380.000 Volt Hoffnung - Die abenteuerliche Flucht des Robert Ospald
Vor dem Fall der kommunistischen Regime in Osteuropa versuchten viele Tausende Menschen in den Westen zu fliehen. Meist unter hohem Risiko und oft ohne Erfolg. Wir jedoch wenden uns nun dem Fall eines Mannes zu, der die Flucht geschafft hat. Im Jahr 1986 ist es Robert Ospald gelungen, auf besonders spektakuläre Weise aus der damaligen Tschechoslowakei nach Österreich zu fliehen, wo er bis heute lebt. In einem Kaffeehaus an der Wiener Ringstraße hat sich Gerald Schubert mit ihm getroffen:
Robert Ospald gelang es nicht, im kommunistischen System zu leben. Einem schizophrenen System, sagt er, das den Menschen eine heile Welt vorgaukelte und sie gleichzeitig hinter dem Eisernen Vorhang, hinter Stacheldraht und Minenfeldern gefangen hielt. Immer wieder geriet er in Konflikt mit den Behörden. Er galt als aufmüpfig, als asozial, und er hatte Angst vor dem Machtapparat. Fluchtpläne hatte er schon viele geschmiedet, doch die entscheidende Idee kam ganz spontan:
"Irgendwann fährst du mit dem Bus und denkst nach. Und du denkst dir: Da komme ich nie hinaus. Du schaust unglücklich aus dem Fenster, und siehst, dass parallel zur Straße eine Hochspannungsleitung läuft. Gedankenverloren gleitest du mit dem Blick von einem Mast zum anderen, die Leitung entlang. Irgendwann kommst du an den Horizont. Und in dem Moment hast du die Idee."
Gemeinsam mit seinem Freund Frenky will er eine Art Sessellift konstruieren, und damit flüchten - über eine Blitzschutzleitung, die normalerweise keinen Strom führt. Letzteres ist ihm wichtig. Eine österreichische Boulevardzeitung hatte nämlich später von einer Flucht auf der 380.000-Volt-Leitung berichtet. Ein paar vierzehnjährige Jungen wollten die Flucht nachspielen, einer verlor dabei sein Leben.
Mehr als sechs Monate lang sammelte Robert Ospald Material und bastelte im Verborgenen. Dabei entwickelte er immer mehr Erfindergeist:
"Die Rolle, auf der das Wägelchen hing, war noch durch zwei andere Rollen von links und rechts umschlossen. Darunter war dann die ganze Konstruktion mit dem Sessel, auf dem man sitzt. Die eine Seite konnte man öffnen und wieder schließen, und so war das Seil oben in einer Art Rahmen eingeschlossen. Es war praktisch unmöglich, dass das Seil aus dem Rad herausspringt. Und wäre es herausgesprungen, dann wäre es trotzdem in dem Rahmen geblieben und hätte von selbst sofort wieder auf das Rad zurückspringen müssen."
Trotz aller Sorgfalt: Die ersten beiden Versuche schlagen fehl. Einmal passen die Wägelchen nicht, einmal hängen sie zu weit unten. Robert Ospald und Frenky können das Seil nicht erreichen, um sich vorwärts zu ziehen. Erst beim dritten Versuch klappt es. In einer stürmischen Gewitternacht hängen die Beiden ihre Sitzkonstruktionen im südmährischen Grenzgebiet auf das Seil und beginnen, Richtung Österreich zu rollen. Als die Grenzbefestigungen langsam hinter ihnen verschwinden, bedeutet das noch nicht die Freiheit. Denn der Eiserne Vorhang war ins Landesinnere versetzt, unter ihnen immer noch tschechoslowakisches Staatsgebiet:
"Das war so eine Art eine Pufferzone, wo sie Flüchtlinge noch erschießen konnten, ohne mit dem Nachbarland Schwierigkeiten zu bekommen", sagt Ospald.
Auch als sie schließlich wieder festen Boden unter den Füßen haben, wissen die Beiden immer noch nicht genau, ob sie schon in Österreich sind. Sie haben Angst, im Kreis zu gehen, erschrecken vor einem Strohhaufen auf einem Feld. Irgendwann kommen sie zu einer Straße, sehen eine Tafel mit einer deutschsprachigen Aufschrift. Robert Ospald und Frenky verstehen kein Wort. Doch sie verstehen, dass sie es geschafft haben.
"Der erste Mensch, den wir getroffen haben, war ein Polizist", erzählt Robert Ospald. Dieser stand in einem dunklen Hauseingang, geschützt vor dem strömenden Regen. Besser, wenn wir uns selbst melden, sagte Ospald zu seinem Begleiter. Beide sprachen außer Tschechisch nur etwas Englisch, Polnisch und Russisch. Der Polizist nur Deutsch.
"Ich habe gesagt: Tut mir leid, Deutsch verstehe ich nicht. Da hat er mit der Schulter gezuckt. Ich habe auch mit der Schulter gezuckt und habe gesagt: Frenky, vielleicht können wir gehen, vielleicht haben wir die Chance, zu verschwinden. Denn vor Polizisten zu verschwinden, das war immer das Wichtigste. So hat man das im Kopf, nach so vielen Jahren im Kommunismus. Aber genau in dem Moment kam ein Polizeiauto. Ich habe gedacht, er hat sicher irgendein Funkgerät, das wir nicht gesehen haben, und hat Verstärkung gerufen. Und jetzt sind wir geliefert. Aber er setzt sich in das Auto, das Auto dreht um, und sie fahren weg. Das waren seine Kollegen, die ihn zur Arbeit gebracht haben. Für uns war das ein ziemlich starker Schock von Freiheit."
Die beiden stellen sich später ein zweites Mal der Polizei, die bringt sie schließlich in das Flüchtlingslager Traiskirchen. Frenky wandert bald darauf nach Amerika aus. Robert Ospald bleibt in Österreich.
"Hätte ich gewusst, dass drei Jahre später die Russen ihre Panzer schnappen, sie auf Züge schmeißen und zurückfahren, dann wäre ich sicher nicht geflüchtet."
Die Erfahrung aber, die er dann bei der Flucht gemacht hat, stellt diesen Gedanken in ein anderes Licht. Ospald erinnert sich wieder an den Polizisten im Hauseingang:
"Ein Österreicher sieht vielleicht nur: Der Polizist hat mich im Regen stehen lassen. Aber für mich war es das größte Geschenk, das ich von diesem Polizisten bekommen konnte. Er hat mich nicht mitgenommen, sondern er ließ mich stehen: Mach, was du willst, mich stört es nicht! Hätte ich gewusst, dass mich so ein Gefühl hier erwartet, dann wäre ich geflüchtet - auch wenn ich gewusst hätte, dass drei Jahre später die Russen weggehen."
In Österreich wartet Robert Ospald zwei Jahre lang auf politisches Asyl. Erst 1992, als er auch einen österreichischen Pass hat, fährt er zum ersten Mal nach Tschechien zurück. Zunächst wollte er in der Nähe seiner Mutter ein Haus bauen, damit er sich später einmal um sie kümmern kann.
"Dann bin ich öfter nach Tschechien gefahren. Aber immer nach zwei Tagen war mir das so fremd - ich kann das gar nicht beschreiben. Es ist mir fremd geworden. Immer wenn ich nach Tschechien gefahren und dann wieder nach Wien gekommen bin, bin ich mir vorgekommen wie ein Mensch, der aus dem Exil nach Hause zurückkehrt."
Wenn Robert Ospald heute an seine Flucht denkt, dann weiß er: Der schwierigste Augenblick war der Abschied von seiner kleinen Tochter. Just an jenem Tag, erzählt er, wollte sie ihn nicht gehen lassen. Er versprach ihr eine Katze. Dann einen Hund. Erst, als er ihr ein Pferd versprach, gab sie ihn frei und ließ ihn laufen.
"Als ich die Treppen hinuntergegangen bin, hat sie die Wohnungstür geöffnet und hat mir nachgerufen: Papa, ich will kein Pferd! Ich habe es mir überlegt, ich will ich dich! Das war meine zweite Flucht, und zwar die viel schlimmere. Ich bin geflüchtet, die Stiegen hinunter, kopflos. Und ich muss sagen: Bis heute fühle ich mich mies, wenn ich mich daran erinnere."
Heute ist Robert Ospald 53 und arbeitet für eine Klimatechnikfirma in Wien. Über seine Flucht hat er ein Buch geschrieben. Die deutsche Übersetzung des Titels: 380.000 Volt Hoffnung oder Ich kaufe dir ein Pferd. Leider gibt es das Buch nur auf Tschechisch. Zurzeit schreibt er an einem neuen Roman, diesmal über seine Erfahrungen in der Emigration. Manchmal will er das Schreiben aufgeben. Aber:
"Ich weiß, es ist ein Traum. Vielleicht hilft es den Menschen aber doch nachzudenken, wenn sie sehen, dass ein neues totalitäres Regime auf uns zukommt: Sollen wir uns nur so durch den Strom tragen lassen, oder sollen wir uns querstellen? Rechtzeitig querstellen!"