Blickfang und Ohrwurm – die Poesiomaten von Ondřej Kobza
Zum Hinschauen und Hinhören laden die Poesiomaten von Ondřej Kobza ein. Die klingenden Röhren sind eine der Projektreihen des Kulturveranstalters und Unternehmers. Bereits seit 2015 stellt Kobza die originellen Automaten an kulturell bedeutsamen Orten Tschechiens, aber auch anderer Länder auf. Die Poesiomaten spielen auf Knopfdruck Literaturauszüge und Musikstücke ab. Dadurch wird die Kultur und Geschichte ihrer Standorte unmittelbar erlebbar.
Dem Aussehen nach erinnern die Poesiomaten an U-Boot-Schnorchel. In der Funktionsweise ähneln sie Musikboxen. Das Gehäuse besteht aus einer gebogenen Metallröhre, an der 20 Knöpfe angebracht sind. Drückt man einen Knopf, ertönt aus dem Lautsprecher am oberen Röhrenende ein Gedicht oder Prosatext, ein ortstypisches Musikstück oder auch das Geläute von Kirchenglocken. Die Poesiomaten hat der Kulturaktivist Ondřej Kobza gemeinsam mit der Landschaftsarchitektin Jitka Tomsová entwickelt. Die Idee dazu kam Kobza schon in seiner Jugend:
„Bereits vor 20 Jahren habe ich verschiedene Pilgerfahrten organisiert. Wir sind zum Beispiel nach Petrkov (Ortsteil von Lípa, dt. Linden, bei Havlíčkův Brod, dt. Deutschbrod, Anm. d. Red.) gewandert, wo früher der Dichter Bohuslav Reynek lebte. Die Landschaft um Petrkov ist durch Reyneks Gedichte und Kupferstiche bekannt geworden. Wir waren etwa acht bis 20 Leute, und ich holte ein Buch aus der Tasche, drückte es einem Gefährten in die Hand und sagte: ‚Lies die Verse vor!‘ Dazu rauschte der Wind in den Baumkronen, die Vögel trillerten. So hat sich mir nachhaltig eingeprägt, wie es ist, Wortkunst mitten in der Landschaft zu hören.“
Vielschichtige ästhetische Erlebnisse
Kobza gelangte dadurch zu der Einsicht: Das Wort muss erklingen, damit es etwas bewirken kann. 2015 konstruierte er den ersten Poesiomaten. Er steht noch heute auf dem Platz Náměstí Míru in Prag und enthält Gedichte, die einzeln abrufbar sind. Mittlerweile sind weit über 30 von Kobzas Poesiomaten in Großstädten wie Prag und Olomouc / Olmütz, aber auch in ausländischen Metropolen wie New York, Brüssel oder Berlin zu finden. Seit den Anfängen ist das Programm verfeinert worden. Die neueren Poesiomaten zeichnen ein breiteres Bild der Geschichte und Kultur des Standortes.
„Wir finden es nun besser, wenn es beim Poesiomaten nicht nur um Gedichte geht, sondern um Tonspuren, die das Andenken an die Standorte wachhalten. Wir setzen bei der Schaffung einen bestimmten Prozess in Gang. Wir reden mit den Menschen vor Ort, und sie machen Vorschläge, was alles im Poesiomaten enthalten sein soll. So fördern wir vielleicht die Erinnerungskultur ein wenig“, so Kobza.
Guter Rat war teuer, als man begann, Poesiomaten bei Kirchen und anderen Kulturstätten in ländlichen Gebieten aufzustellen, in denen früher vorwiegend deutschsprachige Einwohner lebten. Manche dieser Denkmäler ragen inmitten unbewohnter Landschaften auf, keine ausgebauten Verkehrswege, keine Stromleitungen führen zu ihnen. Die Lösung brachte eine simple Kurbel, befestigt am Schaft des Poesiomaten. Durch das Drehen der Kurbel wird Strom generiert, der für das Abspielen einer oder mehrerer Tonspuren reicht.
„Das sind tschechisch-deutsche Poesiomaten. Wir haben dabei phantastische Menschen kennengelernt, die diese Kirchen meistens immerhin soweit sichern, dass sie nicht einstürzen. Das ist selbstverständlich ein heikles Thema. Wir maßen uns keine Urteile an, doch wir wollen jedenfalls die Erinnerung pflegen“, sagt der Initiator.
Stimmen erwecken die Vergangenheit
Kobza und seine Helfer haben Poesiomaten an sieben solcher Orte des Gedenkens aufgestellt. Die eingespeicherten Musikstücke und Literaturauszüge sind teilweise in beiden Sprachen abrufbar. Einer dieser Poesiomaten steht bei der ehemaligen Wallfahrtskirche Maria Heimsuchung, früher auch Maria Hilf in der Wüstung Skoky / Maria Stock. Der nächstgelgene Ort ist Žlutice / Luditz. Anhören lassen sich mit diesem Poesiomaten unter anderem Erinnerungen eines Zeitzeugen über „Die letzte Wallfahrt“:
„Es war am 21. Juli 1946. Viele Familien waren schon von Haus und Hof vertrieben. Die übrigen konnte jeden Tag das gleiche Schicksal erreichen. Da wurde im Koslauer Pfarrsprengel (tschech. Kozlov, Anm. d. Red.) der Wunsch laut, noch einmal nach Maria Stock zu pilgern. Betend setzte sich die kleine Wallfahrtsprozession in Bewegung. Vor dem Dorf Zoboles (tschech. Sovolusky, Anm. d. Red.) beratschlagte man erst, ob man durch den Ort ziehen solle, und tat es dann doch. Da und dort erwachten ein paar Schläfer in den Häusern, die schon mit Tschechen besetzt waren, und bestaunten uns mit verwunderten und verständnislosen Blicken. Das Glöcklein der Dorfkapelle blieb stumm. Und auf dem Dorfplatz stand niemand.“
Texte und Lieder zeitgenössischer tschechischer Künstler, aber auch Wallfahrtslieder runden das Programm dieses Poesiomaten ab, von dem man einen beeindruckend weiten Ausblick über die umliegende Landschaft hat.
Um die denkmalgeschützte Kirche Maria Heimsuchung kümmert sich die Vereinigung „Unterm Dach“. Freiwillige machen dort Dienst und halten das Gotteshaus für Besucher offen. Einer von ihnen ist Oldřich Radovský:
„Herzlich willkommen in der barocken Kirche des Dorfes Skoky, deutsch Maria Stock. Die Kirche wurde im 18. Jahrhundert als Wallfahrtskirche errichtet, Pilger strömten zu dem Altargemälde, das die Heilige Maria zeigt. Als Kaiser Joseph II. die Wallfahrten gegen Ende des 18. Jahrhunderts verbot, begann die Kirche zu verfallen. Zum Glück erwarb das Prämonstratenser-Stift Teplá (dt. Tepl, Anm. d. Red.) sie und ließ sie am Beginn des 20. Jahrhunderts restaurieren. Danach diente sie weiterhin als Wallfahrtsort. Doch als die Bevölkerung der umliegenden Dörfer 1947 abgeschoben wurde, sank die Bedeutung der Kirche.“
Ein anderer Poesiomat steht in Šitboř / Schüttwa in der Nähe von Domažlice / Taus. Er erinnert an den Dichter Johannes von Tepl, auch bekannt als Johannes von Saaz, der dort geboren ist. Johannes von Tepls Werk „Der Ackermann aus Böhmen“ entstand um 1400. Das Streitgespräch mit dem Tod in 34 Kapiteln gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Prosadichtungen des Spätmittelalters:
„Ein Ackermann werd´ ich genannt. Von Vogelfedern ist mein Pflug. Ich wohne im Böhmerland. Voll Hass, Feindschaft und Widerstreben will ich Euch immer sein. Denn Ihr habt mir den zwölften Buchstaben, meiner Freuden Hort, aus dem Alphabet gar grausam entrissen. Ihr habt meiner Wonnen Licht, meine Sommerblume mir aus meines Herzens Anger jämmerlich ausgerottet.“
Vom „Ackermann aus Böhmen“ gibt es auch eine tschechische Abwandlung. Sie trägt den Titel „Tkadleček“ – „Weberlein“. Das Thema beider Versionen ist das gleiche: Der Ankläger disputiert mit dem Tod, der ihm die über alles geliebte Ehefrau entrissen und dadurch jedwede Lebensfreude genommen hat.
Tafel der Freundschaft
Ondřej Kobza wuchs im ostböhmischen Ústí nad Orlicí / Wildenschwert auf. Einer seiner Lieblingsorte dort ist die Nepomuk-Kirche des verschwundenen Dorfes Vrchní Orlice / Hohen-Erlitz, bei der nun ebenfalls ein Poesiomat steht.
„Als ich 17 oder 18 Jahre alt war, habe ich diese Kirche oft aufgesucht. Das hat mir viel bedeutet. Ich habe dort viel allein gebetet. Die Kirche wurde ein wichtiger Ort für mich, an dem ich Lebenskraft schöpfen konnte“, bekennt der gläubige Katholik Kobza, der neben Politologie auch ein paar Semester evangelische Theologie studiert hat.
Heute hat der leidenschaftliche Individualist seinen Wohnsitz auf der angemieteten Burg Pirkštejn im Sázava-Tal und betreibt in Prag mehrere Kaffeehäuser. Kobzas originelle Kulturprojekte passen in keine Schublade. Doch alle verraten sie ein feines Gespür für das Kunst- und Gemeinschaftserlebnis. So hat der Kulturaktivist mit der Eventreihe „Pianos auf der Straße“ Passanten dazu animiert, in der Alltagshast innezuhalten und sich der Kunst zuzuwenden. Ein großes, wenn auch geteiltes Medienecho rief im Juni 2020 eine 400 Meter lange Tafel auf der Karlsbrücke hervor, bei der die Menschen das Ende der Corona-Pandemie feiern konnten. Eine ähnliche Tafel organisiert Ondřej Kobza am 29. Juli im oberfränkischen Selb:
„Man hat sich aus Selb an uns gewendet, dort werde es eine Tafel der deutsch-tschechischen Freundschaft geben. Das hat mich sehr gefreut. Alle bringen eigene Speisen mit, und wer mag, kann sie mit den Tischnachbarn teilen. Ich denke, das ist eine nette Sache. Und es hinterlässt einen schönen Eindruck von einer Stadt, wenn sich die Menschen dort an einem langen Tisch treffen.“