Blick nach vorn: Was können die Tschechen vom Jahr 2004 erwarten?

Foto: Europäische Kommission

Das Jahr 2004 ist ein bedeutendes wie lange nicht für die Bürger der Tschechischen Republik. Denn nach der politischen Wende im Spätherbst 1989 und der Teilung der damaligen Tschechoslowakei zum 1. Januar 1993 steht den Tschechen sowie den hierzulande lebenden Ausländern mit dem EU-Beitritt das dritte bedeutungsvolles Großereignis innerhalb von knapp 15 Jahren ins Haus. Die am 1. Mai eintretende Mitgliedschaft in der Europäischen Union sowie die damit verbundene erstmalige Teilnahme an der im Juni stattfindenden Wahl des Europaparlaments werfen natürlich einige Fragen auf, die es zu beantworten gilt. Lothar Martin ist einigen dieser Fragen nachgegangen und versucht, Ihnen einen Einblick darüber zu geben, wie sich die Bürger Tschechiens mit ihrer neuen Rolle im sich weiter vereinigenden Europa auseinander setzen wollen.

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Bevor wir uns mit der Zukunft beschäftigen, werfen wir noch einmal einen kurzen Blick zurück. Aus gutem Grund, denn ohne den Mitte Juni 2003 hierzulande durchgeführten Volksentscheid, stünde die Tschechische Republik heute wohl kaum bereits an der Schwelle der EU-Mitgliedschaft. Hier nochmals zur Erinnerung: Knapp 8,3 Millionen der etwas mehr als zehn Millionen Tschechen waren bis zum Tag des Referendums 18 Jahre alt und damit wahlberechtigt. Zwar verzichteten rund 3,8 Millionen auf ihre Stimmenabgabe, so dass die Wahlbeteiligung nur bei etwas über 54 Prozent gelegen hat, doch von den an die Abstimmungsurne getretenen Wählern stimmten über 77 Prozent mit einem "Ja zu Europa". Damit war beschlossen, was in genau vier Monaten vollzogen werden wird: Der Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union. Doch wie das Abstimmungsergebnis beim Referendum klar aufgezeigt hat, hält sich die Begeisterung der Böhmen, Mähren und Schlesier für die europäische Staatengemeinschaft ziemlich in Grenzen. Das wird nicht zuletzt durch eine im November 2003 von der Prager Agentur CVVM durchgeführten und Anfang Dezember veröffentlichten Umfrage verdeutlicht, nach der die Mehrheit der Tschechen von der EU-Mitgliedschaft wirtschaftlich mehr Nachteile als Vorteile erwartet. Und zwar deshalb, weil man hierzulande einen mit dem EU-Beitritt verbundenen kräftigen Preisanstieg befürchtet und demgegenüber nur ganz im Stillen hofft, dass auch die Löhne entsprechend ansteigen werden. Doch wovon, muss man fragen. Wir fragten daher einen Experten, nämlich den Politologen Bohumil Dolezal, ob diese Befürchtungen denn seiner Meinung nach berechtigt seien:

"Also, ich bin überzeugt, dass es ein bisschen übertrieben ist. Diese Gefühle der tschechischen Öffentlichkeit hängen mit einem gewissen Hang zur Skepsis zusammen, der in der tschechischen Gesellschaft herrscht. Meiner Meinung nach wird es vielleicht möglich sein, dass wir am Anfang kleine Nachteile erleiden müssen, aber in der mittelfristigen und langfristigen Perspektive wird es für unser Land sehr, sehr vorteilhaft sein."

Einige der befürchteten, aber letzten Endes doch schon zwangsläufig zu Beginn eines jeden Jahres in Kraft tretenden Preissteigerungen spürt der hiesige Bürger bereits mit dem heutigen Neujahrstag. Am deutlichsten sind die Preisanstiege bei Benzin, Zigaretten, Alkohol und insbesondere beim Telefonieren. Gerade das Telefonieren und das Surfen im Internet ist jetzt wesentlich teurer, da diese Dienstleistungen nunmehr der oberen Mehrwertsteuer unterliegen, sprich: anstatt wie bisher nur fünf Prozent, werden ab sofort 22 Prozent Mehrwertsteuer auf jedes Telefonat bzw. die Verweilzeit im Internet erhoben. Dies ist, wenn man so will, bereits eine direkte Auswirkung des bevorstehenden Beitritts, da Tschechien seine zuvor landesüblichen Steuern im Zuge des Beitrittsprozesses inzwischen auf die laut EU-Legislative geltenden Richtlinien umstellen musste.

Umstellen wollen sich auch viele Tschechen, was die Suche eines Arbeitsplatzes anbelangt. Die Europäische Union bietet den sprachlich und fachlich dafür qualifizierten Arbeitnehmern nunmehr die Möglichkeit, bei entsprechender Eignung auch einen Job in einem der 15 bereits existierenden EU-Staaten auszuüben - mit Ausnahme der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, die aus Besorgnis über eine allzu große Arbeitnehmerschwemme aus den östlichen Nachbarländern auch der Tschechischen Republik eine bis zu sieben Jahre währende Übergangsfrist, sprich: einen noch für diesen Zeitraum geltenden Arbeitsplatzstopp auferlegt haben. Der bereits erwähnten Umfrage zufolge hatte jedoch nur etwa ein Drittel der Befragten - vornehmlich junge Leute - grundsätzlich Interesse an einer Arbeitsstelle in einem anderen EU-Land geäußert. 40 Prozent hingegen wollen auch weiterhin einer Beschäftigung in Tschechien den Vorzug geben. Die Hälfte davon würde auch dann in Tschechien bleiben, wenn sie ein konkretes Angebot aus einem anderen EU-Land hätte. Wird sich der Run der Tschechen auf einen außerhalb des Landes liegenden Arbeitsplatz daher buchstäblich in Grenzen halten oder werden sie davon im Übermaß Gebrauch machen? Hier die Meinung von Bohumil Dolezal:

"Ich bin der Meinung, bei uns haben die Leute keine großen Erfahrungen mit der Wanderung bei der Arbeitssuche. In den langen Jahren des Kommunismus war dies überhaupt nicht möglich, die Leute sind nicht daran gewöhnt. Ich bin überzeugt, dass dieses Phänomen allmählich auch bei uns ansteigen wird, aber nicht in solch einem Maße, dass es die tschechischen wirtschaftlichen Verhältnisse in gewissem Sinne bedroht. Das befürchte ich nicht."

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Eine nicht ganz unwesentliche Rolle bei der Herausbildung einer Meinung bzw. Betrachtungsweise der Europäischen Union spielt auch der tschechische Präsident Václav Klaus. Der als EU-Skeptiker bekannte Politiker hatte bereits im Vorfeld des gescheiterten EU-Gipfels in Brüssel die im Entwurf des Europäischen Konvents vorliegende europäische Verfassung grundsätzlich abgelehnt. Klaus verweist immer wieder darauf, dass Tschechien mit dem Beitritt zur Union auch ein gehöriges Maß seiner nationalen Souveränität aufgeben müsse und mit verstecktem Unterton will er darauf hinweisen, dass Europa nicht mit einer einzigen Zunge spreche, will sagen, dass große Länder wie Deutschland oder Frankreich in ihr den Ton angeben und andere, so auch Tschechien, nur die zweite Geige spielen dürfen. Ist es quasi nicht auch ein "Verdienst" von Klaus, wenn viele Tschechen den EU-Beitritt recht skeptisch beäugen? Und: Woran werden es die Tschechen festmachen, dass sie mit der EU-Mitgliedschaft eines Tages zufriedener sein werden, als sie es jetzt womöglich sind? Auch zu diesen beiden Fragen bezog Bohumil Dolezal Stellung:

"Selbstverständlich ist es so, dass der Präsident, der eine große Popularität genießt, die öffentliche Meinung beeinflusst. Außerdem ist es so, dass die Leute bei uns nicht geneigt sind, daran zu glauben, wenn wir in eine Gemeinschaft eintreten, dass sich damit bereits etwas Wesentliches ändern wird. Auch in der Europäischen Union wird es im Wesentlichen von uns abhängen, wie sich die wirtschaftliche und soziale Situation hier entwickeln wird. Außerdem sehen die kleinen Staaten ihre Mitgliedschaft im Großen und Ganzen ein wenig anders als die großen, damit muss man rechnen. Ich bin allerdings auch der Meinung, dass in gewissem Maße die Befürchtungen von Klaus durchaus begründet sind, nicht was die Reduzierung der nationalen Souveränität anbelangt, sondern vielmehr in dem Sinne, dass das Projekt der europäischen Verfassung ein bisschen zu radikal und zu verfrüht gewesen ist."

Soweit Bohumil Dolezal. Wir bitten die Nebengeräusche bei dem mit ihm geführten Telefonat zu entschuldigen. Ob es möglicherweise auch größere oder kleinere Nebengeräusche geben wird, die mit dem EU-Beitritt der Tschechischen Republik verbunden sind, darüber werden wir Sie im gegebenen Fall auch in diesem Jahr wieder in aller Ausführlichkeit informieren.