Bernd Posselt: „Bin in erster Linie Böhme“

Bernd Posselt (Foto: Martina Schneibergová)

Bernd Posselt ist Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe und Bundesvorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Er war Europaparlamentarier und engagiert sich zudem in der Paneuropa-Union. Posselts Vorfahren stammen aus Böhmen, er kommt immer wieder zu Besuch nach Tschechien, ob als deutscher Politiker und Vertriebenenfunktionär oder privat.

Herr Posselt, die Wurzeln Ihrer Familie liegen im nordböhmischen Gablonz. Sind sie mit böhmischen Traditionen aufgewachsen?

Bernd Posselt | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International
„Seit dem 13. Jahrhundert lebten meine Vorfahren in Böhmen. Der erste Posselt wurde in einer Geburtsurkunde in Brünn erwähnt. Es wird von einem Rudolphus Posoldi Filius gesprochen. Das bedeutet, davor muss es auch schon einen Vater mit unseren Namen gegeben haben. Später lebte die Familie eher in Nordböhmen. In der Umgebung von Gablonz (Jablonec nad Nisou, Anm. d. Red.), Reichenberg (Liberec, Anm. d. Red.) und des Isergebirges war Posselt auch einer der häufigsten Familiennamen. Außerhalb dieses Gebietes existiert im Grunde genommen der Name nicht. Falls doch, dann ist dies nur durch Auswanderung oder durch die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg möglich. Meine Geschwister und ich sind absolut in einer böhmischen-österreichischen Atmosphäre aufgewachsen. Meine Mutter kommt gebürtig aus der Steiermark und hat mährische und slowenische Vorfahren. Zudem stammen einige ihrer Urahnen aus Tschechien, genau genommen aus Zentralmähren. Mein Vater ist aus Nordböhmen, aus Gablonz. Ich bin der erste Posselt, der nicht auf dem Boden der ehemaligen k. u. k. Monarchie geboren ist. Zudem bin auch der Erste, der nicht auf dem Gebiet Böhmens zur Welt kam. Bei uns war trotz allem vieles böhmisch-österreichisch geprägt, wie zum Beispiel die Lieder, die Märchen, das Essen und der Humor. Ich gebe das ganz offen zu: Ich lebe in Deutschland, speziell in Bayern, sehr gut, weil wir sehr nah miteinander verwandt sind. Aber ich bin in erster Linie ein Böhme.“

Wann waren Sie zum ersten Mal zu Besuch in Böhmen?

„Der erste Besuch in Böhmen von 1979 hat uns geprägt.“

„Durch die Vertreibung im Zweiten Weltkrieg hat sich mein Vater stets geweigert, noch einmal in seine Heimat zu fahren. In den 1970er Jahren haben wir Kinder dann gesagt, dass wir mit ihm zusammen fahren wollen, solange er noch lebt. Er soll uns seine Heimat zeigen, wo seit Jahrhunderten unsere Urahnen lebten. Er hat sich anfangs geweigert. Doch meine Schwester hat sich dann durchgesetzt. Sie hat ihn gezwungen, mit uns zu fahren. Daher waren wir 1979 dann das erstmal in Gablonz und im Isergebirge. Die Zeit haben wir dennoch genutzt, um auch nach Prag und durch ganz Böhmen zu fahren. Mein Vater war zudem Historiker und wusste wahnsinnig viel. Ich bin noch heute sehr glücklich, dass wir diese Fahrt gemacht haben. Das Land war zwar kommunistisch geprägt, aber wir wussten auch nicht, ob es noch eine Zeit ohne Kommunismus geben würde. Wir sind damals durch das ganze Land gefahren, und die Erfahrung hat uns alle sehr geprägt. Ich bin dafür sehr dankbar.“

Wann haben Sie angefangen, sich politisch und gesellschaftlich zu engagieren?

„Unsere Eltern haben uns zu Anti-Nationalisten erzogen.“

„Als Erstes waren meine Eltern leidenschaftliche Europäer. Sie waren gegen den Nationalismus. Auch als sie noch jung waren, herrschte bei ihnen ein Nationalismus. Doch dieser ist auf allen Seiten nicht gut. Erst dadurch wurden unsere Familie, unsere Heimat und unser Leben zerstört. Unsere Eltern haben uns zu gläubigen Christen sowie zu überzeugten Anti-Nationalisten erzogen. In erster Linie sind wir Europäer. Auch dafür bin ich meinen Eltern sehr dankbar. Mit 14 Jahren habe ich dann angefangen, mich für die europäische Einigung zu engagieren. Es war eher eine Konsequenz aus der Vertreibung, dass ich mich weniger für Sudetendeutsche engagierte, sondern mehr für den paneuropäischen Zusammenschluss. Daher habe ich 1975 die Paneuropa-Jugend gegründet, zu dieser Zeit war ich 19 Jahre alt. Auch in der Schule habe ich mich sehr für das Thema Europa eingesetzt. Mein landsmannschaftliches Engagement begann 1976, als ich mit meinen 20 Jahren zum ersten Mal auf einen Sudetendeutschen Tag gegangen bin.

Jablonec nad Nisou  (Foto: Matěj Baťha,  CC BY-SA 3.0)
Dieses Jahr war ich zum 40. Mal bei dem Sudetendeutschen Tag. Seit vierzig Jahren habe ich mich für die Landsmannschaft engagiert. Interessant ist aber, dass wir von Zuhause aus sudetendeutsch geprägt wurden. Mein Vater hat die Isergebirgs-Rundschau abonniert, die wir auch als Kinder gelesen haben. Wir haben auf den Schößen der Eltern und Großeltern gesessen und schauten uns die Bilder von Böhmen an. Aber meine Eltern sowie meine Großeltern waren nicht landsmannschaftlich engagiert und waren in nicht der Landsmannschaft. Ich habe erst später meine Familie dafür geworben.“

Ich habe Sie erstmals kurz nach der Wende getroffen, als Otto von Habsburg einen Vortrag an der Philosophischen Fakultät in Prag gehalten hat. Waren Sie im Auftrag der Paneuropa-Union da?

„Ich habe ‚Havel na Hrad‘ gerufen.“

„Ich muss in erster Linie sagen, dass ich Otto von Habsburg 1975 kennengelernt habe. Danach habe ich die Paneuropa-Jugend gegründet. Im Jahr 1978/79 habe ich dann seinen Wahlkampf für das erste direktgewählte Europaparlament organisiert. Später war ich in Straßburg sein persönlicher Assistent und sein Pressesprecher. Ab den 1980er Jahren habe ich dann angefangen, im Auftrag der Paneuropa-Union hinter dem Eisernen Vorhang herumzureisen, um Kontakte mit Bürgerrechtlern zu knüpfen – Otto von Habsburg konnte das selbst nicht tun. Das Ziel war eine Zusammenarbeit mit den Freiheitsbewegungen hinter dem Eisernen Vorhang. Daher habe ich beispielsweise auch mit der tschechischen Untergrunduniversität gesprochen. Es war eine faszinierende Zeit. Als dann die Samtene Revolution anfing, war ich in Prag. Ich hatte den Schlüssel vom Münchner Paneuropa-Büro dabei, und zusammen mit den anderen habe ich auf dem Wenzelsplatz mitgeklingelt. Ich habe auch gerufen: ‚Havel na Hrad‘.

Otto von Habsburg  (Foto: Nvpswitzerland,  CC BY-SA 3.0)
Danach bin ich zurückgefahren und habe Otto von Habsburg meine Eindrücke geschildert. Daraufhin wollte er, dass ich seine erste Reise nach Böhmen organisiere. Diese fand dann im März 1990 statt. Damals hat er einen Vortrag an der Karlsuniversität gehalten. Otto von Habsburg sagte dabei etwas, das ich nie vergessen werde: ‚Dieses Land hat ein Erstgeburtsrecht auf Europa.‘ Denn in Ronsberg, auf Tschechisch Poběžovice, ist die Paneuropa-Bewegung mit seinem Vorgänger Richard Graf Coudenhove-Kalergi entstanden. Er war immer überzeugt, dass das geistig-politische Herz Europas in Böhmen liegt. Dem stimme ich auch zu. Wobei andere eine Gegenmeinung haben. Zum Glück bin ich aber nicht der Einzige, der so denkt.“

Ich würde sagen, dass sich in der tschechischen Öffentlichkeit die Stimmung in Bezug auf die tschechisch-deutschen in den letzten Jahren stark verändert hat. Würden Sie dem zustimmen?

„Ich finde, dass die Veränderung enorm ist. Wobei ich mich über die Veränderung sehr freue und wir nicht diejenigen auf beiden Seiten vergessen sollten, die jahrzehntelang darauf hingearbeitet und den Mut nie verloren haben. Dabei schien es lange Zeit nicht so, dass sich das Verhältnis bessern würde. Einige Leute haben dennoch zur Zeit des Kommunismus unter großen Gefahren darauf hingearbeitet. Sie haben nach dem Krieg gegen Nationalismus und Vorurteile gekämpft. Nun ernten wir die Früchte. Was Havel und andere Bürgerrechtler eingeleitet haben, das wird jetzt fruchtbar. Darüber bin ich sehr glücklich. Die Rede vom Kulturminister Daniel Herman beim Sudetendeutschen Tag, der Brünner Lebensmarsch oder was die Stadt Brünn unter dem Oberbürgermeister Vokřál getan hat – das waren alles historische Veränderungen.“

Ich habe manchmal den Eindruck, dass dies erst später einmal geschätzt wird. Was meinen Sie?

„Es ist ja meistens so: Wenn sich Dinge positiv verändern, dann waren alle dabei. Aber solange die Arbeit getan werden muss, damit die Dinge sich positiv verändern, ist man relativ allein.“