3. September 1968: Unerfreuliche Überraschung beim Rundgang durch Prager Funkhaus
Es sind schon über 17 Jahre vergangen, seit die Sowjetarmee, die am 21. August 1968 die Tschechoslowakei besetzt hatte, das Land im Frühjahr 1991 wieder verließ. Die Beseitigung der von ihr angerichteten Schäden – wie zum Beispiel die durch Chemikalien oder Öl verursachte Verseuchung des Bodens, tonnenschwere Berge nicht explodierter Munition und vieles mehr – hat bisher über eine Milliarde Kronen (über 40 Millionen Euro) gekostet. Weitere Investitionen aus dem tschechischen Haushalt sind noch zu diesem Zweck vorgesehen. Nicht unbeschadet geblieben war vor 40 Jahren auch das Gebäude des Tschechoslowakischen Rundfunks in Prag. Aus aktuellem Anlass des traurigen Jubiläums können sie sich jetzt in die Zeit zurück versetzen, als das Schiessen um und im Prager Funkhaus endlich verstummte.
Es ist der 3. September 1968. Prokurator Karel Pešta bereitet sich auf einen Rundgang durch das Rundfunkgebäude vor, um ein Protokoll über die von russischen Soldaten verursachten Schäden zu erstellen. Für die Tonaufzeichnung des Protokolls ist der Mitarbeiter des Tschechoslowakischen Rundfunks, Miroslav Šach, zuständig. Damals war er 27 Jahre alt. 40 Jahre später erinnert er sich:
„Kaum jemand hatte Lust, den Rundgang zu machen. Ich auch nicht. Damals hat sich nämlich rumgesprochen, dass die Russen vor ihrem Abgang aus dem Haus die Kellerräume vermint hätten. Doch niemand wusste, wo der Sprengstoff sein könnte. Letztlich habe ich gesagt, gut, ich komme mit.“
Vorneweg geht ein Minensuchteam, der Prokurator Pešta folgt ihnen und führt seine Inspektion durch:
„Garderobe der Heizer, ziemlich große Unordnung im Zimmer, alle Kleiderschränke mit Sachen des Personals aufgebrochen,“...
sagt Pešta in das Mikrophon, das ihm Herr Šach vorhält. Er hat bis heute die ganze Trasse des Rundgangs genau vor Augen:
„Zunächst wurden die Räumlichkeiten im Untergeschoss besichtigt – zum Beispiel die Werkstätten der Tischler, Schlosser und andere. Es wurde keine Sprengladung gefunden, und so konnten wir dann alle durchatmen. Es ging weiter von Zimmer zu Zimmer.“
Nach einer ersten Inspektion des desolaten Hauses fasste Karel Pešta für das Protokoll zusammen: „In allen Zimmern beträchtliche Unordnung.“
Miroslav Šach fügt ein kurioses Detail hinzu:
„Die Klomuscheln in den Toilletten haben die Soldaten offenbar als Waschbecken verwendet, denn das, was normalerweise in die Toilette gehört, lag überall auf dem Fussboden.“
Auch der beauftragte Staatsanwalt gibt im Laufe der Visitation einige Details zu Protokoll:
„Der Mitarbeiter des Rundfunks, der Techniker Miroslav Sehnoutka, kam im Laufe der Untersuchung mit einem Geigenteil, das er in unmittelbarer Nähe des Rundfunksgebäudes gefunden hat und das anscheinend aus dem Fenster geworfen wurde. Wie dem Schild im Inneren des Instruments zu entnehmen ist, handelt es sich um eine Geige der Werkstatt Josef Antoni, Jahresangabe 1754. Auf dem Geigenholz steht in kyrillischer Schrift geschrieben: Frunze, mein Haus, UdSSR, und darunter ´Molodjez´.“
Ein beliebtes Wort im Russischen. Es geht um eine Bezeichnung etwa im Sinne von „Prachtkerl“ oder „tüchtiger Junge“. Folgen wir aber weiter dem Inspektionsteam, das im Gebäude des Tschechoslowakischen Rundfunks die von russischen Invasionssoldaten hinterlassenen Spuren untersuchte. Gleich im ersten Stock und anschließend auch in den höheren Etagen erlebt es einen Schock. Alle Türen und Schreibtische in den Büros sind aufgebrochen und die Schubladen ausgeraubt. Der Prokurator Pešta gibt kurz und bündig zu Protokoll:
„Die Fenster mehrfach durchschossen, in den Wänden und Zimmerdecken zahlreiche Schussspuren.“In einem der Büros arbeiteten vor dem Einmarsch der russichen Truppen Karel Kyncl und Věra Šťovičková-Heroldová, die in den 50er und 60er Jahren zu den bekanntesten Auslandskorrespondenten des Tschechoslowakischen Rundfunks gehörten. Die 78-jährige Věra Šťovičková-Heroldová erinnerte sich später in einem Studiogespräch daran, in welchem erbärmlichen Zustand sie und ihre Kollegen die Büros der Auslandsredaktion vorgefunden hatten:
„Die Wände waren von Geschossen buchstäblich durchsiebt. Eine Weile haben wir uns den Kopf darüber zerbrochen, ob die Kugeln von draußen herein geflogen waren oder ob sich die Jungs einfach in dieser Weise drinnen amüsierten. Als sich dann jeder von uns seinen Schreibtisch anschaute, wollten wir weinen.“
Im Büro Nummer 212 wird bei der Inspektion ein aufgebrochener Tresor entdeckt. Für die Dokumentation wird eine Fotoaufnahme gemacht. Věra Šťovičková-Heroldová weiß mehr:
„Dort befand sich ein Tresor, der ursprünglich geschlossen war, und den zu knacken, muss schon ´ein bisschen´ Mühe gekostet haben. Die in dem Tresor deponierten Dokumente sind dort aber unversehrt liegen geblieben. Verschwunden sind nur zwei Sachen. Erstens eine Flasche Schnaps. Es war ein Mitbringsel von unserem Redaktionskollegen, der uns zum Abschluss seines Auftrags als Auslandskorrespondent in Berlin etwas Ungewöhnliches schenken wollte. Es war aber etwas ziemlich Abscheuliches, nämlich eine Flasche Vodka, in der Stückchen eßbaren Staniols schwammen. Und die zweite Sache, die aus dem Tresor verschwand, war ein Tonband, das einzige von vielen anderen. Wir mochten es aber sehr. Auf dem Tonband, das unser Kollege Luboš Dobrovský aus Moskau mitgebracht hatte, war ein satirisches Programm auf Russisch zu hören. Das wollten aber offenbar auch die Sowjets behalten, nachdem sie die Flasche mit Staniol-Vodka austranken.“
Es war ungefähr fünf Uhr morgens. Die Untersuchung des Rundfunkgebäudes dauerte bereits elf Stunden. Auf der historischen Tonbandaufnahme ist die ermüdete Stimme des Prokurators zu hören. Plötzlich tritt eine kurze Stille ein, an der offensichtlich etwas gelöscht wurde. Zwei Sekunden später spricht schon wieder Karel Pešta, seine Stimme klingt aber anders – auf einmal munter. Miloslav Šach erzählt, was damals pasiert ist.
„Wir waren fast am Ende unseres Rundgangs. Im Treppenhaus hörten wir auf einmal ein Getrampel und auch Geschrei, dann tauchten rund fünf Soldaten mit einem Offizier auf und brüllten uns auf Russisch an, dass wir dort nichts zu suchen haben, keine Fotos machen dürfen und ähnliches mehr. Man hat uns befohlen, sich an die Wand zu stellen, und dann kamen die Soldaten auf uns zu. Für mich war es ein Schock. Mit uns war damals auch Frau Stránská von der Abteilung für internationale Beziehungen, die in bestem Russisch erklären konnte, dass wir nichts Böses anstellten und eine Genehmigung für die Hausinspektion hatten. Schließlich durften wir einen anderen russischen Offizier herbeirufen, der bestätigte, dass alles in Ordnung ist.“
Wer nicht dort war, der kann es nicht glauben, sagt heute Herr Šach. Er habe versucht, seinen Kindern über die damalige Situation zu erzählen, aber sie hätten ihn nicht verstanden. Abschließend stellt er mit einem leicht verbitterten Lächeln fest:
„Viele junge Menschen wissen heute gar nicht, was im Jahr 1968 passiert ist. Die Erinnerung daran ist aber schrecklich.“