Alarmglocken schrillen: Tschechiens Wirtschaftswachstum geht zurück
Das Wachstum der tschechischen Wirtschaft ist ins Stocken geraten. Im zweiten Quartal dieses Jahres ist das Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum letzten Jahr um 2,2 Prozent gestiegen, gegenüber dem ersten Quartal allerdings nur um ein 0,1 Prozent. Gegenüber der Prognose des Tschechischen Statistikamtes (ČSÚ), das 2,4 beziehungsweise 0,2 Prozent vorhersagte, ist das zwar nur eine relativ geringfügige Abweichung, der anhaltenden Tendenz zufolge aber schrillen bereits jetzt die Alarmglocken. Mehrere Analytiker befürchten nämlich, dass das Wachstum im kommenden Jahr stagnieren könnte.
„In solch einer Situation legen die Menschen zum Beispiel wichtige finanzielle Entscheidungen auf Eis, denn ihnen ist das Hemd näher als der Rock“, verweist der Ökonom der Raiffeisenbank, Pavel Mertlík, auf ein Merkmal der Wirtschaftsflaute. Diese schlägt aber auch im Alltag durch: Die meisten Leute sparen bei Lebensmitteln ebenso wie beim Benzin. Die hiesigen Unternehmen beklagen die gesunkene Binnennachfrage, aber auch der Absatz im Ausland lässt nach.
„Die tschechische Wirtschaft ist eine sehr offene, auf den Export und Investitionen ausgerichtete Ökonomie. Deshalb können wir in der gegenwärtigen Situation, in der alle ein langsameres Wachstum der Weltwirtschaft erwarten, nicht davon ausgehen, dass die tschechische Wirtschaft wie geschmiert läuft“, erklärt der Chefökonom der tschechischen Postsparkasse, Jan Bureš.
Und Radek Špicar, der Vizepräsident des Verbandes für Industrie und Verkehr, ergänzt: „Schlecht ist die Lage vor allem für Firmen, die zu 100 Prozent von der Europäischen Union abhängig sind. Ganz einfach deshalb, weil die EU-Märkte mit größter Wahrscheinlichkeit kaum wachsen werden.“
Das haben die tschechischen Wirtschaftskapitäne längst erkannt und versuchen nun, dagegen anzusteuern. Sie würden jetzt noch energischer werben und verhandeln, und es sei ihnen zudem gelungen, das internationale Absatznetz wieder zu aktivieren, versichert der Vorsitzende der Internationalen Handelskammer in Tschechien, Michal Mejstřík:
„Gegenwärtig bereiten Unternehmer unter Führung von Wirtschaftsminister Kocourek eine große Werbe- und Verkaufsoffensive für ihre Produkte in Ländern wie Indien oder Vietnam vor. Sie haben nämlich erkannt, dass der europäische Markt nicht das Absatzgebiet der Zukunft ist.“
Dank ihrer Initiativen haben die tschechischen Exporteure größere Einbrüche bisher verhindern können. Darüber hinaus hätten sie dafür gesorgt, dass das Bruttoinlandsprodukt weiterhin zunimmt, wenn auch gering, sagt Mejstřík:
„Der wachsende Export kompensiert derzeit den Rückgang der Binnennachfrage ebenso wie das Ausbleiben größerer Investitionen. Gerade weil wir eine offene Wirtschaft haben, sind wir in der Lage, bis zu einem gewissen Maß zu reagieren. Und das tun die Firmen jetzt auch verstärkt.“Dennoch, der zunehmende Export allein kann nicht verhindern, dass die Sorgen in anderen Bereichen bei ausbleibendem Wirtschaftswachstum eher noch größer werden. Ein solches Sorgenkind ist die Arbeitslosigkeit, weiß auch Mejstřík:
„In dieser Hinsicht verläuft die Entwicklung leider nicht sehr günstig. Auf der anderen Seite müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die Arbeitslosigkeit derzeit niedriger ist als in den zurückliegenden Monaten, als wir noch in der Krise steckten. Sie hat sich auf einem für die aktuellen Verhältnisse erträglichem Niveau stabilisiert.“
Und das ist eine Arbeitslosenrate von 8,2 Prozent im Monat August, was einer Arbeitslosenzahl von etwas über 480.000 Erwerbslosen entspricht. Das sind mehr als 4000 Leute weniger als im Vormonat Juli. Nach dem Wegfall der saisonalen Arbeitsplätze aber rechnen Experten für das bevorstehende Winterhalbjahr mit einem Ansteigen der Arbeitslosenrate auf mindestens neun Prozent.
Ein fix prognostiziertes Wirtschaftswachstum ist auch ein Eckpfeiler für jeden Haushaltsentwurf. Für ihren Entwurf zum Staatshaushalt 2012 hat die tschechische Regierung ein Wachstum von 2,5 Prozent vorausgesetzt. Anhand der aktuellen Wirtschaftsdaten aber sei das bereits eine utopische Vorstellung, warnen Analytiker.
„Im Falle einer ungünstigen Entwicklung des Außenhandels könnte sich das tatsächliche Wachstum letztlich sogar der Null annähern“, gibt der Dekan der Volkswirtschaftlichen Fakultät an der Prager Hochschule für Ökonomie, Miroslav Ševčík, zu bedenken.Und der Chefökonom der Finanzagentur Patria Finance, David Marek, rechnet vor: „Ein Prozent Wirtschaftswachstum schlägt sich bei den Staatsfinanzen mit einem Betrag von zirka 15 Milliarden Kronen nieder. Wenn also die Wirtschaft nicht um 2,5 Prozent, sondern nur um 1,5 Prozent zulegt, dann würde das Defizit des nächsten Staatshaushalts nicht 105 Milliarden, sondern 120 Milliarden Kronen betragen.“
Da dieser Fall aufgrund der gegenwärtigen Tendenz durchaus eintreten kann, muss sich die Regierungskoalition schon jetzt Gedanken machen, wie sie den wahrscheinlichen Ausfall von Haushaltseinnahmen kompensieren will. Noch hält sie an ihrem Ausgangswert zum Wachstum fest. Andererseits verspricht Premier Petr Nečas:„Natürlich verfolgen und analysieren wir die Daten der realen Wirtschaft sehr sorgfältig. Zurzeit aber sehen wir noch keinen Grund dafür, die Prognose eines Wachstums von 2,5 Prozent zu revidieren.“
Das sieht die Opposition natürlich völlig anders. Oppositionsführer und Sozialdemokratenchef Bohuslav Sobotka mahnt daher an:
„Die Regierung sollte ihren Haushaltsentwurf der Realität anpassen. Schon allein deshalb, damit nicht noch einmal das Gleiche passiert wie in diesem Jahr. Da musste nämlich der Finanzminister wiederholt sehr unsystematisch größere Streichungen bei den Ausgaben der einzelnen Haushaltskapitel vornehmen.“Die Freude über das Ende der Wirtschaftskrise und die langsam angelaufene Konjunktur ist in Tschechien also einstweilen wieder einer Ernüchterung gewichen. Und wer weiß, vielleicht steht den Politikern und Wirtschaftskapitänen des Landes nach dem trüben Sommer nun ein ganz stürmischer Herbst bevor.