Böhmen, das Herz Europas – ideengeschichtlicher Streifzug von Karl IV. bis Havel

Bruncvík

Das Verhältnis der Tschechen zu Europa wurde in den letzten Jahren oft als problematisch bezeichnet. Man versteht sich zwar geistig und kulturell als fester Bestandteil, ist aber mit der eigenen Stellung in Europa unzufrieden, fühlt sich teilweise sogar übergangen und zu Höherem berufen. Ein Blick in die vergangenen Zeiten zeigt, dass diese Haltung nicht erst nach der politischen Wende von 1989 entstanden ist, sondern ihre Wurzeln bis ins frühe Mittelalter reichen. Mehr dazu in der folgenden Ausgabe der Kapitel aus der tschechischen Geschichte.

Karl IV.
Die Länder der Böhmischen Krone standen in vergangenen Zeiten häufig im Mittelpunkt des Weltgeschehens. Die Zeit Karls IV., die Hussiten-Kriege oder die Reformation zu Beginn des 17. Jahrhunderts sind der Beweis dafür.

Gerade die Interpretation besagter Epochen hat insbesondere während der Zeit der so genannten „Nationalen Wiedergeburt“ im 19. Jahrhundert die Grundlage für die Entstehung eines tschechischen Geschichtsbilds gebildet. In späteren Zeiten trug dies auch oft zur Bildung von politischen Mythen bei, und die gesellschaftlichen und politischen Eliten der damaligen Zeit waren daran nicht ganz unbeteiligt.

Petr Hlaváček
Eine besonders auffällige Konzentration besagter Mythen findet sich im ereignisreichen 20. Jahrhundert. Eine davon hing mit der Gründung der Tschechoslowakischen Republik im Jahr 1918 zusammen. Dieser Staat stellte sich vor allem in den kritischen dreißiger Jahren, als sich in vielen Staaten Osteuropas autoritäre Regime etablierten, gerne als eine „Insel der Demokratie“ dar.

Wo liegen die Wurzeln für diese – zumindest subjektiv gefühlte – herausragende Stellung des Landes? Dazu der Historiker Petr Hlaváček, der das Forschungszentrum für europäische Geistesgeschichte bei der Prager Karlsuniversität leitet. Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir laut Hlaváček die Entwicklung Böhmens bis ins Mittelalter zurückverfolgen:

Přemysl Ottokar II.
„Schon im 13. Jahrhundert beginnt dies mit der kirchenpolitischen Selbstdefinition des böhmischen Königs als neuem Alexander dem Großen, dem Verteidiger der Christenheit und Europas gegenüber den Heiden und Schismatikern. Die Könige Přemysl Ottokar II. und Wenzel II. folgten der Politik der Translatio Imperii ad Bohemos, einer Politik, welche das Königreich Böhmen zum Kernland des Römischen Reiches durchsetzen und die tschechischsprachigen Böhmen zur führenden Nation dieses Reiches machen wollte. Diese Idee wurde dann erst in der Regierungszeit des böhmischen Königs und späteren römischen Kaisers Kaiser Karl IV. verwirklicht. Gerade er leitete auch den anhaltenden Dialog Böhmens mit Europa ein, als er das böhmische Königreich in einen intensiven Kontakt mit deutschen, französischen und italienischen Kulturzentren brachte.”

Bruncvík
Aufgrund dieser Entwicklungen verschob sich, so Petr Hlaváček, das böhmische Königreich im Verlauf des 14. Jahrhunderts aus der gedachten Peripherie der Christenheit in ihr Zentrum. Die böhmischen Länder nahmen nun auf kirchenpolitischem und kulturellem Gebiet eine wichtigere Rolle ein. Diese Entwicklung schlug sich nicht zuletzt auch auf in der damaligen Literatur nieder.

Zu dieser Zeit entstand auch die alte Chronik von Bruncvík. Es ist ein Prosawerk, das die Sage des legendären böhmischen Fürsten und Ritters Bruncvík schildert. Dort steht, dass sich Bruncvík in die weite Welt begab, um dort die Ehre seiner Sprache zu finden. Er reiste durch viele Länder und gelangte bis ans Meer, wo er ein Schiff bestieg. Er begab sich aufs weite Meer, sein Schiff brach allerdings während eines Sturmes auseinander. Bruncvík rettete sich auf eine Insel, wo er einer Meerjungfrau begegnete. Sie hieß Europa, war weder Fisch noch Frau und begann folgenden Dialog mit ihm:

„Bruncvík, ich bin so, wie du mich siehst, weder böse noch gut, antwortete Europa. Bruncvík fragte sie weiter, ob er Trost bei ihr finden könne in seiner Lage, wo er weit von zu Hause entfernt und vom europäischen Festland isoliert sei. Sie antwortete ohne Umschweife und ein wenig geheimnisvoll: Dann und wann kannst Du es, dann und wann auch wieder nicht.”

In diesem Dialog war laut dem Historiker Hlaváček ein erstes Fragen nach Europa und seiner Identität verschlüsselt. Das betreffe vor allem die Zweideutigkeit des Wesens: Europa ist weder böse noch gut; manchmal kann Europa Trost spenden, ein anderes Mal wiederum nicht.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass Fürst Bruncvík in der Literaturwissenschaft als allegorische Personifizierung des böhmischen Königs und römischen Kaisers Karl IV. verstanden wird.

„Gerade in diesem Kulturklima entstand der spezifisch tschechische Messianismus. Es war das Ergebnis einer tiefen Erfassung des Denkens der tschechischsprachigen böhmischen Eliten durch die Vorstellung, dass die Tschechen das auserwählte Volk seien und zwar in politischer, wie auch in religiöser Hinsicht. Selbst die frühe böhmische Reformation, wie das Hussitentum um das Jahr 1400, war eigentlich ein Produkt der Überzeugung, dass die tschechische Nation jenes neue Israel sei, welches zur Erneuerung des gesamten Volks Gottes und der ganzen Welt berufen wurde. Das tschechische Volk, dessen Wurzeln man bis in biblische Zeiten nach verfolgen wollte, wurde als Nachfolger der antiken Griechen apostrophiert, welchen Alexander der Große die Weltherrschaft überantwortet hatte. Diese theologisch-politische Interpretation muss in eschatologischen Zusammenhängen verstanden werden. In dieser eschatologischen Topographie war der Hauptschauplatz des Jüngsten Tages, an dem die Verwirklichung des Königreichs Gottes beginnen sollte, Böhmen - und in seinem Herzen Prag. So sah es beispielsweise um das Jahr 1419 der Prager Reformprediger Jan Želivský.”

Bildallegorie ´Europa in Forma Virginis´ von Johannes Bucius
Eine vergleichbare Selbststilisierung, wie sie der Historiker Petr Hlaváček für die Tschechen feststellte, fand sich aber in der Geschichte bei vielen Kulturvölkern Europas, bei den Franzosen, den Engländern, den Deutschen, den Polen oder Schweden. Im 16. Jahrhundert, in der Zeit der europäischen Reformationen, wurde das ketzerische Böhmen erneut als wichtiger, zentraler Teil der Christenheit betrachtet. Petr Hlaváček:

„Als im Jahr 1547 Johannes Bucius seine Bildallegorie ´Europa in Forma Virginis´ schuf, welche oft wiedergegeben und modifiziert wurde, stellte er darin das böhmische Königreich als eine kostbare Medaille dar, die auf der Brust der personifizierten Königin Europa hing. Bohemia und Praga wurden hier also als wirkliches Cor Europe – Herz Europas dargestellt. Auf diese Weise wurde Böhmen in der frühen Neuzeit abermals ins Zentrum des theologisch-geographischen Nachdenkens europäischer Intellektueller gerückt.”

Der reifste und originellste tschechischer Denker der frühen Neuzeit war Johann Amos Comenius, dessen Werk sich auch auf Grund seines Exilantenschicksals europäischer Resonanz erfreute. Comenius sieht die Bedeutung der tschechischen Nation im Herzen Europas in ihrer speziellen frühreformatorischen Mission. In seinen späten Arbeiten fordert Comenius unermüdlich zur geistigen, kulturellen und politischen Vereinigung Europas und der Welt auf.

Die Niederlage der protestantischen böhmischen Stände bei der Schlacht am Weißen Berg im Jahr 1620 brachte in diesem Hinblick eine tiefgreifende Veränderung. Die Länder der böhmischen Krone gerieten aus Sicht der Ideengeschichte wieder zurück an die europäische Peripherie, und der Faden zu den Denkmustern der vorherigen Epochen war in den darauffolgenden Jahrhunderten verlorengegangen.

Erst mit der Nationalen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert versuchten die Vertreter der neu aufkommenden tschechischsprachigen Eliten wieder daran anzuknüpfen. In diesem Zusammenhang sind vor allem der Historiker František Palacký und der Philosoph und späterer Gründer der Ersten Tschechoslowakischen Republik, Tomáš G. Masaryk, zu erwähnen. Dazu noch einmal der Historiker Petr Hlaváček vom Forschungszentrum für Europäische Ideengeschichte an der Prager Karlsuniversität:

„Gerade bei Masaryk taucht die Auffassung auf, dass die tschechische Demokratie sehr wichtig für Ostmitteleuropa ist. Das lässt sich auch während der Besatzung durch die Nazis finden, indem die Tschechen als Märtyrer der Demokratie gesehen werden. Auch die weiteren Stilisierungen nach dem Zweiten Weltkrieg, wie die Tschechoslowakei als Brücke zwischen Ost und West, gehören alle zu diesem Gedankengut. Oder die Texte von Patočka über die spezifische Rolle der Tschechen, oder die Texte von Kosík aus der Zeit des Prager Frühlings. Letztlich sind in diesem Zusammenhang auch verschiedene Aussagen von Vaclav Havel sehen und selbst von Vaclav Klaus, und zwar wenn er über Tschechien als Tiger in Mitteleuropa spricht.“