Barfuß und zu Vogelgezwitscher: Im Böhmerwald wird die Tradition der Höritzer Passionsspiele weiter gepflegt
In dem kleinen Ort Hořice na Šumavě / Höritz im Böhmerwald gehen nach Ostern wieder die Proben los. Denn hier werden jedes Jahr Tschechiens älteste und größte Passionsspiele aufgeführt. Die Termine für die beiden Vorstellungen liegen allerdings erst im Juni. Warum das so ist, hat uns Miroslav Kutlák erläutert. Der Vorsitzende der Gesellschaft zum Erhalt der Höritzer Passionsspiele berichtet im Interview mit Radio Prag International zudem von der historischen und auf Deutsch verfassten Partitur von 1935, die dem Verein vor kurzem geschenkt wurde. Und uns interessiert, wie weit das Vorhaben eines Unesco-Eintrags gediehen ist für dieses Traditionstheater, das in Hořice schon seit 1816 aufgeführt wird.
Wenn auf der Naturbühne in Hořice die Passionsspiele beginnen, betreten knapp 70 Schauspieler über die Waldwege aus verschiedenen Richtungen die Szene. So versammelt sich vor den Zuschauern eines der größten Amateurtheaterensembles Tschechiens.
Wie etwa in einem Videomitschnitt von der Generalprobe 2021 zu sehen ist, sind die Darsteller in weite und verschieden farbige Gewänder gehüllt. Sie sprechen ohne Mikrofon, eingespielt wird nur die musikalische Untermalung. Die Tradition der Passionsspiele in Hořice geht bis ins Jahr 1816 zurück, die aktuelle Inszenierung wird seit 1993 gespielt. Die Theaterdarbietung aus dem Böhmerwald sei jedoch zu jeder Zeit ein Vorbild für viele Passionsspiele auch in anderen Ländern gewesen, betont Miroslav Kutlák:
„Es handelt sich um ein originelles und einzigartiges Werk, das nicht nur gläubige Menschen anspricht, sondern auch Atheisten. Und es ist ebenso für kleine Kinder verständlich. Das Stück behandelt das Verständnis dessen, was dem Menschen ewig innerlich ist – das ist die Liebe in ihrer reinen Form, die auch über ein vermeintliches Ende hinaus bestehen bleibt.“
Dies ist die Botschaft der Passionsgeschichte, die die letzten Tage im Leben von Jesus Christus erzählt. Karfreitag erinnert an seinen Tod am Kreuz. In Hořice wird das Schauspiel aber immer im Juni gegeben. Dies habe ganz praktische Gründe, wie Kutlák erläutert:
„Innerhalb des Kirchenjahres ist dies die Zeit um Pfingsten und des Heiligsten Herz Jesu, das Symbol für Liebe und Gutherzigkeit gegenüber den Menschen. Dadurch ist eine zeitliche Verbindung gegeben. An Ostern ist es im Amphitheater einfach sehr kalt, oftmals liegt noch Schnee. Die Apostel könnten dann nicht barfuß gespielt werden, und das käme der Vorstellung nicht zugute.“
Im Juni ist der Wald rund um die Spielfläche hingegen schon üppig begrünt, und die Dialoge werden von Vogelgezwitscher begleitet…
Bis zu 700 Zuschauer haben Platz
Das Publikum sitzt auf einfachen Holzbänken. Und weiter sagt Kutlák:
„Früher lag mir viel daran, dass auch der letzte Zuschauerplatz besetzt war. Obwohl wir eine Kapazität von bis zu 700 Besuchern haben, meine ich heute, dass es am angenehmsten ist, vor höchstens 400 Menschen zu spielen. Das Stück wird im Amphitheater mit einer überdachten Bühne aufgeführt.“
Zu den Hochzeiten des Theaters in Hořice gab es Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts noch einen eigenen Theaterbau im Ort. Darin hatten bis zu 1500 Besucher Platz, und das Stück wurde damals noch in der deutschen Originalfassung aufgeführt. An das Gebäude erinnert heute nur noch der Hinweis auf jene Stelle, an der es stand. Ein neues Haus zu errichten, womöglich nach dem historischen Vorbild, darüber würde nicht ernsthaft erwogen, merkt Kutlák an:
ZUM THEMA
„Ich denke nicht, dass der Bau eines neuen Theaters mehr Freude oder Berühmtheit bringen würde. In unserem Dorf leben momentan knapp 1000 Einwohner. Als das Theater damals gebaut und zum zweitgrößten Theater in Tschechien wurde, wohnten hier noch über 2500 Menschen. Heute ist eine andere Zeit. Überall werden viel mehr Kulturprogramme angeboten, aus denen die Leute wählen können. Darum würde ein Gebäude nur für die Aufführung der Höritzer Passionsspiele nicht voll ausgenutzt werden.“
Eine große Besuchermenge kommt in Hořice zu besonderen Gelegenheiten auch ohne ein Theatergebäude unter. So war vergangenes Jahr die Gesellschaft zum Erhalt der Höritzer Passionsspiele an der Reihe, den internationalen Kongress Europassion auszurichten. Er findet jedes Jahr in einem anderen Land statt. Es sei womöglich der zentralen Lage Tschechiens zu verdanken gewesen, blickt Miroslav Kutlák zurück, dass gerade die Zusammenkunft 2023 die höchste Teilnehmerzahl seit 1996 verzeichnete. 265 Delegierte aus ganz Europa seien in Hořice dabei gewesen, und die erste der beiden Theatervorstellungen hätten 680 Zuschauer gesehen.
Partitur von 1935 landete fast im Müll
Das originale Drehbuch für die Passionsspiele von Hořice, wie sie ab 1816 aufgeführt wurden, war auf Deutsch verfasst. Dies ist auch die Sprache einer historische Partitur, die dem lokalen Verein in diesem Jahr gespendet wurde. Sie stammt aus dem Jahr 1935 und befand sich bisher in Privatbesitz.
Die Geschichte des Dokuments ist abenteuerlich. In den 1950er Jahren lag sie nämlich schon im Müll. Ein Dorfbewohner namens Bohuslav Novák fand sie und nahm sie geistesgegenwärtig an sich. Sein Enkel hat nun entschieden, die 216 Seiten der Gesellschaft zum Erhalt der Höritzer Passionsspiele zu überlassen. Dazu Miroslav Kutlák:
„Diese historische Kostbarkeit beinhaltet 19 Partituren für 13 Instrumente, und auch die Dirigentenpartitur ist dabei. Die Anmerkungen sind auf Deutsch geschrieben, und als Autor ist Ludwig Schmidt angegeben. Dieser Komponist und Dirigent war 1933 damit beauftragt worden, eine neue Chor- und Musikbegleitung für die Höritzer Passionsspiele zu erarbeiten. Aus den historischen Quellen wissen wir, dass nach dieser Partitur auch Mitglieder des tschechisch-deutschen Sinfonieorchesters aus Budweis spielten.“
Schon jetzt ist die Digitalversion der Partitur auf der Website der Südböhmischen Wissenschaftsbibliothek (Jihočeká vědecká knihovna) einsehbar. Für die Zukunft ist geplant, die Blätter in einem Museum auszustellen, das in Hořice mit der Sanierung des alten Pfarrhauses eingerichtet werden soll. Aber Kutlák würde die Notenschrift gern auch ganz praktisch nutzen…
„Das Dokument wurde in einer schwarzen Mappe aufbewahrt. Wenn man sie öffnet, atmet einen der 90 Jahre alte Geruch an. Es ist gut erhalten, was uns freut, und so kann man alles wunderbar lesen. Wir würden gern mit dem Sinfonieorchester verabreden, dass es dieses Stück einstudiert, und dann ein Konzert in Budweis veranstalten. Wir sind ja selbst neugierig, wie die Musik klingt. Ich selbst bin kein Fachmann, also sagen mir die Noten allein nichts.“
Ansonsten bleibt das deutsche Original der Passionsspiele aber eine historische Angelegenheit, und die Aufführungen finden heute alle auf Tschechisch statt. Für die Zuschauer gebe es aber eine dreisprachige Übersetzung, die sie während der Vorstellung mitlesen könnten, so Kutláks Hinweis.
Je jünger die Zuschauer, desto gespannter die Stille
Damit ist der Bildungsauftrag der Hořicer Theatermacher aber noch nicht erschöpft. Denn gern organisierten sie auch Aufführungen für Schulen, wirft der Vereinsvorsitzende ein:
„Das Interesse der Kinder ist groß. Weil der Katechismus heute nicht mehr gelehrt wird, sind die Schüler von der Geschichte überrascht. Sie sehen in den einzelnen Szenen, was passiert und was die Folgen sind. Dabei halten sie sogar den Atem an. Nach meinen Erfahrungen herrscht bei der Aufführung umso größere Stille, je kleiner die Zuschauer sind.“
Das könnte daran liegen, dass auch auf der Bühne Kinder dabei sind. Die Besetzung habe ursprünglich nur aus Ortsansässigen bestehen sollen, schildert Kutlák. Das sei bei 60 bis 70 Darstellern allerdings nicht zu machen. Und die Erweiterung des Einzugsgebietes könne womöglich sogar bei der Frage nach dem Nachwuchs von Vorteil sein…
„Jesus etwa wird derzeit von Tomás Franců aus Písek gespielt. Es kommen aber auch Schauspieler aus Prag und Budweis oder aus den nahegelegenen Kájov und Horní Planá. Wer Lust und Zeit hat, an unserem Theater mitzuwirken, den nehmen wir gern auf. Auf diese Weise hat sich uns ein neuer Weg geöffnet. Denn bei der Passion treten ganze Familien auf, und dazu gehören auch Kinder. Sie sind meine große Hoffnung, und ich habe keine Bedenken, ob es weitergeht. Hoffentlich wird auch in Zukunft eine Verjüngung stattfinden, so wie es in Deutschland oder Österreich gut gelingt.“
Und diesem Optimismus entsprechend arbeitet man in Hořice derzeit auch an einem Unesco-Eintrag. Die Passionsspiele sollen nach Wunsch des Vereins nämlich bald zum immateriellen Kulturerbe gehören. Der Vorsitzende zum Stand der Dinge:
„Den ersten Schritt haben wir bereits getan. Denn 2022 wurden die Höritzer Passionsspiele als Kulturerbe in die Liste des Kreises Südböhmen aufgenommen. Anschließend haben wir den zweiten Schritt vorbereitet, nämlich den Eintrag in das nationale Register, und der soll im Mai dieses Jahres bewilligt werden. Danach kann, mit einer Empfehlung des Kulturministeriums, der Unesco-Eintrag erfolgen.“
Wanderwege und Museen in und um Hořice
Mit einem Unesco-Stempel könnte den Höritzer Passionsspielen noch größere Bekanntheit zukommen. Schon jetzt gebe es immer wieder Einladungen aus verschiedenen Städten Tschechiens, das Theaterstück auch bei ihnen aufzuführen. Dass dies meist abgelehnt wird, sei keine Frage des Geldes, versichert Kutlák. Vielmehr hätten sich einige Gastspiele in Český Krumlov / Krumau und in Prag nicht wirklich bewährt…
„Viele Beteiligte meinen, dass die Passionsspiele nicht exportiert werden, sondern in Hořice bleiben sollten. Wir wollen vielmehr, dass die Menschen unsere Region besuchen. In Hořice wurde eine Reihe von Kulturdenkmälern restauriert, im vergangenen Jahr etwa der Kreuzweg mit dem Gottesgrab. Dem Zuschauer wird hier nicht nur die Vorstellung geboten, sondern es gibt Museen, Wanderwege und eben den Kreuzweg. Ebenso haben wir den Bildstock und das Gedenkkreuz saniert. Es gibt sieben steinerne Brunnen, die unser Dorf schmücken, und einen der ältesten Pranger der Gegend.“
Und nicht zuletzt kann man in Hořice ein Museum mit historischen Radioempfängern besuchen, was uns von Radio Prag International besonders erfreut.
Die echten Höritzer Passionsspiele sind also weiterhin nur im Böhmerwald zu erleben. Und die Kunde davon scheint – genau wie vor 200 Jahren – auch heute noch vor allem durch Mund-zu-Mund-Propaganda weitergetragen zu werden. Eine Befragung der Zuschauer hat laut Miroslav Kutlák nämlich ergeben, dass ganze 90 Prozent von ihnen auf eine Empfehlung von Bekannten hin den Weg nach Hořice gefunden haben.
Die beiden Aufführungen der Höritzer Passionsspiele finden in diesem Jahr am 8. und 15. Juni statt. Eine Karte kostet 200 Kronen (7,90 Euro). Sie können auf der Website des Vereins bestellt werden. Dort gibt es alle Informationen auch auf Deutsch.
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