Bischof Václav Malý – Moderator der Massendemonstrationen von 1989

Václav Malý (Foto: Zbyněk Pecák, Archiv des Tschechischen Rundfunks)

Heute ist er Weihbischof in Prag, der Großteil der tschechischen Bevölkerung verbindet ihn jedoch mit den Massendemonstrationen vom November 1989. Václav Malý hat als Priester die Charta 77 unterzeichnet und für sein Engagement fast ein Jahr lang im Gefängnis gesessen. Während der Samtenen Revolution moderierte er die Kundgebungen auf dem Wenzelsplatz und im Letná-Park. Radio Prag hat mit Bischof Malý über die Novembertage von 1989 gesprochen.

Václav Malý  (Foto: Zbyněk Pecák,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Herr Bischof Malý, Sie gehören zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Samtenen Revolution im Jahre 1989, viele Tschechen kenne Sie als den Priester, der damals die großen Demonstrationen moderiert hat. Ich würde eigentlich sagen, dass sie eher den Eindruck eines introvertierten Menschen machen. Wie kam es denn dazu, dass sie damals zu Hundertausenden von Menschen gesprochen haben?

„Es war ein ausgesprochener Zufall. Meine Freunde sagten, ich hätte doch Erfahrungen mit Journalisten. Denn viele westliche Journalisten haben mich zu dieser Zeit besucht und um Interviews gebeten. Meine Freunde meinten, ich sei katholischer Priester, ich könne reden. Aber sie hatten mich nie in der Öffentlichkeit gehört. Als Priester durfte ich jahrelang nicht in der Öffentlichkeit auftreten. Zwar habe ich meine priesterliche Tätigkeit in den Wohnungen fortgesetzt, aber nicht in Kirchen oder in der Öffentlichkeit. Aber dennoch waren sie sehr überzeugt und so wurde ich dann zum Sprecher und Moderator der Demonstrationen auf dem Wenzelsplatz und dann später im Letná-Park.“

Václav Malý 1989  (Foto: ČT24)
Wo waren Sie am Tag, an dem alles begann, am 17. November? Waren Sie in Prag?

„Ich war nicht in Prag. Ich hatte lange vorher Freunden in Nordmähren versprochen, sie zu besuchen. Sie brauchten Ermutigung. Ich wusste von den Vorbereitungen der Studenten für den 17. November, aber ich habe Prag verlassen und besuchte meine Freunde in Šumperk / Mährisch Schönberg und in Jeseník / Freiwaldau. Und ich bin am Sonntag, den 19. November nach Prag zurückgekehrt. Als ich auf den Wenzelsplatz kam, sah ich mehrere Menschen, die sich dort versammelt hatten. Schon am Sonntagabend entstand im Theater Činoherní klub das Bürgerforum. Vorher war ich zu Besuch in der Wohnung von Václav Havel. In einer kleinen Gruppe hatten wir uns dort gesagt, wir müssten etwas gründen. Es waren dann viele wichtige Menschen in den Klub eingeladen, wo das Bürgerforum gegründet wurde. Also, das ging sehr schnell, das hätte ich zuvor nicht erwartet. Und am Dienstag wurde ich schon zum Moderator auf dem Wenzelsplatz.“

Palach-Woche im Januar 1989  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Wann haben Sie wirklich zu hoffen begonnen, dass das kommunistische System zusammenbricht? Die Mauer war zu dem Zeitpunkt schon gefallen, in Polen und Ungarn gab es große Veränderungen, aber bei uns war nicht viel geschehen.

„Bei uns ist nichts geschehen. Während des Jahres 1989 gab es mehrere Aufforderungen zu Demonstrationen, zum Beispiel in der sogenannten Palach-Woche (im Januar 1989, Anm. d. Red.) und dann im August und Oktober. Aber dazu sind nur ein paar tausend Menschen gekommen, vor allem die Älteren und die Studenten – aber nicht die mittlere Generation. Die Leute haben geschimpft und geschwiegen. Deshalb war es im November 1989 für mich eine Überraschung. Ich hatte nicht so einen schnellen Verlauf der Geschehnisse erwartet. Denn die wirtschaftliche Lage in der Tschechoslowakei war im Vergleich mit den Nachbarn nicht so schlimm, im Vergleich etwa zu Polen, Ungarn oder Rumänien.“

Petr Miller  (Foto: Public Domain)
Was war ausschlaggebend, wann wussten Sie, jetzt ist es so weit?

Das war am Mittwoch. Ein Arbeiter Petr Miller, später Minister für soziale Angelegenheiten, hat 10.000 Arbeiter auf den Wenzelsplatz gebracht. Das war meiner Meinung nach entscheidend. Die Kommunisten konnten nun nicht mehr sagen, das sei nur die Sache der Intellektuellen, der Staatsfeinde. Denn diese Demonstranten haben immer wiederholt, dass sie Repräsentanten der Arbeiterklasse seien. Und trotzdem sind so viele Arbeiter gekommen. So kam es zu einer Verbindung der Arbeiter, der Intellektuellen und allen anderen. Das war meiner Meinung nach psychologisch entscheidend. Und dann hat der damalige kommunistische Ministerpräsident Adamec Moskau besucht und da hat man ihm gesagt: ´Wir werden nicht eingreifen. Das ist Ihre Sache´. Das war meiner Meinung nach auch entscheidend.“

Charta 77
Wie war ihr Weg in die Dissidentenbewegung? Sie haben schon während des Theologiestudiums die Organisation „Pacem in terris“ kritisiert, der Priester angehörten, die mit dem Regime kollaborierten.

„Ja, ich habe die Bewegung ´Pacem in terris´ kritisiert, dass sie die Kirche missbrauchen würde. Und ich hatte Probleme damit, die Priesterweihe zu erhalten. Schließlich wurde ich doch geweiht. Bald danach habe ich die aber die Charta 77 unterzeichnet, und das bedeutete das Ende für mich als Priester. In der Öffentlichkeit habe ich nach der Weihe nur zwei Jahre gewirkt. Aber meine Entscheidung war eindeutig, denn ich konnte zu der damaligen konkreten Lage nicht schweigen. Ich war nach der Priesterweihe in Vlašim und in Plzeň / Pilsen tätig, die Seelsorgearbeit dort fand ich ausgezeichnet. Aber außerhalb der Kirche herrschte ein sehr hartes System. Daher sagte ich mir: du predigst sehr schön, du ermutigst Menschen, aber auf der anderen Seite schweigst du zur konkreten Situiation, in der sie leben. Darum entschied ich mich, die Charta 77 zu unterzeichnen.“

Václav Havel  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Sie waren aber auch Mitbegründer des VONS - des Ausschuss für Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten…

„Ja, ich gehörte 1978 zu den Gründungsmitgliedern. Damals habe ich Václav Havel das erste Mal persönlich getroffen.“

Und danach verbrachten Sie fast ein Jahr lang im Gefängnis. Was war das für eine Erfahrung?

„Das war wirklich schwierig. Ich saß mit drei Mördern in einer Zelle. Aber das hat mir geholfen zu verstehen, dass andere Menschen anders sind und dennoch eine menschliche Würde haben. Ich musste mit ihnen kommunizieren und konnte nicht sagen, ich bin besser, ich bin unschuldig. Selbstverständlich waren sie schuldig, aber sie waren dennoch Menschen. Und in dieser kleinen Zelle konnte ich nirgendwohin flüchten, ich konnte nicht weggehen. Das hat mir geholfen, zu lernen auch mit Menschen zu kommunizieren, die nicht so sympathisch sind. Das hat mir auch für meinen heutigen Dienst geholfen. Auch heute treffe ich nicht nur angenehme Menschen. Trotzdem muss man mit ihnen sprechen und mit ihnen Probleme lösen.“

Sie stehen auch an der Spitze der tschechischen Kommission von „Justitia et Pax“ (Gerechtigkeit und Frieden) und im Rahmen dieser Tätigkeit haben Sie mehrere Länder besucht und versucht, den dortigen Regimegegnern zu helfen. Meinen Sie, dass es für uns Tschechen eine Verpflichtung ist, denjenigen unter die Arme zu greifen, die genauso oder schlimmer dran sind, wie wir es vor der Wende waren?

Foto: sakhorn38,  FreeDigitalPhotos.net
„Ich halte es für meine persönliche Verpflichtung. Von Menschen aus der früheren demokratischen Welt habe ich selbst viel Hilfe erhalten. Viele haben mich besucht – aus Deutschland, Kanada, den Vereinigten Staaten und Frankreich. Sie sagten mir damals, dass sie von mir wüssten, und dass sie ihre Solidarität mit mir ausdrücken wollten. Heute setze ich diese Tätigkeit fort. Es gibt viele Länder, in denen die Menschenrechte nicht respektiert werden. Ich fühle mich verpflichtet, diese schikanierten und leidenden Menschen zu besuchen und sie zu ermutigen. Es geht mir darum, ihnen zu zeigen, dass man ihnen beisteht und Solidarität und Bewunderung ausdrückt: Bitte, halten Sie aus! Das ist alles. Ich bin kein Messias, ich bin kein Retter und kein Heiland, ich bin nur ein ganz normaler tschechischer Bürger, der schikaniert und unterdrückt wurde und der weiß, was der Kampf für eine menschliche Gesellschaft bedeutet. Das ist das Geheimnis meiner Besuche in diesen Ländern. Ich besuche nicht nur Christen und Kirchen, sondern auch die Familien der politischen Gefangen und die Verfolgten.“

Wende in der ČSSR  (November 1989). Foto: Tschechisches Fernsehen
Meinen Sie, dass die Leute 25 Jahre nach der Wende die Freiheit zu schätzen wissen?

„Ich glaube nicht allzu sehr. Aber ich will nicht verallgemeinern, man muss immer die Individuen sehen. Unsere Gesellschaft ist jedoch sehr passiv. Tschechen und Slowaken haben nicht um die Freiheit gekämpft – im Unterschied zu den Polen oder zu den Ungarn. Die Freiheit ist uns sozusagen in den Schoß gefallen. Das muss man aufrichtig zugeben. Deswegen wird die Freiheit nicht hoch geschätzt. Wir sagen manchmal, dass sie unser Verdienst sei, aber das stimmt nicht. Es ist vor allem ein Verdienst der Polen, der veränderten internationalen Lage und ein Verdienst der kleinen Gruppierungen, die vor der Wende in der ČSSR gewirkt haben. Das ist kein Lob oder Stolz, das ist die Konstatierung der Lage.“

Archiv der Geheimdienst StB
Wie stehen sie zu der Verharmlosung der Mitgliedschaft beim kommunistischen Geheimdienst StB, wie es heute gang und gäbe ist?

„Es ist sehr schlimm, zu vergessen. Es geht mir nicht um Rache. Es geht nicht um Vergeltung. Aber ihre Taten waren schlimm und eine schlimme Tat muss man benennen. Das hilft auch in der Gegenwart. Vergessen ist kein guter Ratgeber. Darin steckt auch eine persönliche Entschuldigung der Mehrheit der Bevölkerung: ´Wir sind auch mitschuldig, also halten wir uns davon fern´.

November 1989  (Foto: ŠJů,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Hätten Sie aus heutiger Sicht in den ersten Tagen nach dem 17. November anders gehandelt, wenn Sie die Möglichkeit hätten?

„In den ersten Tagen habe ich vor allem darauf gedrängt, dass diejenigen bestraft werden, die Verbrechen gegen die Humanität verübt hatten, die etwas Schlimmes gemacht hatten. Doch das ist nicht passiert. Dadurch wurde das Rechtsempfinden der Bevölkerung geschwächt. Das war einer der damaligen Hauptfehler. Dass etwa die Angehörigen des Geheimdienstes StB nicht bestraft wurden. Dabei gab es konkrete Beweise, dass sie inhuman gehandelt, Unschuldige verfolgt, schikaniert und geschlagen haben.“

Haben Sie sich in den Menschen geirrt?

„Selbstverständlich habe ich mich in der Beurteilung verschiedener Menschen geirrt. Damit meine ich die Menschen, die in die Politik gegangen sind. Von einigen hätte ich mehr erwartet. Einige – nicht alle – haben mich enttäuscht.“