Angst vorm Abstieg: Immer mehr Tschechen leben an der Armutsgrenze
Das Statistische Amt der EU hat Anfang des Jahres neue Zahlen zur Armut in Europa veröffentlicht. Mit einem Anteil von unter neun Prozent armen Menschen am der Gesamtbevölkerung hat Tschechien den besten Wert aller Mitgliedsstaaten. Deutschland hingegen befindet sich mit fast 15,5 Prozent im europäischen Mittelfeld. Doch wie sieht es in der Realität in Tschechien aus, und wie sind die statistischen Angaben zu bewerten?
Im Zentrum der Stadt befindet sich der Stadtteil Žižkov. In diesem ehemaligen Arbeiterviertel leben viele ärmere Menschen, und es gibt auch ein Obdachlosenheim. Auf dem Weg dorthin kommt man an einer Hausruine vorbei. Geziert wird die letzte noch stehende Wand von einem großen Graffiti und der Aufschrift „pomoc“ – zu Deutsch: Hilfe. Vom Glanz der Goldenen Stadt ist hier wenig zu sehen. Das Asylheim Žižkov beherbergt 50 Männer mit sehr unterschiedlichen Schicksalen. Jan Hlaváček wurde Anfang des Jahres 2013 aus dem Gefängnis entlassen, nachdem der ehemalige Staatspräsident Václav Klaus eine weitereichende Amnestie ausgesprochen hatte. Hlaváček gehörte zu insgesamt 100.000 Inhaftierten, die auf diese Weise freikamen. Für den 48-Jährigen war dies jedoch der Weg in die Obdachlosigkeit.
„Ich will ehrlich sein. Wenn man auf die Straße geworfen und sich selbst überlassen wird, wird man wirklich sauer. Ich habe den Präsidenten nicht um die Amnestie gebeten. Der Knast ist echt mies, aber jeder ist für seine Taten verantwortlich. Als wir alle freikamen, sind wir direkt auf der Straße gelandet. Ich spüre die Ablehnung, Arbeit kann ich keine Arbeit finden und habe nur ein paar Kronen in der Tasche. Ich kann mich gut in jene hineinversetzen, die rauskamen und sofort etwas verbrochen haben, nur um wieder ins Gefängnis zu gelangen. Es ist nicht einfach, auf der Straße zu leben.“Das Ministerium für Arbeit und Soziales vermutet, dass ein Drittel aller freigelassenen Häftlinge rückfällig geworden ist. Jan Hlaváček sagt, dieser Weg sei für ihn jedoch völlig ausgeschlossen. Und er ist kein Einzelfall. Die von Václav Klaus ausgerufene Amnestie hat die Zahl der Obdachlosen weiter erhöht, dessen ist man sich auch im Ministerium sicher.
Bis zu 100.000 Tschechen leben derzeit auf der Straße oder in nicht geregelten Haushalten. Soziale Einrichtungen platzen aus allen Nähten, und die Wartelisten für die begehrten Plätze werden immer länger. In Anbetracht dieser Lage stellt sich die Frage, wie es zu den guten Ergebnissen im europäischen Vergleich kommen konnte. Tschechien schnitt als Klassenbester ab. Bei einem Anteil von nur etwa 8,6 Prozent der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, scheint es den Tschechen gut zu gehen.Doch was verbirgt sich hinter dieser ominösen Armutsgrenze? Arm in der Europäischen Union ist, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohnes in seinem Land zur Verfügung hat. Für Tschechien sind das monatlich etwa 9000 Kronen – umgerechnet also ungefähr 350 Euro. Die von der Europäischen Union herausgegebenen Zahlen lassen sich jedoch nur schwer bis gar nicht miteinander vergleichen. Das bestätigt Jaromír Kalmus, Forschungsleiter für Soziales beim Tschechischen Statistikamt.
„Die internationalen Vergleiche sind sehr irreführend. Dass in Deutschland mehr als 15 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze leben und hier weniger als 10 Prozent sagt nicht aus, dass hier weniger Arme leben. Vielmehr sind diese Zahlen ein Indikator dafür, wie jeweils die Gehaltsstrukturen sind. Man kann also nicht sagen, dass es den Tschechen besser geht als den Deutschen. Wenn man nämlich ein europäisches Durchschnittseinkommen bildet und dann vergleicht, wer unter den 60 Prozent liegt, kommt man zu einem ganz anderen Ergebnis.“Tatsächlich bedeutet das, dass Tschechien dann im europäischen Vergleich weit abgeschlagen auf den hinteren Rängen der Statistik landen würde. Ganz oben wären nun Luxemburg und Deutschland. Ein vergleichsweise armer Deutscher würde sich weit über der tschechischen Armutsgrenze wiederfinden.
Kalmus sieht auch noch ein weiteres Problem: dass sich die Statistiken der Europäischen Union nur auf Menschen beziehen, die in einem „geregelten Haushalt“ leben. Obdachlose und Menschen in sozialen Einrichtungen sind damit außen vor.Das Ministerium für Arbeit und Soziales betrachtet die Ergebnisse von Eurostat ebenfalls mit gemischten Gefühlen – doch aus einem anderen Grund. Štefan Čulík leitet die Abteilung für soziale Eingliederung am Ministerium.
„Auf der einen Seite könnten wir uns über dieses hervorragende Ergebnis freuen, da nur knapp zehn Prozent der Tschechen unter die Armutsgrenze fallen. Auf der anderen Seite sind das immerhin schon eine Million Menschen. Dies sollte man nicht außer Acht lassen. Das ist selbstverständlich ein Problem, mit dem wir uns beschäftigen müssen. Weitaus beunruhigender ist jedoch, dass eine große Gruppe an Menschen hierzulande nur knapp oberhalb der Armutsgrenze lebt. Sie sind dem Risiko ausgesetzt, unter die diese Grenze zu fallen.“
Würde man die Grenze von 60 Prozent des Durchschnittslohnes auf 70 Prozent erhöhen, zeige sich die Problematik im vollen Umfang. Demnach würde jede zweite Familie mit nur einem Verdiener und jeder vierte Rentner unter die Armutsgrenze fallen. Gerade hier seien die Probleme besonders eklatant, sagt Ilja Hradecký, Gründer der wohltätigen Organisation „Naděje“- „Hoffnung“. Die Organisation betreut Menschen auf der Straße und versucht sie wieder zu resozialisieren.Hradecký sagt, nicht nur die Zahl der Obdachlosen ohne geregeltes Einkommen steige, sondern auch derjenigen, die zwar regelmäßige Einkünfte haben, aber dennoch nicht über die Runden kommen.
„Wir nehmen dieses Problem besonders bei Rentnern und psychisch erkrankten Menschen wahr. Gerade Senioren, die selbstständig genug sind und noch nicht in einem Heim betreut werden müssen, haben häufig nur so wenig Geld zur Verfügung, dass es gerade so zum Überleben reicht. Aber schon der Kauf von Medikamenten oder der Gang zum Arzt wird finanziell schwierig. Bei den Obdachlosen hoffe ich, dass das Problem nicht nur ad hoc angegangen, sondern wirklich gelöst wird“, so Hradecký.Die konservativen Regierungen haben in den vergangenen Jahren im Sozialbereich stark gekürzt. Deswegen ist die Zahl der hilfsbedürftigen Menschen in den vergangenen fünf Jahren um 200.000 gestiegen. Aber auch die Arbeitslosenzahlen sind explodiert, derzeit haben rund 625.000 Menschen keinen Job.
Eine Wende verspricht die neugewählte Regierung aus Sozialdemokraten, Christdemokraten und der Partei Ano. Dies wurde auch im Koalitionsvertrag verankert und einige Pläne dafür wurden bereits vorgestellt. Die Priorität liegt klar darauf, mehr Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen und die Zahl der Arbeitslosen zu senken. Zudem wurde eine Strategie zur sozialen Wiedereingliederung entwickelt. Sie soll Obdachlosen den Weg zurück in ein geregeltes Leben ermöglichen und gleichzeitig präventiv gegen Armut und Obdachlosigkeit vorgehen. Der Plan soll bis 2020 umgesetzt werden. Jan Hlaváček sieht aus eigener Erfahrung diese Konzepte eher kritisch. So wurde im Zuge der Amnestie versprochen, die Einträge im Strafregister nach einem halben Jahr zu löschen. Für den studierten Ökonom ist dieser Eintrag das letzte Hindernis auf dem Weg zurück in ein normales Leben. Nach anderthalb Jahren habe sich jedoch immer noch nichts getan. Viele Obdachlose könnten längst auf eigenen Beinen stehen:„Ich glaube, der Regierung sind wir egal. Auch die Gesellschaft hat sich von uns abgewandt. Ich weiß, dass ich mich aufrichten kann und werde. Die Frage ist nur, wie lange das noch dauern wird. In dieser Republik ist das besonders schwierig, aber nicht unmöglich. Man versucht, sich wieder auf eigene Beine zu stellen - und dennoch wird einem der Teppich ständig unter den Füßen weggezogen. Für mich ist der letzte Schritt der schwerste.“
Die noch junge Regierung will aber erste Maßnahmen bereits Ende April einleiten. Die entsprechenden Sozialprogramme treffen jedoch auf Kritik der liberal-konservativen Opposition. Diese hält die Ziele bei der Wiedereingliederung von Obdachlosen und beim Abbau von Arbeitslosigkeit für zu ambitioniert und verweist auf die hohen Kosten. Doch wenn die Politik untätig bleibt, dann drohen weitere Tschechen in die Armut abzurutschen.
Dieser Beitrag wurde am 3. April 2014 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.