Auszug aus dem Ledro-Tal: italienisches Exil in Böhmen 1915-1918

Valle di Ledro

Wissen Sie, warum Restaurants im norditalienischen Tal Valle di Ledro böhmische Knödel im Angebot haben? Wie immer steckt dahinter die Geschichte - und mit ihr verbunden die Geschichten vieler Menschen aus dem Ledro-Tal.

Valle di Ledro
Das Valle di Ledro liegt im Trentin. Man spricht dort Italienisch, obwohl der Verwaltung nach die Gegend heutzutage zu Südtirol gehört. Von hier bis Prag sind es rund 450 Kilometer Luftlinie. Früher gehörte das Alpental indes genauso zur österreichisch-ungarischen k.u.k. Monarchie wie das heutige Tschechien. So war es auch bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914. Ein Dreivierteljahr blieb Südtirol noch verschont. Im Frühjahr 1915 erklärte aber auch Italien der Donaumonarchie den Krieg. Miroslav Oliverius ist Mitautor des Buches „Erinnerung an die Aussiedler aus dem Ledro-Tal“:

„Die Österreicher rechneten damit, dass an den Grenzen von Südtirol die Front verlaufen wird. Sie wollten nun zum einen die dortige Bevölkerung schonen, zum anderen sprach die dortige Bevölkerung Italienisch und die Österreicher befürchteten, dass die Leute sich Italien, also dem Feind zuneigen würden“, sagt Miroslav Oliverius.

Die k.u.k. Behörden bereiteten deswegen eine Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Südtirol vor. 11.000 Menschen sollten nach Ober- und Niederösterreich, aber vor allem nach Mittel-, West- und Ostböhmen sowie nach Mähren gebracht werden. Darunter waren auch die Leute aus dem Ledro-Tal. Zwei Drittel der dortigen Gesamtbevölkerung, insgesamt 3000 Menschen wurden evakuiert. Betroffen war auch die Familie des Ur-Großvaters von Pierangelo Giovanetti:

„Es war der Pfingstsonntag, der sehr wichtig für unsere Leute war. Die Soldaten befahlen, sofort die Dörfer zu verlassen, abzufahren und Arbeit, Kühe, Häuser – einfach alles zu hinterlassen.“

Giovanetti leitet die Zeitschrift L´Adige. Er ist aber auch Historiker und hat sich mit der Evakuierung aus seiner Heimat im Ersten Weltkrieg beschäftigt.

Leute evakuierte aus Valle di Ledro
„Es waren Frauen, Kinder, arme Leute und alte Leute. Die Männer waren alle als Soldaten an der Front in Galizien“, weiß Pierangelo Giovanetti.

Miroslav Oliverius, der aus der mittelböhmischen Stadt Kladno stammt, ergänzt:

„Die Leute waren zum Teil Kleinbauern, zum Teil mögen es auch Winzer gewesen sein oder Hirten. Wichtig aber ist zu wissen, dass das Ledro-Tal damals von der Welt praktisch abgeschlossen war. Wer nicht in der kaiserlichen Armee war oder mit dem benachbarten, aber fremden Italien oder einem Nachbar-Tal Handel betrieben hat, der kam sein ganzes Leben lang nicht aus dem Tal heraus.“

Nach dem Marsch aus den Dörfern und der Zugfahrt in die Kreisstadt Mori mussten die Bewohner des Alpentals in eilig beschaffte Viehwaggons umsteigen. Drei Tage dauerte die Fahrt.

Mittelböhmen  (Foto: Štěpánka Budková)
„Und dann haben sie eine große Ebene gesehen und sie sagten: Jetzt sind wir in ´Boemia´“, so Giovanetti.

Die Leute wurden aufgeteilt und kamen in Gemeinden, die zum Teil Dutzende oder über Hundert Kilometer auseinander lagen. Miroslav Oliverius weiß, dass aber auch auf der tschechischen Seite die Situation nicht einfach war. Aus Erlebnisberichten, die er bereits vor 30 Jahren gehört hat, und aus den Chroniken von Gemeinden in Mittelböhmen erfuhr er:

„Vor allem war es schwer für die Bürgermeister der einzelnen Gemeinden. Sie hatten am Vortag vom Bezirkshauptmann den Befehl bekommen: ´Holen Sie am nächsten Morgen so und so viele italienische Aussiedler vom Bahnhof ab und kümmern Sie sich um sie!´ Den Bürgermeistern blieb nichts anderes übrig, als sie erst einmal im Saal des Gasthauses einzuquartieren und erst im weiteren Verlauf andere Möglichkeiten aufzutun. Man muss sich aber vorstellen, dass die Leute am Anfang drei, vier Monate in einem Saal auf einem Fleck lebten. Das war wie ein Flüchtlingslager.“

Dazu kam die Sprachbarriere: Die Neuankömmlinge verstanden ausschließlich Italienisch, die Böhmen nur Tschechisch, maximal noch Deutsch. Es war ein Abtasten. Als sich herausstellte, dass die Evakuierung nicht nur einige Wochen dauern würde, kam man sich langsam näher. Pierangelo Giovanetti:

„Mit den Monaten und Jahren hat mein Volk, wenn ich so sagen darf, die Sprache gelernt und Arbeit gefunden. Die Böhmen sind ihnen mit der Zeit Freunde geworden, sie verstanden, dass unsere Leute gute Leute waren, fleißig und religiös.“

Die Alteingesessenen hätten sich nach einer gewissen Zeit gegenüber den Aussiedlern sehr freundschaftlich verhalten, fügt Oliverius an:

„Sehr früh wurde auch die Sprachbarriere durchbrochen, vor allem bei den Kindern. Schon bald schnappten die tschechischen Kinder Wörter aus dem Italienischen auf und die italienischen Kinder viel aus dem Tschechischen, später geschah dies auch bei den Eltern. Das war keine perfekte Kommunikation, aber man konnte sich verständigen, und dies half sehr.“

Svatá Hora  (Foto: Jana Šustová,  ČRo)
Man kommt sich auch räumlich näher. Da auch die örtlichen Männer im Krieg waren, findet sich in einigen Familien Platz für die italienischen Aussiedler. Doch die Menschen aus dem Ledro-Tal hatten auch ihre eigenen Treffpunkte. Zum Beispiel die barocke Wallfahrtskirche Svatá Hora bei Příbram. Dazu Pater Stanislav Přibyl:

„Dies war eine Art Zentrum während der Vertreibung für die Bewohner des Valle di Ledro, wo sie sich getroffen haben. Sie haben dort gebetet, aber auch Informationen ausgetauscht. Für die Vertriebenen war es ein wichtiger Ort.“

Die italienischen Familien blieben bis Ende 1918, teils bis Anfang 1919 in Böhmen. Waren sie 1915 noch entsetzt gewesen, dorthin verschickt zu werden, wurde es nun ein trauriger Abschied.

In den folgenden Jahren mit Zweitem Weltkrieg und der Teilung Europas in Ost und West brachen die Kontakte zwischen den Bewohnern der böhmischen Gastdörfer und den Leuten aus dem Valle die Ledro ab, aber die Gefühle erkalteten nicht. Und als in der Tschechoslowakei die stalinistische Phase abklang, kam es zu ersten Besuchen aus Italien:

„Auch mein Großvater kam in den 60er Jahren hierher und wollte das Dorf wieder sehen und die Leute wieder treffen. Und er sagte: Ach, mein Herz, es war so schön, die Leute wieder zu sehen und die Dörfer“, erzählt Giovanetti.

Sein Großvater war damals bei der Evakuierung ein kleiner Junge gewesen. Doch was ist bei den nachfolgenden Generationen auf beiden Seiten von diesem Ereignis aus dem Ersten Weltkrieg geblieben? Auf tschechischer Seite erinnern vor allem die Gräber italienischer Emigranten an die Zeit, immerhin starben 300 bis 400 Leute aus dem Valle di Ledro in Böhmen. Auf italienischer Seite hat sich hingegen mehr erhalten. Jede Familie hat in ihren Schubladen Fotos aus den Jahren 1915 bis 1918. Doch die besondere Liebe zu Böhmen geht auch hier durch den Magen:

Knödel  (Foto: Štěpánka Budková)
„Zum Beispiel die Knödel, wir essen noch Knödel. Wir nennen sie `gnocchi boemi´, böhmische Knödel. Sie haben etwas Süßes in der Mitte, beispielsweise Pflaumen, sind groß und aus Hefeteig gemacht. Es gibt noch weitere Gerichte wie die Gulaschsuppe. Meine Großeltern sagten, das kommt aus Böhmen.“

Der Chor des Valle di Ledro, der Coro Cima d´Oro, hat zudem einige Besonderheiten im Programm. Die tschechische Nationalhymne zum Beispiel, aber auch Lieder in Italienisch, die an die Evakuationszeit erinnern.

In den letzten Jahren besinnt man sich auch in den Gemeinden Mittelböhmens wieder an die besonderen Beziehungen zum Valle di Ledro. Im Juni vergangenen Jahres schlossen beide Seiten eine offizielle Partnerschaft.


Dieser Beitrag wurde am 28. November 2009 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.