100 Jahre Ottos Enzyklopädie: Tschechisches Konversationslexikon feiert
Die meisten Schlagwörter, die dicksten Bände und den besten Ruf – dafür steht in Tschechien der Ottův slovník naučný. Auf Deutsch heißt das Werk einfach Ottos Konversationslexikon. Aber nicht nur das, die Enzyklopädie ist auch ein Teil der tschechischen Kultur und ein Grundstein tschechischer Bildung. In diesem Jahr feiert Ottos Konversationslexikon seinen hundertsten Geburtstag - ein kleines Porträt des großen Werks.
Prager Wenzelsplatz 34, die Buchhandlung Academia. Im zweiten Stock stehen in einem Regal eine ganze Reihe brauner Buchrücken nebeneinander.
„Die Grundausgabe von Ottos Konversationslexikon besteht aus 28 Bänden plus zwölf Ergänzungsbände. Die Grundausgabe stammt vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Nachtragsbände sind aus den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Was Sie hier sehen, ist ein Nachdruck, der nicht überarbeitet wurde, also der ursprünglichen Ausgabe entspricht“, so Buchhändler Petr Andjelkovski.
Die Menschen in Tschechien kaufen sich das Werk bis heute noch:
„Der Verkauf hat sich in den letzten Jahren etwas verlangsamt, aber als der Nachdruck Ende der 90er Jahre herauskam, war das Interesse der Leute am Kauf ziemlich hoch – und das, obwohl die Enzyklopädie nie aktualisiert wurde“, so Andjelkovski.
Die Bibliothek der Tschechischen Akademie der Wissenschaften: Dagmar Hartmannová leitet hier den Bereich Ankauf und ist Fachfrau für Enzyklopädien. Über Ottos Konversationslexikon kann sie eine Menge erzählen.
„Ottos Konversationslexikon ist die größte tschechische Enzyklopädie. Es spiegelt die Zeit seiner Entstehung wieder. Jede Enzyklopädie wird von Leuten geschrieben, die in ihrer Zeit verhaftet sind. Sie erfasst nicht nur den Stand von Wissenschaft und Technik zur Zeit ihrer Entstehung, sondern auch die politische Lage. Und sie zeigt auch auf die wirtschaftliche Lage in dem Land, in dem sie entsteht“, sagt Hartmannová.
In den 80er des 19. Jahrhunderts entschließt sich der Unternehmer Jan Otto, ein Konversationslexikon aufzulegen. Die Wahl des Hauptredakteurs fällt ihm nicht schwer: 1885 engagiert er den Philosophieprofessor Tomáš Garrigue Masaryk, den er für geradezu berufen hält. T.G. Masaryk, wie er auch genannt wird, das ist natürlich niemand anderes als der spätere Staatsgründer und erste Präsident der Tschechoslowakischen Republik. Doch Jan Otto sollte sich in ihm täuschen.
„Otto begann Masaryk monatlich ein gewisses Gehalt zu zahlen. Doch war Masaryk nicht nur mit der Herstellung des Konversationslexikons beschäftigt und deswegen zog sich alles immer mehr in die Länge.“
Vor allem aber überwarf sich der spätere Staatspräsident zu dieser Zeit mit vielen einflussreichen Landsleuten. Zwei mittelalterliche Handschriften, die als nationales Symbol der Tschechen galten, bezeichnete er als Fälschungen. Und so waren die Wissenschaftler zerstritten. Masaryk hätte sie aber für ein funktionsfähiges Redaktionsteam gebraucht. Währenddessen begann ein weiterer Unternehmer, ebenfalls eine Enzyklopädie vorzubereiten. Jan Otto bekam nun kalte Füße.
„Das endete so, dass Otto einen Brief an Masaryk schrieb, in dem er kategorisch forderte, dass dieser ihm offen lege, wie weit die Arbeiten an dem Konversationslexikon gediehen seien. Da Masaryk keine befriedigende Antwort leisten konnte, trat er von dem Vertrag zwischen beiden zurück. Leiter der Redaktion wurde nun Professor Josef Kořán. Er begann nun von neuem an dem Projekt zu arbeiten“, erzählt Dagmar Hartmannová von der Akademie der Wissenschaften.
Der erste Band des Konversationslexikon erscheint ein Jahr nach dem Brief an Masaryk, im Januar 1888. Sofort setzt Jan Otto eine groß angelegte und selbst für heutige Maßstäbe moderne Werbekampagne in Gang. Dagmar Hartmannová:
„Die Kampagne hatte Erfolg. Im Programm hatte er sowohl eine billigere Heftform, als auch eine teurere Ausgabe mit festem Einband. Es gab zudem Ständer für das Lexikon und kleine Schränkchen. Und schon damals verkaufte er einfach nur Buchrücken, die man sich als Attrappen ins Regal stellen konnte.“
Mit schöner Regelmäßigkeit erscheinen nun in den nächsten 20 Jahren weitere Bände, bis 1908 die Ausgabe komplett ist. 1909 wird als 28. Band noch eine Ergänzung herausgegeben. Insgesamt ein großer Aufwand:
„Als Autoren oder Redakteure beteiligten sich rund 1100 Mitarbeiter an dem Werk. Zu ihnen gehörten ein Reihe führender Wissenschaftler, Journalisten und Schriftsteller“, nennt Dagmar Hartmannová weitere Zahlen zu der größten tschechischen Enzyklopädie.
1916 stirbt der Herausgeber Jan Otto. Das Unternehmen geht an den Sohn über, der auch 1930 mit der Herausgabe von Ergänzungsbänden beginnt. Das Werk nennt sich nun „Ottův slovník naučný nové doby“, auf Deutsch: Ottos Konversationslexikon der neuen Ära. Doch der Sohn treibt das Familienunternehmen in den Konkurs und die Redaktion geht an den agrarischen Verlag „Novina“ über. Die redaktionelle Leitung für die zwölf Ergänzungsbände hat nun Bohumil Němec inne, ein Biologieprofessor der Prager Karlsuniversität. Der letzte Band erscheint 1943. Doch von 1888 bis in die Zeit der Naziokkupation bewahrte sich ein freiheitlicher Grundcharakter der Enzyklopädie, wie Dagmar Hartmannová von der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften erläutert.
„Ottos Konversationslexikon entstand in einer Zeit der Demokratie und konnte alles beinhalten. Nur durfte dort keine Beleidigung des Kaiserhofs auftauchen oder der Regierungsschicht.“
Wie sahen aber jene Ergänzungsbände aus, die bereits während der deutschen Besatzung herauskamen. Hat das nicht den Inhalt beeinflusst?
„In der Zeit des Zweiten Weltkriegs war tatsächlich ein Zensor eingesetzt, der versuchte, alle Stichwörter zu lesen. Vielleicht war er einfach nicht gründlich oder hat sich mit dem Lexikon nicht ganz so intensiv auseinander gesetzt. Zwar wurde bei einigen Personen hinzu geschrieben: jüdischer Abstammung. Aber sie wurden, auch weil der Zensor wohl nicht so gut Tschechisch konnte, nicht gestrichen.“
Obwohl die Entwicklung in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik schon längst an Ottos Konversationslexikon vorbeigerauscht ist, gibt es bisher nichts vergleichbar Umfangreiches auf dem tschechischen Markt. Dies bestätigt auch Buchhändler Petr Andjelkovski.
„Konkurrenz sollte Ottos Konversationslexikon durch die Herausgabe eine Übersetzung der französischen Enzyklopädie Diderot erhalten. Wegen des hohen Kostenaufwands und des zugleich kleinen tschechischen Marktes wurden nur zwei Bände veröffentlicht. Dann wurde dies eingestellt und der Diderot erschien in einer kleineren, achtbändigen Ausgabe ungefähr im Jahr 2002. Das ist die einzige ernst zu nehmende Konkurrenz, die aber dennoch nicht an Ottos Konversationslexikon heranreicht, das ja insgesamt 40 Bände umfasst.“