90 Jahre Tschechoslowakei – ein Geburtstagsspaziergang durch Prag

Militärparade (Foto: Martina Stejskalová)

Der 28. Oktober 2008, ein Tag, an dem unzählige Kränze an unzähligen Denk- und Mahnmalen niedergelegt wurden. Man feierte in Tschechien den 90. Geburtstag der Tschechoslowakei. Ein Staat, der aus dem Ersten Weltkrieg geboren wurde, obwohl weder die Tschechen noch die Slowaken ihn angezettelt hatten. Die Tschechoslowakei - ein Staat, den es heute nicht mehr gibt. Dennoch gab es zum Geburtstag Kränze für die Mahnmale und Unterhaltung für das Volk. Christian Rühmkorf lädt Sie heute im Forum Gesellschaft zu einem besonderen Spaziergang durch Prag ein. An dem Tag, an dem die Tschechoslowakei 90 Jahre alt geworden wäre.

Militärparade  (Foto: Martina Stejskalová)
Prag, Linie A, stadtauswärts Richtung Dejvice. Die Metro ist zum Bersten überfüllt. Zusteigen nicht mehr möglich – Aussteigen allerdings auch nicht mehr.

Militärparade  (Foto: Martina Stejskalová)
Alle waren am Dienstag auf dem Weg zur größten Attraktion des Tages: die Militärparade im Stadtteil Dejvice, anlässlich des 90. Gründungsjubiläums der Tschechoslowakei. Am 28. Oktober 1918 zeichnete sie sich in die europäische Landkarte ein. Dejvice, das war der Ort, wohin am Dienstagmittag tausende von Tschechen strömten und an der Evropska-Straße Spalier standen. Man wartete auf die erste Militärparade seit 23 Jahren. 1985 hatten die Kommunisten zum letzten Mal groß aufgefahren. Nachdem der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Präsident Vaclav Klaus, von der Ehrentribüne aus das Startzeichen gegeben hatte, dauerte es einige lange Minuten, bis sich auf dem Siegesplatz etwas tat.

Militärparade  (Foto: Martina Stejskalová)
Dann kamen sie. Zuerst das Fußvolk in blauen und grünen Uniformen, in Tarnanzügen, in Wüstenkleidung. Stadtpolizeieinheiten auf dem Fahrrad oder auf dem Pferd. Gefolgt von schwerem Geschütz: Panzer, Transporter, Raketenabschuss-Basen, Rot-Kreuz-Fahrzeuge, Technische Hilfseinheiten, zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Die Düsenjäger bleiben in eine dicke Wolkenschicht gehüllt, einzig die Kampfhubschrauber wagten sich fast bis zum Volk hinab. Ach ja, das Volk, was hielt das eigentlich von der ersten Militärparade seit 23 Jahren?

„Wir sind heute extra von außerhalb nach Prag gekommen. Wegen der Militärparade,“ sagt diese junge Frau. „Das muss ja nicht jedes Jahr stattfinden, wie das früher mal war. Aber ab und zu - sicher“, meint ihr Mann.

War es für die Tschechen eine Bürgerpflicht, zur Parade zu kommen?

Militärparade  (Foto: Martina Stejskalová)
„Neugierde. Sie haben angekündigt, dass es großartig würde. Richtig großartig war das allerdings nicht. Meine ich jedenfalls. Aber ich bin überall, wo was passiert. Da geh ich dann hin“, meint ein weiterer Schaulustiger. Die Frage, ob so eine Parade nicht rausgeschmissenes Geld sei, fand ein anderer Zuschauer Mitte 50 gar nicht charmant:

„Na was ist denn dabei. Über 20 Jahre gab es keine Parade und jetzt macht man sie eben zu diesem Jubiläum. Da wirft man doch sonst für ganz andere Sachen Geld aus dem Fenster und zwar wesentlich mehr als für so eine Parade.“

Militärparade  (Foto: Martina Stejskalová)
Dass der Staat eigentlich gar nicht mehr existiert, dessen 90. Jubiläum hier gefeiert wird, das kümmert heute niemanden. Aber ist es nicht bedauerlich, dass es die Tschechoslowakei nicht mehr gibt, dass Slowaken und Tschechen keinen gemeinsamen Staat mehr haben?

„Das ist kompliziert mit Tschechien und der Slowakei. Ich weiß nicht. Ich habe dazu keine eindeutige Meinung“, sagt der Paradenfreund. Sein Bekannter ist etwas mutiger.

„Es gab kein Referendum. Die haben das einfach ohne uns entschieden, die Teilung. Darüber hätten alle entscheiden müssen. Genauso müsste das jetzt auch beim Radar sein. Die reden immer was von Demokratie, aber bei den wichtigen Sachen können wir nicht mitreden. Das müssen doch die Leute entscheiden.“


Volksfest in der Dejvicka-Straße  (Foto: Martina Stejskalová)
Nachdem der letzte Dieselqualm der Panzer in alle Winde verweht und auch der letzte Hubschrauber abgedreht war, machte sich das Volk auf in die nahe Dejvicka-Straße, wo der sechste Prager Stadteil eine Geburtstagsfeier mit Würstchenbuden, Bierständen und einem großen Geburtstagskonzert ausrichtete.

Volksfest in der Dejvicka-Straße  (Foto: Martina Stejskalová)
Star- und Volksgeiger Pavel Šporcl spielte auf, begleitet von den Tschechischen Philharmonikern. Und ein wenig volkstümeln durfte es auch und zwar mit dem über 70-jährigen Schauspieler und Sänger Jozef Zíma: „Schon langsam werden wir alt, Kamerad!“ singt er. Ein Ständchen für sich und die alte Tschechoslowakei. Und was am Ende natürlich nicht fehlen durfte: Smetanas Moldau, die heimliche Nationalhymne der Tschechen.


Krönungskrone
Szenenwechsel. Selbe Zeit, anderer Ort. Im Restaurant Monarchie wird – auch aus Anlass des 90-jährigen Jubiläums der Tschechoslowakei - eine Pressekonferenz abgehalten. Hier geht es politisch zu. Die Partei „Koruna česká – die böhmische Krone hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: In den kommenden 10 Jahren, bis zum Jahr 2018 also soll sie erneut entstehen, die böhmische Monarchie:

„Es hätte damals, 1918, über die Form des künftigen Staates entschieden werden müssen, ob es eine Republik oder eine Monarchie werden soll. Und zwar mit einem Referendum oder wenigstens durch eine Abstimmung eines frei gewählten Parlaments. Nichts dergleichen ist aber geschehen,“ sagt Václav Srb, der Parteivorsitzende der „Koruna česká“.

T.G. Masaryk sei damals durch die Nationalversammlung nur per Akklamation zum Präsidenten einer neuen Republik gemacht worden. Das Volk sei nicht gefragt worden. Dadurch sei eine Menge verloren gegangen. Die Augen von Vaclav Srb fangen an zu leuchten, wenn er über das untergegangene Habsburgerreich spricht:

„Der so genannte Völker-Kerker, in dem wir eingesperrt waren und in dem wir gelitten haben, dieser Kerker war doch in Wirklichkeit in seinem letzten Jahrzehnt eine konstitutionelle Monarchie mit dem allgemeinen Wahlrecht, mit einem blühenden gesellschaftlichen Leben, das wir heute eine blühende Bürgergesellschaft nennen würden – auch wenn manche das nicht gern hören. Es war eine Hochzeit des tschechischen Bürgertums, es herrschte ein Bauboom, das Nationalthe„Multikuli macht uns kaputt und bedroht uns. Aus meiner Heimatstadt, wo ich auch Stadtrat bin, gehen jedes Jahr 3000 Schweden weg und 2000 Irakis kommen statt dessen dahin. Tausende von Schweden sind Flüchtlinge in ihrem eigenen Land.“ater und das Nationalmuseum entstanden usw. Das war mit Sicherheit keine finstere Zeit.“

Auch, wenn die Mitglieder der „Koruna česká“ sich nach einem König sehnen – er kann auch gern wieder aus dem Hause Habsburg stammen – so sind sie jedoch keine Republik-Revoluzzer:

„Selbstverständlich sind wir loyale Bürger. Wir erkennen die Gesetze dieses Landes an. Und dieses Land ist zurzeit eben eine Republik. Aber die Frage ihrer Entstehung ist wesentlich komplizierter als man gemeinhin wahrhaben will.“


Versammlung der Nationalpartei auf dem Wenzelsplatz  (Foto: Martina Stejskalová)
Wir ziehen weiter zum Wenzelsplatz. Die Dunkelheit ist mittlerweile hereingebrochen. Doch am oberen Ende des Platzes tut sich was. Fackeln leuchten anheimelnd und ein Halbkreis von Springerstiefeln stemmt Fahnen in die Höhe. Die meisten sind tschechische, aber es finden sich auch eine schwedische und eine englische Fahne darunter. An der Statue des Heiligen Wenzel empfängt die rechtsextreme Nationalpartei zum Nationalfeiertag Besuch von nordischen Parteikollegen. Da gab es dann was zu hören:

Versammlung der Nationalpartei auf dem Wenzelsplatz  (Foto: Martina Stejskalová)
„Multikulti macht uns kaputt und bedroht uns. Aus meiner Heimatstadt, wo ich auch Stadtrat bin, gehen jedes Jahr 3000 Schweden weg und 2000 Irakis kommen statt dessen dahin. Tausende von Schweden sind Flüchtlinge in ihrem eigenen Land.“

So weit der Schwede. Auch der englische Gast nahm den tschechischen Nationalfeiertag zum Anlass, ein wenig Stimmung zu machen: Gegen die „schleichende Tyrannei der Organe der undemokratischen Europäischen Union“:

Gegendemonstranten  (Foto: Martina Stejskalová)
„Eure Partei muss den Menschen in der Tschechischen Republik klar machen, dass die tatsächlichen Kosten der Europäischen Union nicht in tschechischen Kronen zu bemessen sind, die nach Brüssel geschickt werden, sondern im Verlust eurer Freiheit, im Verlust eurer Souveränität und in der Strangulierung eurer Traditionen.“

Am Rande des Wenzelsplatzes stand umringt von Polizei ein kleines Grüppchen von Gegendemonstranten.


Präsident Václav Klaus  (Foto: ČTK)
Szenenwechsel. Eine Stunde später auf der Prager Burg. Die Burgwache nimmt Aufstellung und zu Fanfaren-Klängen schreitet der Präsident in den Vladislav-Saal, der bis zum letzten Platz mit obersten Staatsdienern und Würdenträgern besetzt ist. Gleich sollte Präsident Klaus 28 Verdienstorden verleihen. Doch zuvor trat er ans Mikrofon. Und auch er sprach von der Europäischen Union:

Foto: ČTK
„Erst 19 Jahre sind vergangen, seit wir durch den Zusammenbruch des Kommunismus unsere Freiheit wiedererlangt haben. Vor vier Jahren sind wir auf der Grundlage einer demokratischen Entscheidung der Mehrheit der Bürger Teil der Europäischen Union geworden und haben ihr freiwillig einen beträchtlichen Teil unserer Souveränität übertragen. Die Entscheidungsprozesse entfernen sich damit erneut von uns. Wir sind heute in einer Situation, die wir ziemlich gut kennen. In der Überzeugung, das Beste für unseren Staat zu tun, bringen wir uns um seine bedeutendsten Eigenschaften. Ob dieser Schritt für unsere Bürger einen Gewinn bedeutet oder nur eine weitere späte Enttäuschung, wage ich nicht zu prophezeien.“

Der 28.Oktober 2008. Die Tschechoslowakei wäre 90 Jahre alt geworden. Ein Feiertag in Tschechien. Und viele haben ihn auf ihre ganz eigene Weise begangen.