„Aus Neuwelt in die Welt“ – 300 Jahre Glas aus Harrachov im Kunstgewerbemuseum

Foto: Gabriel Urbánek, Ondřej Kocourek, Archiv des Kunstgewerbemuseums

„Böhmisches Glas“ - dieser Sammelbegriff bezieht sich vor allem auf Glaswaren aller Art, die seit Ende des 17. Jahrhunderts kontinuierlich rund 300 Jahre lang in böhmischen Hütten produziert und in die Welt exportiert wurden. Die meisten Hütten befanden sich im Riesengebirge und im Böhmerwald. Unter dem Titel „Z Nového Světa do celého světa“ - auf Deutsch „Aus Neuwelt in die ganze Welt“ - stellt das Prager Kunstgewerbemuseum derzeit eine der ältesten Glashütten Tschechiens vor. Es handelt sich um die Glasherstellung in Harrachov, die Ende Mai ihr 300-jähriges Bestehen feierte.

Harrachover Glasfabrik am Ende des 19. Jahrhunderts  (Foto: Riesengebirger Museum Jilemnice)
Ab Ende des 17. Jahrhunderts erlebte die Glasherstellung einen großen Aufschwung. Auf jene Zeit, als die Böhmischen Länder einen Teil der Habsburger Monarchie bildeten, kann die Glasfabrik im nordböhmischen Harrachov zurückblicken. Man geht davon aus, dass sie 1712 von den Grafen von Harrach gegründet wurde. Aus diesem Jahr stammt auch die erste urkundlich belegte Erwähnung der Hütte. Ihr Standort befand sich in einem unweit von Harrachov, damals Harrachsdorf, gelegenen Ort. Den heutzutage etwas in Vergessenheit geratenen Namen des Ortes hat das Prager Kunstgewerbemuseum für ein Wortspiel im Titel der Ausstellung verwendet. Museumsleiterin Helena Königsmarková:

Helena Königsmarková
„Der Ort hieß im 19. Jahrhundert ‚Neuwelt“, auf Tschechisch ‚Nový Svět“. Weil die Glashütte schon damals ihre Produkte nach Amerika exportierte, haben wir den Namen „Neuwelt“ und „die ganze Welt“ symbolisch im Ausstellungstitel verknüpft.“

Der Ausstellung „Aus Neuwelt in die ganze Welt“ sind 15 Jahre Forschungsarbeiten vorausgegangen. Es mussten außerordentlich viele Dokumente gesichtet werden. Nun sind 510 Exponate ausgestellt, einige auch aus dem Glasmuseum Passau. Sie veranschaulichen die Geschichte der Glashütte in allen kunsthistorischen Etappen. Ihre Blütezeit hatte die böhmische Glaskunst im 19. Jahrhundert. Der Chefkurator der Ausstellung, Jan Mergl vom Westböhmischen Museum in Pilsen:

Foto: Gabriel Urbánek,  Ondřej Kocourek,  Archiv des Kunstgewerbemuseums
„In der Ausstellung ist die Produktion der Glashütte ab der Gründung bis in die Gegenwart vertreten. Die einzelnen Ensembles von Exponaten dokumentieren die wechselnden Stile in der Glaskunst - angefangen von Barock, über Rokoko, Empire, Biedermeier, Historismus, Jugendstil, Art Deco bis zur Moderne. Den Schwerpunkt bildet allerdings das 19. Jahrhundert, in dem die Änderungen im Stil besonders ausgeprägt waren. In unserer Ausstellung ist auch der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert deutlich zu erkennen.“

Auf all die wechselnden Stilrichtungen flexibel zu reagieren, erforderte nicht nur viel handwerkliches Geschick der Glasbläser. Um auch auf internationale Märkte vorzudringen, musste die Hütte über eine in verschiedenen Fächern bewanderte und begabte Belegschaft verfügen. Und nicht zuletzt auch über eine gute Führung. Jan Mergl:

Franz Pohl
„Da muss man natürlich zuerst die Familie der Grafen Harrach erwähnen, die die Geschäfte mit Glas in mehreren Generationen als Unternehmer betrieben hat. Es gehören aber auch diejenigen dazu, die in verschiedenen Bereichen der Glasproduktion das Sagen hatten. Allen voran war das Franz Pohl, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Direktor der Glasfabrik und eine wahrhaft einmalige Persönlichkeit war. Er war ein hervorragender Designer, Glasfachmann und zudem auch ein, wie man es heute sagen würde, exzellenter Manager.“

Pohl konnte mit dem Glas aus Neuwelt selbst renommierte Hersteller und Konkurrenten in Frankreich und Großbritannien ausstechen. Aus seinen Gläsern haben vor allem Adelige und Staatsoberhäupter getrunken, zum Beispiel die britische Königin Victoria. Pokale mit den Portraits Victorias und des Prinzgemahls Albert erregten auf der Londoner Weltausstellung von 1851 viel Aufsehen. Bestellt wurde das Glas aber auch von gut situierten bürgerlichen Familien für ihre Salons – sowohl in Europa als auch in Übersee. Viele Museen in der ganzen Welt verfügen heute in ihren Sammlungen über Glas aus Neuwelt beziehungsweise Harrachov.

Foto: Tschechisches Fernsehen
Bis Ende des Ersten Weltkriegs, als die selbständige Tschechoslowakei entstand, wurde allgemein von „böhmischem Glas“ beziehungsweise von „böhmischen Glashütten“ gesprochen. Die Frage nach der Nationalität der früheren Glasmacher hält der Chefkurator der besagten Ausstellung heutzutage für überflüssig:

„Dieses Thema haben wir ziemlich umfassend diskutiert. Es betrifft nicht nur diese, sondern auch viele andere Glashütten hierzulande. Es geht um die Grenzgebiete, in denen sich außer Glasfabriken auch Porzellanwerke und andere Industriebetriebe mit deutsch- wie auch tschechischsprachigen Beschäftigten befanden. Lange Zeit hat man meiner Meinung nach nicht unterschieden, ob es Tschechen oder Deutsche waren. Vielmehr sprach man von Böhmen, die Deutsch oder Tschechisch als Muttersprache hatten. Die Unterscheidung stammt vor allem auf der Kriegs- und Nachkriegszeit oder aus dem Vokabular einiger Menschen von heute.“

Jan Mergl
Wie anderswo konnte auch in der berühmten Hütte in Neuwelt nicht immer alles glatt vonstatten gehen, vor allem wenn es an Geld mangelte. Jan Mergl:

„Das Glaswerk prosperierte vor allem im 19. Jahrhundert und danach noch bis zum Ersten Weltkrieg. In der Zwischenkriegszeit verschlechterte sich die Lage. Während der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre war die Produktion mehrmals für einige Monate stillgelegt. Ähnliches wiederholte sich während des Zweiten Weltkriegs. Damals sollen dort sogar bestimmte Glaskomponenten für Panzer hergestellt worden sein. Nach dem Krieg wurde der Betrieb als deutsches Eigentum aufgrund der so genannten Beneš-Dekrete konfisziert. Auch in der politisch düsteren Zeit der 1950er Jahre wurde in Neuwelt Glas hergestellt, das weiter durch seine Qualität herausragte.“

Vor allem dank der Adelsfamilie Harrach, die das Glaswerk über mehrere Generationen in ihrem Besitz hatte, sind eine Unmenge von Dokumenten erhalten geblieben. Als am 1. April 1943 Graf Johann Harrach seinen Betrieb zwangsweise an den reichsdeutschen Unternehmer Rudolf Endler für nur 300.000 Reichsmark verkaufte, verschwand aus dem Musterraum der Neuwelter Glasfabrik die gesamte Dokumentation einschließlich historisch wertvoller Folien. Auf den Folien befanden sich Zeichnungen sowie Beschreibungen technischer Verfahren. Das alles wurde rechtzeitig in zwei Zimmer eingemauert. Ein Glücksfall: In etlichen anderen Hütten hierzulande wurden ähnliche Dokumente in der Kriegszeit zum Großteil vernichtet oder entwendet.

Foto: Gabriel Urbánek,  Ondřej Kocourek,  Archiv des Kunstgewerbemuseums
Champagner-Gläser, Wasser-Gläser, Weingläser, Spirituosen-Gläser, Trinkglasservices oder Vasen, Briefbeschwerer, Flakons – das und vieles mehr in mannigfaltigem Design entsprechend dem jeweiligen Kunststil ist derzeit im Prager Kunstgewerbemuseum zu sehen. Die vielen Details des Glassortiments aus Neuwelt kann ein Ausstellungsbesucher als Laie kaum identifizieren. Im Grunde ist das auch nicht nötig.

Immerhin vermitteln großformatige Texttafeln in Tschechisch und Englisch die wichtigsten Grundkenntnisse über die entscheidenden Epochen der Glaskunstentwicklung. Zu unterscheiden gibt es in der Tat sehr viel. Chefkurator Mergl:

„Die Glasfabrik hat sich schon immer auf dekoratives Glas spezialisiert. Der Unterschied zwischen dem einfach geschliffenen Glas im Empire-Stil und dem bunt dekorierten Glas im Stil des Neubarock oder der Neorenaissance liegt gerade an der Darstellung des Ornaments, der Motive, aber auch an der Glasform. Viele Neuerungen brachte der Jugendstil. Es war eine besondere Epoche, in der sich die Glashütte Neuwelt durch eine mannigfaltige Produktion sowohl im Sinne der Technologie als auch des Designs auszeichnete.“

Jan Koula
Während der ungewöhnlich langen Vorbereitung der Prager Ausstellung stieß das Team unter anderem auch auf eine ganze Reihe heute mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten, die wichtig waren. Sie haben in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bedeutend zur Entwicklung des Neuwelter Glasdesigns beigetragen:

„Genannt sei zum Beispiel Antonín Helmes, Professor an der Prager Kunstgewerbeschule. Zusammen mit den Harrachs arbeitete er an der bedeutenden Jubiläumslandesausstellung, die 1891 in Prag stattfand. Oder der Architekt Jan Koula: Wir haben nachweisen können, dass er eine Glaskollektion für die Pariser Weltausstellung 1900 entworfen hat.“

Gerade für diese Kollektion erhielt die Hütte in Paris eine Goldmedaille. Mit Medaillen und Auszeichnungen wurde sie aber auch bei Ausstellungen in vielen weiteren Städten bedacht: im 19. Jahrhundert zum Beispiel in Berlin, London, München, Moskau, Philadelphia, Boston, Sydney und Melbourne.

Zur Eröffnung der Ausstellung hat das Kunstgewerbemuseum in Prag auch eine umfassende Monografie herausgegeben, die die reichhaltige Produktion der Harrachschen Hütte in der gesamten Zeit ihres Bestehens dokumentiert. Die kunsthistorische Abhandlung wird von über 1000 Fotos begleitet.

1993 wurde die Glashütte privatisiert und trägt seitdem den Namen Novosad & syn. Der neue Besitzer František Novosad ist gelernter Glasmacher und studierter Rechtsanwalt. Er knüpft an die Tradition von ausschließlich handgemachtem Glas des Hauses Harrach an. Nach wie vor umfasst das Sortiment luxuriöses Trinkglas, Nutzglas und Kristalllüster, alles in traditioneller Art hergestellt. Für Besucher besteht eine historische Schleiferei, die durch eine Wasserturbine angetrieben wird. Dort ist fast alles original erhalten und voll funktionsfähig. Von der Produktion der Glashütte gehen 95 Prozent ins Ausland - heute wie früher nach dem Motto „Aus Neuwelt in die ganze Welt“.

Die gleichnamige Ausstellung ist bis zum 16. September im Prager Kunstgewerbemuseum eröffnet. Danach wie vorgesehen wird sie in Pilsen zu sehen sein. Gegen Jahresende auch im nordböhmischen Jablonec na Nisou/ Gablonz.