Berufsbildung verpasst den digitalen Anschluss
Digitalisierung, Automatisierung, Optimierung, kurzum Industrie 4.0. Darüber kann man auch in Tschechien immer öfter hören und lesen. Debatten, Konferenzen oder Presseartikel werfen viele Fragen auf. Unter anderem geht es um die Lage bei der staatlichen Ausbildung an den Berufsoberschulen.
Pavel Kysilka ist ehemaliger Gouverneur der Tschechischen Zentralbank, er beschäftigt sich seit zwei Jahren mit dem Thema. Kysilka hat die „3D Academy“ gegründet, sie soll tschechischen Firmen dabei helfen, sich auf den technologischen Wandel in der Wirtschaft vorzubereiten. Am Rande der Konferenz sagte er gegenüber dem Tschechischen Rundfunk:
„Bei der Einführung von Robotern und künstlicher Intelligenz in Firmen befinden wir uns zum Beispiel im Vergleich zu Deutschland, Singapur oder Japan am gegenüberliegenden Pol. Doch in den vergangenen zwei Jahren sind die Investitionen in diese Technologien hierzulande sehr stark angewachsen. Ich halte dies für ein Signal des Aufbruchs in neue Zeiten. Bessere Zeiten will ich sie aber noch nicht nennen. Gleichzeitig kann man beobachten, wie immer mehr Firmen bewusst wird, dass ihre Zukunft in einer Zusammenarbeit mit Schulen liegt. Dies betrifft sowohl die Forschung und Entwicklung, als auch die Ausbildung von Nachwuchs für den eigenen Bedarf. Diesbezüglich bin zurückhaltend optimistisch. Es zeigt sich, dass dies auch bei uns möglich ist.“
In einem Gespräch für den Internetserver „Lidovky“ sagte Kysilka im Januar 2017: Tschechien stehe aktuell vor mindestens denselben Herausforderungen wie vor 30 Jahren beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Doch das hiesige Schulwesen sei der größte Hemmschuh. Es bilde junge Menschen eher für das 19. Jahrhundert aus als für das 21.
Tschechiens Schulsystem plagt der Stillstand
Seitdem hat sich nicht viel geändert. Besonders die Ausbildung in den Betrieben und an den Berufsoberschulen lässt vieles zu wünschen übrig. Die Wurzeln dafür liegen allerdings tief.Die Klagen Kysilkas sind aber nicht neu. Bereits 2008 veröffentlichte die Zeitung „Učitelské noviny“, ein Blatt für Lehrkräfte, einen Artikel dazu. Dieser bezeichnete besonders die Qualität der Ausbildung an Berufsoberschulen hierzulande als „langfristig alarmierend“. Unterzeichnet war der Beitrag vom Böhmisch-Mährischen Gewerkschaftsverband der Beschäftigten im Schulwesen.
„Während strategische Dokumente der EU fordern, dass das Berufsschulwesen tatkräftig unterstützt werden sollte, hemmen die tschechischen Planungskonzepte dieses. Langfristig wird die Allgemeinbildung auf Kosten der fachberuflichen Bildung und Fachpraxis gefördert.“
Verstärkt werde die Misere noch durch die demographische Entwicklung, so der Gewerkschaftsverband damals. Der Geburtenrückgang träfe da auf das sinkende Interesse von Schülern und Eltern an der praktischen Berufsausbildung, und der Staat sehe dem tatenlos los zu. Deswegen appellierten die Arbeitnehmervertreter an Bildungsministerium, Regierung und Regionalpolitiker, unverzüglich eine Kehrtwende einzuleiten. Die zuständigen Ressorts wurden unter anderem dazu aufgerufen, enge Kooperationen zwischen Berufsoberschulen und Unternehmen zu fördern. Bis heute sind die Rahmenlehrpläne aber nicht überarbeitet worden.
„Wir reagieren auf die technologische Entwicklung. Deswegen haben wir in den vergangenen zwei Jahren vieles in die Unterrichtsbereiche Automatisierung, Robotisierung, Naturwissenschaften und Technologien im Maschinenbau integriert.“
Das sagte Josef Maryáš im Sommer 2018 gegenüber Radio Prag. Er leitet zwei weiterführende Schulen im südmährischen Slavičín: ein Gymnasium und eine Berufsoberschule (mit tschechischer Abkürzung SOŠ). Über das Angebot der Letzteren sagt er:„Wir bieten in zwei Fächern ein Fachabitur an: in Mechatronik, also der Programmierung von CNC-Maschinen, und in Informationstechnologie. Darüber hinaus gibt es dreijährige klassische Lehren: als Installateur, Elektriker, Automechaniker und Metallbearbeiter.“
Die Berufsoberschule wurde 2012 mit dem Gymnasium von Slavičín zusammengelegt. Sie blickt auf mehr als 50 Jahre Geschichte zurück. Darin spiegelt sich auch die industrielle Entwicklung nach der politischen Wende von 1989. Josef Maryáš:
„Unsere Berufsoberschule war nach ihrer Gründung eine Zeitlang eine Berufsschule der früheren Maschinenbauwerke Vlárské strojírny. Diese Fabrik war benannt nach ihrem Standort am Fluss Vlára, und sie stellte Waffen sowie Maschinen für die Textilindustrie her. Beim Übergang zur Marktwirtschaft ab 1990 brachen auch bei uns in der Region die traditionellen Industriestrukturen auseinander. Das betraf ebenso die Waffenfabrik in Slavičín, die bis dahin die Berufsschule materiell, technisch und fachlich unterstützt hatte. Nun war dies aber nicht mehr möglich, und die Berufsschule geriet in der Folge unter starken finanziellen Druck. Das galt übrigens für das gesamte Berufsoberschulwesen hierzulande. Die heutigen Probleme gehen also wohl in der einen oder anderen Form auf die zerstörerischen Prozesse in der Industrie in den 1990er Jahren zurück.“
Vorbild Vergangenheit?
Beim Rüstungsbetrieb „Vlárské strojírny“ waren kurz vor der Wende über 2300 Menschen beschäftigt gewesen. 1995 ging das Unternehmen in den Konkurs – und mit ihm viele weitere Betriebe in der Region.Wie aber kommt das tschechische Berufsoberschulwesen heute aus der Klemme? Schulleiter Maryáš findet, dass die Firmen in den Ausbildungsprozess eingebunden werden sollten.
„Ob man dies als duale Ausbildung bezeichnet oder anders, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, dass der Staat größere Firmen dazu motiviert, in eine engere Kooperation mit den Schulen zu gehen. Das sollten nicht nur fest integrierte Praxiseinsätze der Schüler im jeweiligen Unternehmen sein. Ebenso erforderlich ist auch der Einsatz hauseigener Fachkräfte als Ausbilder im fachtheoretischen Schulunterricht. Tschechien steht in absehbarer Zeit vor einem großen Generationenproblem in der Berufsbildung. Denn die erfahrenen und gut ausgebildeten Beschäftigten der heutigen Altersgruppe 55 plus werden in den Ruhestand gehen.“
Deswegen sei es unumgänglich, ein entsprechendes Berufsbildungskonzept einzuführen, so Maryáš. Dabei sollte man sich auch von Deutschland inspirieren lassen.
„Die deutsche duale Bildung ähnelt dem Modell beruflicher Bildung, das wir hierzulande in den 1970er und 1980er Jahren hatten. Ich persönlich sehe die Lösung für die heutige Lage hierzulande darin, die Kooperation zwischen Schulen und Firmen zu erneuern. Allerdings sollte man in keinem Fall zur einstigen Gestaltung der Lehre zurückkehren. Die Ausbildung muss den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sein und selbstverständlich auch im Einklang stehen mit den demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft.“
Und was ist in den letzten Jahren in der Fachoberschule Slavičín konkret gelungen?
„Vielleicht klingt es etwas hochmütig, wenn ich sage, dass unsere Schule im Vergleich mit anderen materiell und technisch relativ gut ausgestattet ist. Wir werden aber wohl kaum selbst unsere Schüler in technologische Programme einführen können, die den Schwerpunkt der Industrie 4.0 bilden. Daher müssen wir mit Firmen kooperieren. Das sind Maschinenbaufirmen, die auf den internationalen Markt ausgerichtet sind und eine Vision haben. Ich spreche jede Woche mit Firmenvertretern, die sich über die Bedeutung von Automatisierung im Klaren sind.“In den zurückliegenden fünf Jahren ist es dem Schulleiter gelungen, verschiedene Quellen anzuzapfen. Dies waren zum Beispiel regionale Projekte für Umweltschutz oder operative Programme für Forschung und Wissenschaft. So sind insgesamt fast 100 Millionen Kronen (knapp vier Millionen Euro) zusammengekommen. Die Berufsoberschule in Slavičín ist zweifelsohne eines der erwähnten positiven Beispiele, das den Schülern die Tür zur Welt des technologischen Wandels bereits geöffnet hat.