Schulverein Komenský – 150 Jahre tschechische Bildungsideale in Wien
Der Schulverein Komenský hatte sich im 19. Jahrhundert für die Einrichtung von tschechischen Schulen in Wien eingesetzt. Der heutige Vereinsobmann, Karl Hanzl, spricht in einem Interview mit Radio Prag International über die Geschichte, aber auch über das heutige Leben der tschechischen Volksgruppe in Wien.
Herr Hanzl, 2022 ist ein ganz besonderes Jahr für das Leben der Tschechen und Slowaken in Wien. Warum?
„Einerseits feiert der Schulverein Komenský sein 150-jähriges Bestandsjubiläum. Deswegen wurde, in Zusammenarbeit mit tschechischen und slowakischen Vereinen in Wien, das Jahr zum ‚Jahr der Tschechen und Slowaken‘ ausgerufen, und jetzt feiern wir alle gemeinsam. Wir haben zwei Drittel des Jahres hinter uns, und es hat sich sehr bewährt.“
Was wurde im Rahmen des Jubiläumsjahres schon veranstaltet?
„Insgesamt hatten wir bis jetzt 30 Veranstaltungen mit über 8000 Teilnehmern und Mitwirkenden. Die größten Veranstaltungen waren einerseits das Ausrufen des Jahres Anfang Januar, das war genau der Tag, an dem 1872 die Gründungsurkunde des Vereines unterschrieben wurde. Dann haben wir an markanten Orten Österreichs und der Tschechischen Republik Jugendlichen die Möglichkeit gegeben, Feierlichkeiten zu erleben. Es gab einen Gottesdienst im Stephansdom mit 700 Teilnehmern, der dann im Prager Veitsdom noch einmal wiederholt wurde. Zudem hatten wir mit 750 Personen ein festliches Mittagessen im Wiener Rathaus. Und dann haben wir mit einer Jahresabschlussakademie auf der Prater Bühne mit 1000 Zuschauern gefeiert. Ja und jetzt, nachdem das ‚Schweizerhaus‘ auch zu einem markanten Punkt für die Wiener Tschechen und Slowaken geworden ist, gab es dort ein festliches Mittagessen.“
Das Zusammenleben der Tschechen und Slowaken ist in diesem Jubiläumsjahr dank der Veranstaltungsreihe wohl intensiver als sonst. Welche sind die wichtigsten Vereine? Wie läuft das tschechische Leben in Wien?
„Die Tschechen haben in Wien eine fast 200 Jahre alte Tradition. Vor der damaligen Zuwanderung vor 150 Jahren war das Hauptthema, einen Schulverein zu gründen, um die Kinder in der Muttersprache unterrichten zu können. In dieser Zeit und in den Jahrzehnten danach sind sehr viele Vereine entstanden: Die stärksten waren sicher die Sokol-Vereine – von denen hat es 23 gegeben, in jedem Wiener Bezirk einen. Weiter wären dies ‚Tschechisches Herz‘, Gesangsvereine, Theatervereine, andere Sportvereine. Also alles, was es auch in Tschechien traditionell gegeben hat. Vieles davon hat sich bis in die heutigen Tage gehalten. Und mit den vielen gemeinsamen Aktionen gelang es auch, den Mitgliederstand zu erhöhen und vor allem weitere junge Mitglieder zu motivieren, in den Vereinen mitzuwirken. Da hat der Schulverein in den letzten 30 Jahren wichtige Arbeit geleistet.“
Kampf um tschechische Schule in Wien
Kommen wir zu den Anfängen des Schulvereins. Sie haben die Gründungsurkunde 1872 erwähnt. Unter welchen Umständen wurde der Verein damals ins Leben gerufen? Von wem wurde die Gründung initiiert?
„Während der Monarchie hat es einen großen Zulauf von tschechisch, slowakisch und mährisch sprechenden Menschen in die Hauptstadt gegeben. Sie haben Arbeit bekommen und waren in vielen handwerklichen Gewerben tätig. Sie hatten aber nicht die Möglichkeit, außer zu Hause und in den Vereinen die tschechische Sprache weiterzugeben. Und weil es auch keine tschechischen Schulen in Wien gab und nur auf Deutsch unterrichtet wurde, war halt das große Bestreben in allen Schichten, den Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, in der Schule Tschechisch zu erlernen. Das war der Grund für die Gründung 1872.“
Der Vereinsgründung folgte dann auch die Gründung der ersten Schule?
„Das hat dann schon noch eine Weile gedauert. Am Anfang gab es nur Nachmittagsschulen oder ergänzende Schulen in Gasthöfen und in angemieteten Räumlichkeiten. Es hat dann weitere zwanzig Jahre gedauert, bis 1892/93 überhaupt die Sammlungen soweit gediehen waren, dass man ein Grundstück kaufen konnte und die erste Volksschule errichtet hat. Um die Jahrhundertwende gab es in Wien rund 300.000 Tschechen, Wien war nach Prag die zweitgrößte tschechische Stadt. Wie so oft in der Geschichte, wenn eine Volksgruppe einfach größer wird, hat es auch hier Gegenbewegungen dazu gegeben, dass die Tschechen ihre eigenen Schulen bekommen. Man ist da in der Verwaltung und im Parlament, im Stadtparlament nicht immer auf Zustimmung gestoßen. Vor dem Ersten Weltkrieg konnte sich de facto nichts so wirklich entwickeln, da wurden Schulen geöffnet und wieder zugenagelt. Der Bürgermeister von Wien, Lueger, war ein Gegner der Tschechen.“
Soweit ich weiß, lebten die Tschechien damals in Wien vor allem im Favoriten-Viertel. Gab es dort auch die ersten Schulen?
„Die erste Schule war im 10. Bezirk. Das ist Favoriten, ja. Dies war verständlich, weil durch die Entfernung der Gemäuer und des Linienwalls 1870 neuer Raum entstanden ist. Auf diesen freien Flächen konnten neue Wohngebäude errichtet werden. Den meisten freien Raum gab es zu dieser Zeit in Favoriten. Nach der Ankunft der neuen Bewohner Wiens, vor allem Tschechen und Slowaken, ist dort so etwas wie ein großes Zentrum der Tschechen entstanden. Ich wohne heute noch dort.“
Jetzt sitzen wir aber in der Schule auf dem Sebastianplatz im 3. Bezirk. Ist das hier ein neues Zentrum der Tschechen? In der Kirche am Rennweg gibt es auch tschechische Messen. Konzentriert sich das tschechische Leben in dieser Gegend?
„Die Schule, in der wir uns jetzt befinden, wurde 1934 errichtet. Sie war der letzte große Schulbau, den die Wiener Tschechen über die Bühne gebracht haben. Danach war es vorbei. D älteste Gebäude, das noch im Schulbetrieb ist, ist das Haus aus dem Jahr 1912 in der Schützengasse, ebenfalls im 3. Bezirk. Und es befindet sich neben der tschechischen Kirche. Also wenn Sie so wollen, dann war der 3. Bezirk, also Landstraße, einer der Stadtteile, der kulturell, bildungsmäßig und auch religiös herausgehoben wurde.“
Zwischenkriegszeit - goldenes Zeitalter
Sie sagten, zur Zeit der Monarchie bis 1918 sei das tschechische Schulwesen nicht gefördert worden. Kam nach der Gründung der Republiken eine Wende?
„Auf jeden Fall. Das goldene Zeitalter des Komenský-Schulwesens in Österreich ist sicher die Zwischenkriegszeit, also 1919/1920 bis 1934. Danach gab es den Ständestaat in Österreich, und der weitere Verlauf im Zweiten Weltkrieg ist ja bekannt. In dieser Hochzeit organisierten die Wiener Tschechen nicht nur Sammlungen untereinander, sondern es herrschte auch eine massive Unterstützung von Seiten des neugegründeten Staates der Tschechoslowakei. Es gab eine spezielle Bezeichnung der Wiener Tschechen, nämlich ‚naši ve Vídni¨, also ‚unsere Leute in Wien‘. Der damaligen Tschechoslowakei war es ein Anliegen, dass die tschechische Sprache in Wien gepflegt wird.“
Wie war es dann nach dem Zweiten Weltkrieg?
„1942 wurde den Wiener Tschechen ihr gesamtes Eigentum genommen. Sie haben es dann nach 1945 langsam wieder zurückbekommen. Trotzdem gab es eine große Rückkehrwelle in die Tschechoslowakei, denn Wien war zerbombt und in einem wirklich erbärmlichen Zustand. So ist es auch vielen Schulgebäuden ergangen. Und nachdem die Schulzeit von 1942 bis 1945 völlig unterbrochen worden war, war der Aufbau von etwas, was nicht mehr existiert, ganz schwierig. Man hat nach dem Krieg noch begonnen, in drei Schulgebäuden zu unterrichten. Aber die Anzahl der Schüler nahm bis in die späten 1980er Jahre sukzessive ab, weil es weiterhin keine Unterstützung vom Staat gab. Man war alleine auf sich gestellt. Und es hat größtenteils auch nicht mehr diese Unterstützung aus dem Mutterland gegeben. Überall dort, wo man noch Geld auftrieb, war das zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.“
Wie sieht die Lage heute aus? Bei der Jubiläumsfeier im Prater waren mehrere hundert tschechische Schüler dabei…
„Die größte Herausforderung jeder Schule ist, dass sie Schüler hat. Wir leben in einer Großstadt, also in einer massiven Konkurrenz zu anderen Schulen. Die Eltern unterscheiden sich von denen von 1872 oder aus der Zwischenkriegszeit. Damals war klar, dass jeder Tscheche sein Kind in die tschechische Schule schickt. Nun entscheiden sie sich nicht mehr nach diesen nationalen Gesichtspunkten, sondern nach anderen praktischen Kriterien. Es gibt gemischte Ehen, es gibt andere Grundsätze und Ansprüche an die Erziehung. Darauf muss unsere Schule reagieren. Das haben wir mühevoll gelernt. Vor 30 Jahren war die Schule eigentlich tot. Wir hatten insgesamt 120 Kinder im Gebäude, und es war jedes Mal ein großes Beten, ob wir nächstes Jahr die Klasse zusammenbekommen. Das ist gelungen, und wir haben das Schulwesen nahezu komplett neu aufgebaut. Jetzt handelt es sich um eine trilinguale Schule, wir unterrichten gleichzeitig Tschechisch, Slowakisch und Sprache Deutsch. In diesem Jahr findet zum 20. Mal das Abitur statt. Dies war wichtig für uns. Mühevoll und kaum unterstützt, aber im Prinzip war das der einzige richtige Weg. Unsere Kapazitätsgrenze vom Kindergarten bis zur Matura liegt bei 600, das Schaffen wir in zwei Gebäuden.
Vom Kindergarten bis zum Abitur
Wir haben auf Sprachen gesetzt. Zu Tschechisch, Slowakisch und Deutsch kommt Englisch hinzu, das ist Pflicht in Österreich. In der Oberstufe des Gymnasiums muss zudem zwischen Italienisch, Französisch oder Spanisch ausgewählt werden. Russische bieten wir auf freiwilliger Ebene an. Besser kann man die Jugendlichen für Europa nicht ausbilden. Weil wir auf dieses Modell gesetzt haben, kommt es zu einer ganz interessanten Entwicklung: Alle Gymnasien sowie Mittel- und Hauptschulen verlieren ihre Kinder genau mit dem 14. Lebensjahr, wenn sie zu berufsbildenden Schulen wechseln. Mit unserem Sprachen-Schwerpunkt bleiben die Schüler aber auch in der Oberstufe bei uns. Wir müssen unsere Oberstufe jetzt auf zwei Parallelklassen erweitern. Damit liegen wir absolut im Trend der Zeit.“
Haben Sie als Kind selbst auch diese Schule besucht?
„Ja sicher. Und meine Eltern auch.“
Wann ist Ihre Familie nach Wien gekommen? Und wo sind eigentlich Ihre Wurzeln?
„Die Wurzeln unserer Familie liegen mit meinen Urgroßeltern väterlicherseits in Südmähren, sie waren immer Tischlermeister. Und mütterlicherseits ist es Südböhmen. De facto lebt unsere Familie etwa seit 1885 in Wien.“
Ihre Kinder sprechen auch Tschechisch und pflegen die Sprache weiter…
„Unsere Kinder sind auch auf die Komenský-Schule gegangen, und jetzt kommen schon die Enkel hierher. Es ist Tradition. Und diese ist für eine Institution wie den Schulverein wichtig. Sie gibt einer Organisation Stabilität, eine Historie und auch Sicherheit. Sicher wird es auch weitergehen.“
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