31 Jahre Samtene Revolution: Zum Stand der Demokratie in Tschechien
Seit 1989 der Eiserne Vorhang in Europa fiel, macht die Demokratie in den transformierten Gesellschaften mal mehr und mal weniger große Fortschritte. Freie Wahlen und Meinungsfreiheit allein ergeben noch keine souveräne Gemeinschaft. Auch in Tschechien suchen Regierung und Gesellschaft weiter nach einer angemessenen Form des gemeinsamen Dialogs. Transparenz ist dabei ein aktuelles Thema. Noch immer wird die tschechische Öffentlichkeit nicht ausreichend darüber informiert, auf welcher Grundlage politische Entscheidungen im Staat getroffen werden. Und auch bei der Bürgerbeteiligung gibt es noch Reserven.
Transparenz, Recht auf Information, Dialog und Partizipation sowie verantwortungsvolles Handeln – das sind Werte, die einer Demokratie zugeschrieben werden. Eine Selbstverständlichkeit sind sie hingegen nicht. Zeugnis dafür liefert die Geschichte der ostmitteleuropäischen Länder nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – sie zeigt, wie schwierig es ist, gerechtes politisches Handeln zu erlernen und einen respektvollen, konstruktiven Streit zu führen. Aber nicht nur im ehemaligen Ostblock müssen demokratische Prozesse immer wieder neu eingefordert und geschützt werden.
76 Staaten der Welt haben sich bisher in einem Netzwerk mit dem Namen „Open Government Partnership“ (OGP) zusammengeschlossen. Diese Partnerschaft soll offenes Verwaltungs- und Regierungshandeln garantieren und wurde im September 2011 von der Uno-Vollversammlung ins Leben gerufen. Tschechien hat sich noch im gleichen Jahr angeschlossen. František Kučera ist Ministerialrat in der Anti-Korruptions-Abteilung im tschechischen Justizministerium und koordiniert die Aktivitäten im Rahmen der OGP:
„Es geht dabei um die Idee der offenen Regierung hinsichtlich einer guten Kommunikation mit den Bürgern und einer zugänglichen Verwaltung. Dazu gehört eine bessere Sichtbarkeit und ein höheres Verantwortungsbewusstsein der Regierung. So soll sich das Verhältnis zwischen Regierung und Bürgern verbessern und dadurch mehr Vertrauen entstehen.“
In den westlichen demokratischen Staaten ist der Begriff des Open Government der breiten Öffentlichkeit durchaus geläufig. In Tschechien ist sein Konzept bisher noch Nischenwissen und die Angelegenheit von einigen wenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Dazu gehört zum Beispiel das hiesige Büro von Transparency International. Jana Stehnová arbeitet als Projektleiterin zum Thema Korruption und nimmt regelmäßig an den Arbeitstreffen beim Open Government Partnership teil:
„Die Idee des Open Government hat für eine demokratische Gesellschaft eine große Bedeutung. Das ganze Konzept baut auf dem Gedanken auf, dass die Bürger eines Landes ein Recht auf Information haben. Das bezieht sich vor allem auf Informationen zu Regierungsentscheidungen, von denen sie unmittelbar betroffen sind.“
Darum nimmt ein öffentlicher Zugang zu Verwaltungsdaten, Statistiken oder etwa strategischen Dokumenten eine zentrale Rolle ein bei den Bemühungen um eine transparente Regierungsarbeit. Open Data ist das international gängige Schlüsselwort. Das tschechische Innenministerium hat 2015 den Nationalen Katalog offener Daten eingerichtet. Damit wurde eine grundlegende Verpflichtung erfüllt, die Tschechien mit seiner Mitgliedschaft im Open Government-Netzwerk OGP eingegangen war.
Fehlende Disziplin bei Veröffentlichung von Daten
Die einzelnen Ziele und Aufgaben legt jedes Mitgliedsland der OPG in eigenen Aktionsplänen fest, und diese gelten jeweils für zwei Jahre. Die Regierung in Prag hat Anfang November ihren fünften Aktionsplan für den Zeitraum 2020 bis 2022 verabschiedet. Der gerade abgeschlossene vierte Aktionsplan war thematisch ausgerichtet unter anderem auf eine transparente Justiz, den Kampf gegen Korruption, den Schutz von Whistleblowern und den Zugang zu Bildung. František Kučera benennt die Erfolge:
„Fortschritte gab es zum Beispiel in den langfristigen Bemühungen im Bereich offener Daten, also die Veröffentlichung von Daten aus der Verwaltung. Es wurden erfolgreich Informationen über Schulen und Bildungseinrichtungen Tschechiens veröffentlicht oder auch Erkenntnisse der Schulinspektion. Damit haben wir einen thematischen Komplex fortgeführt, den wir langfristig verfolgen.“
Die Fokussierung auf einzelne Verwaltungsbereiche und die Einforderung von Daten ist durchaus notwendig, denn nicht alle staatlichen Institutionen zeigen die gleiche Disziplin bei der Nutzung des öffentlichen Datenkatalogs. Unlängst wurden etwa die Universitätskliniken des Landes dafür kritisiert, dass sie ihre Ausgaben und Einkäufe nicht umfassend dokumentieren. Und auch in der Corona-Krise fehlen Daten. So war lange nicht klar, auf welcher Grundlage die Regierung ihre Sondermaßnahmen erlässt, die die Bevölkerung wesentlich in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. Bis Oktober lagen keine verlässlichen Informationen darüber vor, wo sich das Virus vorrangig ausbreitet. Und so kamen Zweifel auf, ob Anordnungen etwa zur Schließung von Schulen oder Restaurants auf Daten basieren oder aber willkürlich getroffen wurden und gar nicht den gewünschten Effekt haben würden.
Jana Stehnová weist auf einen weiteren wichtigen Aspekt in puncto Open Data hin:
„Was ich allgemein für wichtig halte, ist nicht nur die Frage, welche Daten zu veröffentlichen sind, sondern welche Daten überhaupt gesammelt werden sollen. Uns fehlen immer noch viele Statistiken und eine Datenbasis zum Beispiel im Zusammenhang mit öffentlichen Ausschreibungen im Bereich Geschlechtergleichheit. Das ist ein großes Fragezeichen. Davon hängt dann auch eine längerfristige Strategie zur Öffnung des Staates ab.“
Dem kann Marta Smolíková nur zustimmen. Als Vorsitzende der Tschechischen Frauenlobby ist sie ebenfalls im Open Government Partnership engagiert. Ihre Organisation hat zum Beispiel beim Thema häusliche Gewalt kaum verlässliche Statistiken zur Verfügung:
„Das ist wichtig, damit das Problem überhaupt aufgezeigt wird. In den EU-Ländern sind die Zahlen ziemlich alarmierend. Sie besagen, dass jede dritte Frau in ihrem Leben mit häuslicher Gewalt konfrontiert wird. In Tschechien ist das wahrscheinlich nicht anders. Aber hier werden diese Daten nicht systematisch erhoben. Es ist nötig, dass die Gesellschaft in diesem Bereich aktiv wird.“
Das Thema Open Government ist in Tschechien auch eng mit der Korruptionsbekämpfung verbunden. In allen Aktionsplänen nahm und nimmt das Problem eine zentrale Rolle ein. Jana Stehnová sieht hierbei aber noch große Reserven:
„Für Transparency International ist ein Schwerpunktthema die Korruption. In diesem Jahr sollte eine Reihe von Antikorruptions-Gesetzen erlassen werden. Das ist nicht geschehen. Uns fehlt etwa ein Gesetz zum Schutz von Menschen, die betrügerisches Verhalten melden, zu sogenannten Whistleblowern. Dabei war das eine der Verpflichtungen im vierten Aktionsplan. Die Tschechische Republik hat noch keine Fortschritte in diesem Bereich gemacht. Es ist nicht gelungen, das Thema des Whistleblowerschutzes in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Einen großen Anteil daran haben eindeutige Versäumnisse von Seiten der Regierung und des Abgeordnetenhauses.“
Staat bezieht Bürger zu wenig ein
Dieses Vorhaben ist nun in den fünften Aktionsplan verschoben worden. Der wurde, wie es im Rahmen der Open Government Partnership üblich ist, von einer entsprechenden Kommission erarbeitet. Diese Arbeitsgruppe trifft sich viermal im Jahr und sorgt für die Umsetzung der gestellten Aufgaben. Mit dem gerade abgeschlossenen vierten Aktionsplan bekam das Gremium eine größere Bedeutung und wurde um einige Sitze für Nichtregierungsorganisationen (NGO) erweitert. In diesem Arbeitskreis wird das Prinzip der Partizipation umgesetzt. František Kučera:
„In der Arbeitskommission und dem ganzen Prozess zur Erstellung der Aktionspläne hat die Zivilgesellschaft einen gleichrangigen Platz wie die Regierungsseite. Die Kommission besteht zur Hälfte aus Vertretern jeweils des Regierungs- und des NGO-Sektors. Wir sehen die Vertreter der Zivilgesellschaft dort als unsere Diskussionspartner.“
Die Bürgerbeteiligung findet hier also in Vertretung durch die NGOs wie etwa der Tschechischen Frauenlobby oder Transparency International statt. Eine direktere Ebene hat der Dialog zwischen Staat und Gesellschaft, also die Demokratie in Tschechien noch nicht erreicht. Jana Stehnová:
„Da es in der breiten Öffentlichkeit noch kein Bewusstsein für diese Möglichkeiten gibt, ist es sehr schwierig, die Menschen dafür zu interessieren. Es ist schwer, Bürger und Staatsverwaltung miteinander zu verbinden. Auf regionaler und kommunaler Ebene funktioniert das in Tschechien besser. Das ist das natürliche Umfeld für die Menschen, und sie interessieren sich für das Geschehen in ihrer Gemeinde. Auf der höheren, zentralen Ebene ist das Interesse sehr gering.“
Marta Smolíková lokalisiert das Problem aber auch auf der anderen Seite:
„Bei der Bürgerbeteiligung liegt das Hauptproblem im Desinteresse der staatlichen Verwaltung, Anregungen aufzunehmen und Raum dafür zu schaffen, dass sich die Zivilgesellschaft einbringen kann. Das ist das größte Hindernis für ein Engagement der Bürger.“
Jana Stehnová sieht das Land in Sachen Transparenz und Bürgerbeteiligung im Jahr 31 nach der Samtenen Revolution „auf halber Strecke“. Im fünften Aktionsplan der OGP wurde nun als neue Verpflichtung festgehalten, eine Methodik zur Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Vorbereitung strategischer Pläne zu erarbeiten. Damit sollen Bürgervertretungen besser informiert und einbezogen werden, zum Beispiel in die Entscheidungen der einzelnen Ministerien zur Verteilung von EU-Geldern.
Marta Smolíková wünscht sich für die Zukunft außerdem eine Erweiterung des öffentlichen Datenkatalogs:
„Dort gibt es noch eine ganze Reihe Reserven, was nutzbare Daten angeht. Uns interessieren zum Beispiel Rechtsfälle und Urteilssprüche zu Fragen der Diskriminierung. Das Urteilsregister wird bisher nicht komplett veröffentlicht, da gibt es noch technische und organisatorische Probleme.“
Smolíková fügt mit einem Seufzer hinzu, dass es für diese und weitere Anliegen im Demokratisierungsprozess einen langen Atem bräuchte.