker fanden sich bereit zu sagen: ‚Ja, das ist ein Problem, die Tschechen haben darüber noch nie gearbeitet.’ Und das, obwohl die deutsch-tschechische Kommission und auch andere zum Problem der Deutschböhmen und Tschechen Publikation über Publikation herausbringen. Völlig irrsinnig, aber das war nicht mehr wegzubringen. Alle haben dem widersprochen, haben darauf hingewiesen, was da schon alles publiziert wurde, auch auf österreichisch-tschechische Publikationen der Akademie der Wissenschaften. Aber das hat dann nichts mehr genutzt. In der öffentlichen Diskussion war die Sache klar, und plötzlich waren die Beneš-Dekrete ein Thema der Österreicher und der Österreichischen Politik.“
Doch erst vor wenigen Monaten waren die Beneš-Dekrete auch ein Thema der tschechischen Politik: In der Diskussion um die Ratifizierung des EU-Reformvertrags von Lissabon hatte Präsident Václav Klaus eine Ausnahmeklausel bei der EU-Grundrechtecharta erwirkt. Diese soll künftig in Tschechien nicht gelten, weil das darin verbriefte Recht auf Eigentum die Beneš-Dekrete in Frage stelle. Für die meisten Juristen besteht hier
keinerlei Zusammenhang, schon deshalb, weil die Grundrechtecharta keine rückwirkende Gültigkeit hat. Dennoch haben die EU-Partner der Forderung von Klaus schließlich zugestimmt, um eine Ratifizierung des Vertrages zu ermöglichen.Für Jiří Pešek, Professor für deutsche und österreichische Studien an der Karlsuniversität Prag, sind die Beneš-Dekrete aber bestenfalls ein Randthema:
„Wir Tschechen und Österreicher haben gemeinsam so vieles problemlos geschafft, dass die Akzentuierung von solchen Themen wirklich schäbig ist. Das sind nur immer die Wahlkämpfe. Aber die normalen Bürger haben, besonders jetzt in der Krise, wichtigeres zu tun, als sich mit solchen Themen zu beschäftigen.“
Trotz aller positiven Entwicklungen der letzten 20 Jahre stellt sich jedoch auch bei Pešek manchmal Enttäuschung ein. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Bereich von Wirtschaft, Kultur und Politik habe zwar große Fortschritte gemacht, und in jüngster Zeit gebe es auch auf Gebieten wie Forschung, Technologie oder Sozialwesen immer mehr gemeinsame Projekte. Und dennoch:
„Es ist schon etwas bitter, dass sich die Umstände nicht so verändert haben, wie ich es immer gehofft hatte. Die Nachbarn sind für viele Journalisten und Politiker nur wenig interessant. Dabei sollte man bei der Wichtigkeit der österreichisch-tschechischen und deutsch-tschechischen Wirtschaftsbeziehungen über die Nachbarn unvergleichlich mehr wissen. Der moderne Journalismus referiert über die Skandale und Katastrophen, aber die laufende Zusammenarbeit ist keine Nachricht. Außerdem – und ich fürchte, das ist eine Mode des heutigen tschechischen Journalismus – behauptet man, dass die Rolle der deutschen Sprache bzw. die Rolle von Deutschland und Österreich im Rahmen der Europäischen Union und der modernen Welt nicht wichtig ist und entsprechend minimalisiert werden sollte. Das halte ich wirklich für unglücklich.“
Besonders das rückläufige Interesse an der deutschen Sprache ist Pešek ein Dorn im Auge. Wenn Unternehmer aus dem südmährischen Mikulov und der nahe gelegenen österreichischen Hauptstadt Wien sich auf Englisch über ihre Geschäfte unterhalten, oder wenn man vom westböhmischen Domažlice über die Grenze ins bayrische ins Furth im Wald fährt, um dort englisch geschriebene Verträge zu unterzeichnen, dann ist das für den Historiker „Wahnsinn pur“.
„Und das gilt nicht nur für die Wirtschaftsbeziehungen, sondern auch für andere Kooperationen, von der Feuerwehr bis zu den Ärzten. Da müssen sich die Leute gut, klar und schnell verständigen.“
Wer kommunizieren will, meint Pešek, der brauche neben einer gemeinsamen Sprache auch gemeinsame Witze, ein Bewusstsein von der gemeinsamen Alltagskultur. 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs scheint dieses Bewusstsein immer noch recht wenig ausgeprägt zu sein – und doch ist die konkrete Zusammenarbeit auf Gebieten wie Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst weit besser als der Ruf der österreichisch-tschechischen Beziehungen. Eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich.
Gernot Heiss, Kateřina Králová, Jiří Pešek, Oliver Rathkolb (Hg.): „Tschechien und Österreich nach dem Ende des kalten Krieges. Auf getrennten Wegen ins neue Europa.“ Ústí nad Labem: albis, 2009