Das Oberammergau von Böhmen
Die Passionspiele in Hořice, beziehungsweise die Höritzer Passionsspiele, sind die ältesten und bekanntesten in Tschechien. Die Ursprünge dieses „Oberammergaus im Böhmerwald“ liegen zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Und die Aufführung war verantwortlich für bedeutende Pionierleistungen im Tourismus und im Film.
Zugegeben, ein Spektakel wie in Oberammergau sind die Passionsspiele in Hořice / Höritz nicht. Dennoch sind sie ein fester Termin im tschechischen Veranstaltungskalender und ziehen seit Anfang der 1990er Jahre wieder mehrere Tausend Menschen an. Dabei hatten die Spiele in dem kleinen Böhmerwaldort Glück, denn durch die nationalsozialistische Besatzung und später den Kommunismus waren sie fast in Vergessenheit geraten. Und das nach mehr als 200 Jahren.
Zwei junge Historiker, die Mitte der Nuller-Jahre an der Universität České Budějovice / Budweis zu forschen begannen, haben sich durch einen Zufall von den Passionsspielen in Hořice begeistern lassen. Jan Palkovič ist einer von ihnen:
„Irgendwann im Jahr 2006 sind wir zur Großmutter meines Kollegen und Freundes Ivo Janoušek gefahren. Sie wohnte damals im Hořice. Da sind wir auf den Dachboden gestiegen und kramten uns durch das ganze Gerümpel dort. Uns ist dann ein Buch ins Auge gefallen mit dem Titel ‚Höritz in Böhmerwald und seine Passionsspiele‘. Geschrieben war es auf Deutsch von einem der ehemaligen deutschen Bewohner der Region.“
Allseits bekannt, aber doch irgendwie vergessen
Gerade wegen des Begriffs Passionsspiele kamen die zwei ins Staunen. Denn mit einer so langen Tradition des Spektakels hatten sie nicht gerechnet:
„Das war so ein Buch mit Erinnerungen an das deutsche Leben im Dorf Hořice im Böhmerwald, das ein gewisser Johann Mugrauer geschrieben hatte. Neben zahlreichen alten Fotografien der Gemeinde fanden wir dort auch historische Bilder der Höritzer Passionsspiele. Das hat uns verblüfft, denn für uns als Krumauer waren die schon irgendwie ein Begriff. Aber natürlich nur die modernen Passionsspiele, wie sie heute in Hořice stattfinden.“
Mit seinem Kollegen Ivo Janousek machte sich Jan Palkovič schließlich auf Spurensuche nach den Ursprüngen der Höritzer Passionsspiele. Zunächst aber fiel den beiden Historikern etwas Besonderes auf den Fotos ins Auge: das riesenhafte Theatergebäude, das die Böhmerwaldgemeinde damals dominierte:
„Das Festspielhaus, von dem es auch Bilder in dem Buch von Mugrauer gibt, ist heute buchstäblich vom Erdboden verschluckt. An seiner Stelle findet man heute nur noch eine Wiese. Aus den erhaltenen Dokumenten wissen wir aber, dass der Bau mit seinen 1500 Sitzplätzen rund 80 Meter lang und 20 Meter hoch war.“
Ein ganzes Dorf im Festspielhaus
Heute könne man die Grundrisse des ehemaligen Theaters noch auf Luftaufnahmen sehen, erklärt Palkovič. Entstanden ist es aber erst Ende des 19. Jahrhunderts, weit nach der eigentlichen Geburt der Passionsspiele:
„Erbaut wurde das Festspielhaus in den Jahren 1892 bis 1893. Das ist so ein Meilenstein in der Geschichte der Höritzer Passionsspiele, denn die sind eigentlich viel älter. Davor wurden sie jedoch nicht in einem speziellen Gebäude aufgeführt, sondern in den Festsälen der Höritzer Gasthäuser. Die überhaupt ersten, die sogenannten Gröllhesler Passionsspiele, fanden im Gasthof ‚Zum Teufel‘ statt. Benannt waren sie nach ihrem Gründer Paul Gröllhesler, der im Jahr 1816 mit Unterstützung des damaligen Pfarrers den ersten Text für die Spiele schrieb. Das Geburtsjahr der Höritzer Passionsspiele ist also das Jahr 1816.“
Aufgeführt wurden diese ursprünglichen Passionsspiele bis in die 1880er Jahre. Danach reichten die Kapazitäten der Dorfgasthäuser aber nicht mehr aus:
„Passionsspiele waren in jener Zeit sehr beliebt, weswegen immer mehr Besucher nach Hořice kamen. Deshalb entschied sich der deutsche Böhmerwaldbund in Budweis, damals unter der Leitung von Josef Taschek, zum Bau eines Festspielhauses. Nur zur Illustration: In der ersten Saison der neuen Passionsspiele im Jahr 1893 kamen 40.000 Schaulustige nach Hořice.“
Im Jahr 1938, nach dem Anschluss der Sudetengebiete an Nazi-Deutschland, wurden die Höritzer Passionsspiele das erste Mal verboten. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten sie jedoch keine zweite Blüte, denn die Kommunisten schoben dem katholischen Treiben ebenso einen Riegel vor. Erst Seit 1993 finden die Aufführungen wieder statt und sind mittlerweile zu einem Publikumsmagneten in Südböhmen geworden. Die modernen Passionsspiele von Hořice werden in einem Amphitheater unter freiem Himmel aufgeführt.
Tourismus-Boom im Böhmerwald
Zur vorvergangenen Jahrhundertwende boomte wegen der Passionsspiele nicht nur das spirituelle Leben in Hořice. Der kleine Ort wurde auch ein Vorreiter des Tourismus in Böhmen:
„Die Höritzer haben wirklich an alles gedacht und waren gut vorbereitet auf die Besuchermassen. Die mehreren Tausend Menschen mussten erst einmal irgendwie nach Hořice kommen, deshalb wurden die Bahnverbindungen von beispielsweise Budweis verstärkt, man setzte Sonderzüge ein. Da die Spiele einen ganzen Tag lang dauerten, mussten die ganzen Menschen irgendwo essen und schlafen. In Hořice gab es deshalb elf Gasthäuser. Eines davon befand sich direkt auf dem Festspielgelände, wobei dort laut Aussagen von Zeitzeugen rund 400 Gäste Platz fanden.“
Zum Vergleich: Die Gemeinde Hořice hatte um die Jahrhundertwende knapp 1100 Einwohner.
Doch nicht nur die Gäste mussten verköstigt werden, sondern auch die Schauspieler. Bei den Massenszenen standen laut Jan Palkovič bis zu 80 Darsteller gleichzeitig auf der Bühne. Profis waren das jedoch nicht, sondern einfache Burschen aus dem Umland:
„Bis auf wenige Ausnahmen waren alle Beteiligten an den Passionsspielen Laien, also Bauern oder Händler. Es waren also auf keinen Fall ausgebildete Schauspieler. Diese Amateure haben es neben ihrer Arbeit geschafft, den Text auswendig zu lernen und die Passionsspiele über die Bühne zu bringen. Gerade deshalb ist es schade, dass es keine Tonaufnahmen aus dieser Zeit gibt.“
Alles in allem lohnte sich der Aufwand für das Dorf, denn allein die Einnahmen aus den Eintrittskarten spülten viel Geld in die Kassen der Gemeinde. Die billigste Karte gab es für fünf Kronen, die teuerste wiederum für 30. Dafür bekamen die Zuschauer dann aber auch einen entsprechenden Komfort:
„Die teuersten Plätze, also die für 30 Kronen, waren nicht einfach irgendwelche Bänke. Es waren vielmehr samtbezogene Sessel für die wichtigsten Honoratioren, Geistlichen und Adeligen der Umgebung. Die billigsten Plätze hingegen waren tatsächlich nur Holzbänke für die einfache Bevölkerung.“
Einer der ältesten Filme der Welt
Eine interessante Sache zu den Passionsspielen in Hořice gibt es aber noch. Historiker Palkovič betont, dass sie viel früher weltberühmt wurden als vergleichbare Spektakel in Europa:
„Ob man es glaubt oder nicht: Im Jahr 1897 sind Filmemacher aus den USA nach Hořice gekommen. Also in dieses kleine Dorf im Böhmerwald, in dem sich Bauern und ein paar Händler verkleideten und den Leidensweg Jesu nachstellten. Die Amerikaner sind also nach Hořice gekommen, um die Passionsspiele auf Film festzuhalten.“
Entstanden ist dabei ein Pionierstück:
„Dieser 30-minütige Stummfilm gilt als eine der ersten Filmaufnahmen weltweit. Unter anderem der Kinohistoriker Karel Čáslavský behauptet sogar, dass es sich um die erste Aufnahmen aus Österreich-Ungarn beziehungsweise Tschechien handelt.“
Der Streifen gilt mittlerweile als verschollen. Experten gehen aber davon aus, dass sich noch irgendwo eine Kopie irgendwo in privater Hand befindet.