Abgründe totalitärer Vergangenheit: der Film „Pouta“/„Fesseln“
Die Tschechoslowakei 1981: Der Kommunismus scheint unbesiegbar, man konzentriert sich auf das Privatleben, ein Gefühl der Lähmung hat die gesamte Gesellschaft erfasst. Höchst agil sind dagegen die Mitarbeiter der Staatssicherheit, der Statní bezpečnost (StB): Bis in die Intimsphäre der Menschen dringen sie vor, beobachten, notieren, drohen. Diese Zeit hat der Regisseur Radim Špaček filmisch eingefangen - der atmosphärisch dichte Thriller „Pouta“ („Fesseln“) über den StB-Mitarbeiter Antonín Rusnák läuft gerade in den tschechischen Kinos.
„Es ist mehr als deine Arbeit. Es ist dein Vater, deine Mutter, deine Alte, aber denk dran: Es ist nicht deine Hure, denn eine Hure fickst du, aber wer uns fickt, der zahlt einen hohen Preis. Denn wir vergessen nichts.“
So wird Antonín Rusnák von seinem Chef an die Regeln erinnert, die für Mitarbeiter der Staatssicherheit gelten. Und Antonín nimmt seine Arbeit ernst: Keiner weiß so gut wie er, wie man Menschen bespitzelt, einschüchtert, erniedrigt. Dazu Radim Špaček:„Ondřej Štindl, der Drehbuchautor, mag Thriller, die Filme der Cohen-Brüder und Mafia-Filme. So ist die Idee entstanden, einen Thriller zu schreiben, der nicht in Amerika, sondern in der Tschechoslowakei spielt. Und wenn man sich fragt, welche Mafia hier in den achtziger Jahren tätig war, so kommt man ganz logisch auf die Staatssicherheit, die StB, eine staatlich organisierte repressive Einheit, nur dazu geschaffen, die eigenen Bürger zu unterdrücken.“
Nicht nur Filmbilder und Plot erinnern an einen Gangsterfilm. Auch das Ausmaß an Gewalt scheint mafiöse Methoden widerzuspiegeln. Der Film zeigt, wie Antonín Rusnák im Verhör seine Zigarette auf dem Handrücken eines Dissidenten ausdrückt, ihn in einem dunklen Hauseingang zusammenschlägt und den eigenen Kollegen im Wald mit Handschellen fesselt. Sind diese Szenen stilisiert und im Verhältnis zur damaligen Wirklichkeit übertrieben?
„Nein, das denke ich nicht. Der Film ist vielleicht in einigen Szenen etwas brutal, aber ich würde nicht sagen, dass es so nicht gewesen ist. Natürlich waren das nicht mehr die fünfziger Jahre, als die Leute mit Elektroschocks gefoltert und zum Tode verurteilt wurden, aber die Szene mit den Zigaretten hat der Sänger Vlasta Třešňák vor seiner Emigration nach Österreich eben im Jahr 1981 genau so erlebt. Leute zusammenzuschlagen war eine gängige Methode. Am schlimmsten war die Schutzlosigkeit der Leute, die nicht einmal darüber sprechen konnten. Wenn heute jemand von der Polizei misshandelt wird, dann schreiben wenigstens die Zeitungen darüber. Die größte Erniedrigung, der größte Schmerz damals war, dass die Betroffenen diese Erlebnisse für sich behalten mussten. Die StB-Mitarbeiter waren die großen Herren und konnten mit den Menschen machen, was sie wollten – außer sie zu töten vielleicht. Und zwar bis Ende der achtziger Jahre. Deshalb glaube ich nicht, dass wir im Film übertrieben haben - im Gegenteil: Wir haben gar nicht alles gezeigt.“
Antonín Rusnák ist von seinem eigenen Leben gelangweilt und angewidert. Von Neurosen und seinem Unvermögen, Beziehungen zu anderen aufzubauen, geplagt, richtet er seine unbestimmte Sehnsucht nach einem anderen Leben auf die junge Klára, die Geliebte eines Dissidenten. Bei seinen aussichtslosen Versuchen, sich ihr zu nähern, übertritt er immer häufiger die Regeln der Staatssicherheit. Sein Handeln richtet sich nicht mehr nur gegen potentielle Dissidenten, sondern auch gegen Kollegen und vor allem sich selbst. Ist die Person des Antonín Rusnák nicht vielleicht ein Spiegelbild der gesamten damaligen Gesellschaft und ihrer psychischen Verfassung.
„So metaphorisch haben wir uns das nicht gedacht. Man muss da vorsichtig sein, am besten ist es, wenn die Zuschauer sich ihre eigenen Gedanken machen. Was Antonín und seine Neurosen, seine psychosomatischen Probleme, seine Soziopathie angeht, so höre ich zum ersten Mal, dass man diesen Zustand auf die ganze Gesellschaft übertragen könnte. Aber ich will dem nicht widersprechen. Wir haben diese Charakterisierung vor allem benutzt, weil es bei der StB keinen James Bond oder Rambo gab, sondern Leute, die sich das Leben leicht machten und denen es nichts ausmachte, anderen zu schaden. Durchschnittliche, komplexbeladene Menschen also, die ihre Frustration an anderen ausließen. Es war eine kranke Gesellschaft, die von kranken Leuten wie diesem Antonín beherrscht wurde, auch wenn wir diese Metapher nicht bewusst benutzt haben.“
„Pouta“ widmet sich dem Lebensgefühl der so genannten Normalisierung mit einer Hingabe, die den Zuschauer direkt in die stinkigen Kantinen, miefigen Büros, engen Küchen und lauten Montagehallen versetzt. Die arrogante bis ordinäre Sprache der StB-Mitarbeiter, der triste Blick über graue Plattenbausiedlungen und der gute Freund, der eigentlich Informant der StB ist: Genau so muss sich die „Normalisierung“ angefühlt haben. Wie fängt man diese Atmosphäre filmisch ein?
„An der Produktion des Films haben viele gute Leute mitgewirkt. Und gerade diese bestimmte Atmosphäre ist vor allem der perfekten Arbeit des Kameramanns Jaromír Kačer zuzuschreiben. Kačer sucht nicht nur interessante Blickwinkel, Situationen, sondern geht wirklich in den Film hinein. Er hat mir seinen eigenen Blick angeboten, bestimmte Details, die ihm aufgefallen sind, so dass ich bei den Dreharbeiten oft nur gestaunt habe. Natürlich gehört auch die präzise Arbeit bei Szenenbild und Ausstattung dazu. Und wir haben besonders darauf geachtet, dass die Sprache zeitgemäß ist, auch wenn sie ziemlich stilisiert ist, und dass uns keine Fehler bei historischen Fakten unterlaufen. Wir haben versucht, gründlich zu arbeiten, und schließlich waren wir beim Blick auf die Leinwand selbst erstaunt, was wir da geschaffen haben.“
Špaček hat die achtziger Jahre in der Tschechoslowakei selbst erlebt – wie sieht die „Normalisierung“ in seiner persönlichen Erinnerung aus?
„Anfang der achtziger Jahre war ich zehn Jahre alt. Es war meine Kindheit und außerdem war ich völlig unter dem Einfluss kommunistischer Propaganda. Also habe ich alles ganz anders wahrgenommen, als der Film es zeigt: In meiner Erinnerung ist alles schön, sonnendurchflutet, optimistisch, obwohl wir hier in der Prager Südstadt gewohnt haben, einer Plattenbausiedlung, die damals gerade gebaut wurde, so dass wir eigentlich direkt auf der Baustelle wohnten. Was die Figuren im Film erleben, habe ich überhaupt nicht wahrgenommen, das kam erst später, kurz vor der Revolution. Die Umgebung, in der Antonín lebt, ist mir also vertraut, aber ich habe sie damals positiv erlebt. Ich dachte ja, das muss so sein, so wie ich auch dachte, dass wir niemals ans Meer fahren oder Farbfernsehen haben würden. Erst später habe ich verstanden, dass das Düstere der Zeit ja nicht von den Äußerlichkeiten herrührte, sondern vor allem daher, wie raffiniert das Regime die Leute manipuliert und erniedrigt hat. Genau das soll Antonín im Film personifizieren.“
In letzter Zeit konnte man in tschechischen Kinos auffallend viele Filme sehen, die sich mit der kommunistischen Vergangenheit auseinandersetzen, mit seinem düsteren Blick steht Pouta jedoch bisher allein da:
„Die jüngere Geschichte, also die letzten vierzig, fünfzig Jahre, ist in der tschechischen Kinematographie zwar präsent, aber bisher war es – und das passt zur tschechischen Mentalität - vor allem ein Blick auf die Vergangenheit, der nicht besonders streng war, nicht so aufwühlend, sondern eher versöhnlich bis komödiantisch oder grotesk. Denn die Tschechen haben ja die Tendenz, sich über alles lustig zu machen, auch wenn das in dieser Situation vielleicht nicht angemessen ist. Aber ich gehöre zu einer Generation, die selbst nicht mehr so sehr persönlich involviert ist und deshalb kritischer nachfragen kann.“
Braucht man in Tschechien heute diese Filme, den filmischen Blick auf die eigene Vergangenheit?
„Ich denke, es ist ein Fehler, dass gerade die Tschechen nicht gerne auf die nähere Vergangenheit zurückschauen und sich nicht dem Trauma aussetzen zuzugeben, wie viele Deutsche sie bei der Vertreibung getötet haben oder was 1948 oder 1968 schief gelaufen ist. Wenn wir uns dem nicht bewusst werden und es sozusagen physisch nacherleben, sind wir verdammt, die Vergangenheit wieder und wieder zu erleben. Was gäbe ich dafür, wenn wir uns schon so informiert und ausführlich mit diesen Themen beschäftigt hätten wie die deutsche Kinematographie. In Deutschland hat man sich viel früher und intensiver mit der eigenen Geschichte auseinandergesetzt. Die Deutschen haben natürlich mehr Dinge, für die sie sich Asche aufs Haupt streuen können - sie sind ja auch ein größeres Volk. Aber die tschechische Ignoranz, diese Blindheit und der Unwille, überhaupt in die Vergangenheit zu schauen, kotzt mich wirklich an.“
„Pouta“ ist ein Film, der provoziert, bei dem es dem Zuschauer kalt den Rücken hinunter läuft. Ein Film mit Ecken und Kanten, an denen sich die Zuschauer stoßen sollen, wie Radim Špaček sagt. Gerade wird der Film zu mehreren Festivals eingereicht. Man kann hoffen, dass „Pouta“ oder „Walking too fast“, so der internationale Titel, recht bald auch in deutsche Kinos kommt.