Abschied vom tschechischen Speisewagen: Auf ein vorletztes Schnitzel mit Pavel Peterka
Der Speisewagen der Tschechischen Bahnen (ČD) ist eines der beliebtesten Exportprodukte des Landes. Auf der Strecke von Prag nach Dresden und Berlin werden demnächst allerdings neue Bistrowagen eingesetzt. „Modern“ nennen sie die einen, „seelenlos“ die anderen. Unser Redakteur gehört zu denjenigen, die den alten Wagen jetzt schon hinterhertrauern – und ist deshalb noch einmal mitgefahren.
Wenn die Zeit, die taz, der Tagesspiegel und der Economist über einen Eisenbahnwaggon berichten, dann muss daran etwas Besonderes sein. Und ja: Der tschechische Speisewagen vom Typ WRmz815 ist besonders.
Die Presse nennt ihn oft „Knödelexpress“. Doch in Wirklichkeit hat kein Mensch in der Welt diesen Wagen jemals so bezeichnet. Im Tschechischen spricht man vielmehr vom „jídelní vůz“, oder eben kurz vom „jídelák“. Und im Deutschen nenne ich meinen geliebten Speisewagen nur „Speisi“.
Wie oft ich schon im Speisi gesessen und gedankenversunken auf das Elbtal geschaut, wie viele Biere ich dort schon getrunken, wie viele Schnitzel schon gegessen habe, das weiß ich nicht. Gewissheit ist hingegen, dass ganz bald schon Schluss sein wird mit dieser Oase der Gastlichkeit, die schon Tausende, Zehntausende, wenn nicht gar Millionen von Reisenden schätzen und lieben lernen durften.
Höchste Zeit, noch einmal – so wie all die anderen Journalisten auch – mit dem Mikrophon mitzufahren und Abschied zu nehmen.
Auf Umwegen zum Speisewagenkellner
Es ist ein windiger, kalter Januarnachmittag in Prag, aber im Speisewagen ist gut geheizt. An Bord begrüßt mich Pavel Peterka.
„Wir sind hier in einem Speisewagen WRmz815. Gebaut wurde er 1997, das heißt, er ist mittlerweile 27 Jahre alt. Er ist aber immer noch sehr schön und sehr praktisch.“
Pavel Peterka ist vielleicht ein bisschen der Star unter den tschechischen Speisewagenkellnern. Sein guter Freund, der Schriftsteller Jaroslav Rudiš, hat ihn in seinen Artikeln und Büchern bekanntgemacht.
Heute ist Peterka in Berlin aufgewacht. Dann ging es mit dem zweiten Zug nach Prag, und nun steht die Rückfahrt an. Morgen fährt er dann von der Bundeshauptstadt nach Hamburg und dann wieder nach Prag. 23 Jahre ist Peterka nun schon so auf Achse.
„Meine Mutter stammte aus einer Eisenbahnerfamilie. Deshalb war ich schon von klein auf Zugfan. Seit der Schule wusste ich, dass ich Eisenbahner werden will.“
Wegen seiner Brille konnte Peterka aber keine Anstellung als Eisenbahner antreten. Er machte deshalb eine Ausbildung zum Gastwirt und hoffte, Steward bei der Airline ČSA zu werden. Doch es kam anders, und über Umwege gelangte Peterka dahin, wo er zweifelsohne hingehört: in den Speisewagen.
Zunächst fuhr er für die tschechische Speisewagengesellschaft JLV auf der Strecke von Prag nach Nürnberg. Dann bediente er die Reisenden in den Zügen nach Dresden, Berlin und Hamburg. Angesteuert wurden von den Tschechischen Bahnen früher auch noch weitere Ziele im Norden, etwa Binz auf Rügen oder Aarhus in Dänemark.
„Und die Fahrten nach Westerland waren immer wie ein kleiner Tagesurlaub. Man kam an diesem herrlichen Ort an, dann ging man zum Strand spazieren. Für uns Landratten war das natürlich eine Besonderheit, weil es in Tschechien kein Meer gibt. Schon die Fahrt von Niebüll über den Hindenburgdamm war ein Erlebnis. Wir haben immer gehofft, dass es ordentliche Wellen gibt, die gegen den Zug schlagen, damit die Fahrt einen dramatischen Charakter bekommt.“
Doch dramatisch war es an anderer Stelle zur Genüge, etwa als der Wagen auf dem Berliner Hauptbahnhof entgleiste. Einmal sei der Zug auch auf einem Bahnübergang mit einem Auto zusammengestoßen, erinnert sich Peterka. Der studierte Theaterwissenschaftler hat aber während seiner stundenlangen Reisen auch unzählige Bücher gelesen. Er hat Landschaften im Wandel beobachtet. Und als Frank-Walter Steinmeier 2021 mit dem Zug nach Prag reiste, war es Pavel Peterka, der den Bundespräsidenten bediente.
Tschechen, Deutsche, Interrailer, Geschäftsreisende
16.28 Uhr. Der Eurocity 170 nimmt pünktlich Fahrt auf. Zuvor hat sich der Wagen am Prager Hauptbahnhof noch schnell gefüllt – Staatspräsidenten sind heute aber nicht unter den Passagieren. Stattdessen die übliche Zusammensetzung der Speisewagengäste: Tschechen, Deutsche, Interrailer, ein paar vermeintliche Geschäftsreisende.
Einige der Reisenden begrüßt Pavel Peterka besonders freundlich – jene nämlich, die bereits heute Morgen im Zug aus Berlin bei ihm gefrühstückt haben. Der Oberkellner in seinem weißen Hemd, der roten Krawatte und dem ebenso roten Vorbinder geht an den Tischen vorbei, ermahnt die Touristen, ihr Gepäck ordentlich zu verstauen und hilft galant einer jungen Frau, den Koffer auf die Ablage zu wuchten. Dann nimmt Peterka die Bestellungen auf und notiert sie auf einem Papier.
Multimodaler Konvektomat statt guter, alter Küche
Ich habe meinen Wunsch schon vorab aufgegeben und gehe mich deshalb in der Küche umsehen. Gerade wird mein Schnitzel geklopft. Es ist ein besonderes Schnitzel, denn anders als auf den Inlandsverbindungen in Tschechien wird hier im Speisewagen frisch gekocht. Das heißt zum einen, dass es als Beilage statt Kartoffelsalat Bratkartoffeln gibt. Umwerfende Bratkartoffeln. Zum anderen kann man zwischen Hühner- und Schweinefleisch wählen, und letzteres wird, eben bevor es in die Pfanne kommt, liebevoll mit dem Hammer präpariert.
Der Koch, der da in der Küche auf dem Fleischstück herumpocht, heißt ebenso wie der Speisewagenchef Pavel. Er kommt ins Schwärmen, als ich ihn zu seiner Meinung zu dem Waggon frage.
„Dieser Wagen hat einen unfassbar guten Aufbau. Ich habe schon einige Wagentypen erlebt, aber nur hier habe ich sofort alles zur Hand. Es gibt einfach keinen besseren Speisewagen, und deshalb ist mir schon ein bisschen zum Weinen zumute. Wenn etwas gut funktioniert, warum muss man es dann abschaffen?“
Wobei „abschaffen“ eigentlich nicht das richtige Wort sei, wie der Koch meint. Schließlich werde es auch künftig noch eine Form der Verköstigung an Bord des EC „Berliner“ geben. Frisch gekocht wird dann allerdings nicht mehr. Denn die Gerichte werden lediglich aufgewärmt, mittels eines „multimodalen Konvektomaten“, wie es in einer Pressemitteilung der Tschechischen Bahnen heißt. Und im neuen Bistroabteil, das die teilweise bereits verkehrenden ComfortJets ergänzen wird, haben statt wie bisher 30 nur noch 18 Menschen Platz. Zwar sollen die alten, kultigen Waggons, die derzeit noch im Verkehr sind, künftig auf anderen Strecken eingesetzt werden. Wo und wann, das weiß bisher aber keiner so genau.
Doch bis es soweit ist und die bei Siemens und Škoda bestellten Steuerwagen mit Bistrobereich eintreffen, bleiben noch einige Monate. Mein Schnitzel landet in der Bratpfanne.
Willkommen im „UnComfortJet“
Ich setze mich auf meinen Platz und lasse den Blick durch meinen „Speisi“ schweifen. Ich stelle mir vor, dass all das hier bald Geschichte sein wird: die kugelrunden Lampen, die roten Tischdecken, die zufriedenen Reisenden. Und in den anderen Wagen verschwindet das ungestörte Reisen im Abteil. Stattdessen gibt es künftig grell ausgeleuchtete Großraummassenabfertigungswaggons mit E-Bike-Ladefunktion und Handynetz-verstärkenden Scheiben – damit die Leute auch bitteschön noch lauter telefonieren und Videos anschauen können. Man sollte diesen Zugtyp nicht „ComfortJet“, sondern „UnComfortJet“ nennen.
Pavel Peterka stellt ein neues Bier vor mich hin, dann kommt das Schnitzel mit den Bratkartoffeln und der Zitronenscheibe. Es schmeckt wie immer: umwerfend. Vielleicht ist das Schnitzel im Speisewagen der Tschechischen Bahnen das beste Schnitzel der Welt, überlege ich.
Das beste Schnitzel der Welt
Nachdem ich aufgegessen habe, setze ich mich zu einem grauhaarigen Mann am Tisch gegenüber. Er ist Mathematiker und hat gerade einen Freund in Prag besucht. Im Speisewagen von Pavel Peterka saß er schon heute Morgen zum Frühstück. Nun hat er gerade seinen Schweinebraten aufgegessen. Früher ist der Mann regelmäßig zwischen Prag und Berlin gependelt, und der Besuch im Restaurant gehörte immer zur Reise dazu. Dass sich die Verköstigung an Bord künftig ändern soll, findet er nicht gut:
„Ich habe das sehr genossen, dass es hier noch richtiges Essen gibt und nichts in der Mikrowelle aufgewärmt wird. Das ist wirklich ein Unterschied. Und dass es noch Fassbier gibt! Die Deutsche Bahn hat das jetzt gerade abgeschafft, und das ist für mich ein Grund, da nicht mehr hinzugehen.“
Ähnlich sieht das ein anderer Mann mittleren Alters. Er ist ITler und regelmäßig zwischen
Wien und Deutschland unterwegs. Dabei fährt er bevorzugt über Prag – gerade wegen des Speisewagens. Dass dieser bald nicht mehr auf der Strecke verkehren wird, bedauert er. Und auch das Argument, dass der neue ComfortJet ja schneller fahren kann (bis zu 230 Stundenkilometer!) – beziehungsweise könnte, wenn die Strecke denn jemals dafür ausgebaut sein wird –, will der Mann nicht gelten lassen. Beim Zugfahren gehe es schließlich nicht immer nur darum, in möglichst kurzer Zeit ans Ziel zu kommen:
„Ich bin in dieser Hinsicht Nostalgiker. Die Entwicklung ist traurig. Als man in Deutschland in den Neunzigern mit den ICEs angefangen hat, gab es dort noch Tischdecken. Doch der Service ist mittlerweile immer weniger geworden. Manchmal kriegt man auch gar nichts mehr. Alles ist sehr lieblos. Hier ist das noch etwas ganz anderes.“
Lebe wohl, WRmz815!
Doch wie lange wird dem noch so sein? Die Vermutung liegt nahe, dass den tschechischen Speisewagen in Zukunft ein ähnliches Schicksal ereilt. Dass sich die Tschechischen Bahnen von der vermeintlich eingestaubten, da osteuropäischen Speisewagentradition verabschieden wollen. Denn dass das Essen bei den ungarischen Kollegen von MÁV oder im phänomenalen slowenischen Restaurantwagen von Wien nach Ljubljana großartig ist, wird sicher niemand in Abrede stellen. Aber erklären Sie das mal einem Politiker oder Firmenboss. Stattdessen also Tiefkühlküche wie in ICE, TGV oder Frecciarossa – so also wie im vermeintlich fortschrittlicheren Westen.
Aber weniger dramatisch als der Mathematiker, der ITler und ich sieht all das einer: Pavel Peterka.
„Das Angebot an Klassikern der tschechischen Küche wird bestehen bleiben. Es wird weiterhin guten Kaffee geben, die allseits beliebten Palatschinken und natürlich svíčková mit Knödeln.“
Der traditionelle Rinderlendenbraten in Sahnesoße wird also auch künftig nicht fehlen. Und auch er selbst werde weiterhin an Bord sein, meint Peterka. Ebenso seine Kollegin Zdeňka und der Koch. Nur das Schweineschnitzel mit Bratkartoffeln, das ist eben dann passé im Speisi.
„Allerdings wird es Schnitzel mit Kartoffelsalat geben. Das ist doch auch ein gutes Essen – und ein beliebtes! Schnitzel und Kartoffelsalat, davon kann man eigentlich nie genug haben.“
Wenngleich mich diese Worte kaum aufheitern, bringt mich eine andere Information schon eher auf warme Gedanken, als ich im kalten Januarwind auf dem Bahnsteig in Ústí nad Labem stehe und dem Eurocity hinterherwinke. Pavel Peterka hat mir nämlich nicht nur gesagt, dass es künftig weiterhin Kaffee, svíčková und Schnitzel geben wird. Der neue Bistrowagen hat auch einen Zapfhahn. Und so ist er dann vermutlich doch einen Besuch wert – um sich die Trauer und den Frust wegzutrinken über ein weiteres Stück Eisenbahntradition, das langsam verschwindet, so wie die Lichter des Eurocity 170 in der Ferne.