Christian Terhechte: „Es ist sehr gut, mit vielen Menschen wieder im Kino zu sitzen“

Filmfestival in Karlovy Vary

Der deutsche Festivalintendant Christoph Terhechte saß in der Jury des 55. Internationalen Filmfestivals in Karlovy Vary / Karlsbad. Im Interview spricht er über die Arbeit der Jury, aber auch über die Zusammenarbeit zwischen den Festivals und über die Zukunft der Kinobranche.

Christoph Terhechte | Foto: Film Servis Festival Karlovy Vary

Herr Terhechte, wir treffen uns auf dem 55. Internationalen Filmfestival in Karlsbad. Dieses findet nach einer Pause statt, im vergangenen Jahr wurde es wegen Corona abgesagt. Wie viele Festivals haben Sie in diesem Jahr bereits live miterleben können?

„Kein einziges. Karlovy Vary ist das erste Festival, das ich seit der Pause besuche. Das letzte war die Berlinale im Februar 2019. Danach bin ich auf keinem Festival gewesen. Es ist sehr gut, mit vielen Menschen wieder im Kino zu sitzen, die gleichen Filme zu sehen und zu spüren, wie andere reagieren. Und überhaupt Kino auf der großen Leinwand zu erleben, auch in der Anwesenheit der Filmschaffenden. Das hat mir sehr gefehlt.“

Sie sitzen hier in der Jury. Was bedeutet das? Wie sieht die Arbeit der Jury aus?

„Karlovy Vary ist das erste Festival, das ich seit der im Februar 2019 besuche.“

„Wir alle sehen uns, zusammen mit dem Publikum und unter den gleichen Bedingungen im großen Festivalsaal die Filme bei ihrer Premiere an. Es gibt jeden Tag zwei Filme zu sehen, und zwischendurch haben wir die Gelegenheit, über das, was wir gesehen haben, zu diskutieren. Am Ende des Festivals, also am Freitagmorgen setzen wir uns zusammen und lassen alles noch einmal Revue passieren. Anschließend treffen wir unsere Preisentscheidungen. Wir haben ziemlich viele Preise zu verleihen, für insgesamt fünf Filme, das muss gut überlegt werden.“

Wie verläuft die Debatte in der Jury? Ist die heftig, oder gibt es Übereinstimmung?

Foto: Olga Wasinkjewitsch,  Radio Prague International

„Überhaupt nicht heftig, nein. Wir sind alles zivilisierte Menschen und wissen miteinander zu reden, auch wenn wir natürlich unterschiedliche Perspektiven mitbringen. Aber das soll ja auch so sein. Karel Och (künstlerischer Leiter des Festivals in Karlsbad, Anm. d. Red.) hat die Jury so bestückt, dass sie viele unterschiedliche Blickwinkel vereint und Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Regionen der Welt zusammenbringt. Das ist in diesem Jahr etwas schwieriger, weil viele Menschen nicht so weit reisen können. Deswegen sind durchweg Europäer in der Jury. Aber wir haben den Blick von Ost und West, wir haben den Blick von Nord und Süd, wir haben den Blick von Dokumentarfilm- und Spielfilmexperten. Und natürlich ist jeder ein Individuum und bringt seine ganz eigene Anschauung mit. Es macht großen Spaß, in der Gruppe über Filme zu sprechen. Auch das hat gefehlt, man hatte ja lange nicht mehr dieses Gemeinschaftserlebnis.“

Sie sind Festival-Intendant, leiten das Festival DOK Leipzig. Gibt es einen Unterschied, wenn man sich als Festivalleiter einen Film anschaut und dann als Jury-Mitglied? Ist der Blickwinkel anders, wenn man einen Sieger bestimmen soll?

„Natürlich ist es ein anderer Blick. Aber gleichzeitig stelle ich selbst Jurys zusammen und muss auch immer im Kopf haben, wie eine solche funktioniert. Dies ist natürlich eine sehr verengte Perspektive, man bringt aber trotzdem etwas mit. Und wir nehmen auch als Zuschauer am Festival teil, um Filme zu entdecken, die in anderen Sektionen als Weltpremieren laufen. Oder die man nicht sehen konnte, wenn man im vergangenen Jahr nicht in Cannes oder in Venedig war. Das ist ein weiteres großes Vergnügen. Man kann eine Menge daraus lernen für die eigene Arbeit – etwa wie man Jurys so zusammenstellt,  dass die Persönlichkeiten miteinander harmonieren. Das kann immer mal schief gehen, aber in diesem Jahr haben wir eine schöne Jury hier, und wir freuen uns, diese Arbeit miteinander ausüben zu können.“

Im Hauptwettbewerb sind in diesem Jahr zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme vertreten. Finden Sie diesen Schritt richtig?

„Bei einem Film, der auf der großen Leinwand funktioniert, ist es letztlich egal, ob er dokumentarisch ist oder ein Spielfilm oder irgendwo dazwischen.“

„Ich finde den Schritt richtig und auch überfällig für ein Festival wie Karlovy Vary, also eines der großen und wichtigen A-Festivals. Alle anderen Festivals – Berlin, Cannes, Venedig – haben diesen Schritt schon gemacht. Obwohl ich ein Dokumentarfilmfestival leite, muss ich sagen: Kino ist Kino. Bei einem Film, der auf der großen Leinwand funktioniert, ist es letztlich egal, ob er dokumentarisch ist oder ein Spielfilm oder irgendwo dazwischen. Wichtig ist, dass er bewegt und anrührt. Es muss die richtige Erzählform gefunden werden für das, was der Film gerne vermitteln möchte. Dann finde ich es absolut richtig, die Genres zu vermischen. Es ist im Gegenteil schön, wenn eine Schranke fällt, die eigentlich künstlich ist.“

Im Hauptwettbewerb gibt es zwölf Filme, die in den Jahren 2020 und 2021 gedreht wurden. Lassen sich diese allgemein charakterisieren, gibt es gemeinsame Nenner? Oder ist dies überhaupt nicht möglich?

Foto: Slavomír Kubeš,  ČTK

„Ich glaube nicht, dass dies möglich ist. Und ich darf im Laufe des Festivals auch nicht über die Filme sprechen. Ich kann nur so viel sagen: Es ist nicht alles erst ab 2020 gedreht. Es gibt auch Filme, die schon vorher entstanden sind und während der Pandemie erst fertiggestellt wurden. Auch wenn wir im Moment die Beschränkung durch die Pandemie und die völlig neue Perspektive auf die Welt als Hauptthema empfinden, kommt dies hier noch nicht so richtig zum Tragen. Es wird sicherlich noch zwei Jahre dauern, bis man bei den großen Festivals auch Spielfilme zum Thema sieht. Denn diese brauchen eine lange Zeit für die Vorbereitung, es muss alles erst einmal zu Papier gebracht werden. Da ist der Dokumentarfilm ein bisschen schneller. In dem Bereich kann man durchaus schon einiges an Reflexionen sehen, was während der Pandemie mit uns, also mit der ganzen Menschheit passiert ist.“

„Das Kino wird sich vermutlich ein wenig mehr musealisieren. Festivals auf der anderen Seite, werden weiterhin Sinn machen und in ihrer heutigen Form größere Zielgruppen erreichen können.“

Vor einem Jahr, als die Pandemie ausbrach, wurde viel darüber diskutiert, ob die Kinobranche diese überhaupt überleben kann. Was denken Sie darüber ein Jahr später? Hat sich die Branche verändert? Sie haben zum Beispiel bei DOK Leipzig im vergangenen Jahr eine Doppelvariante gewählt, die Filme wurden sowohl im Kino als auch online gezeigt…

DOK Leipzig | Foto:  DOK Leipzig

„Schon dies werden wir dieses Jahr bei DOK Leipzig anders machen, wir werden das Festival wieder physisch stattfinden lassen. Und anschließend werden wir eine Auswahl der Filme noch online zeigen. Sicherlich hat sich vieles verändert. Ich glaube, dass es zahlreiche Filmproduktionen und Kinos gibt, die diese Krise nicht unbeschadet oder gar nicht überstehen werden. Aber ich glaube, dass das Interesse ungebrochen ist. Wenn man sieht, wie die Menschen zumindest in die Arthouse-Kinos zurückströmen, dann lässt das hoffen. Mehr Sorgen mache ich mir über das kommerzielle Kino, von dem das Arthouse- Kino natürlich abhängig ist. Die Filmlandschaft braucht alles, von den ganz großen Blockbustern bis hin zu den kleinen experimentellen Filmen und den Cinematheken. Falls da etwas wegbricht, wird es sehr schwierig. Mittelfristig oder langfristig denke ich, dass Kinos vor allem überleben als ein Ort, an dem eine Kinokultur und auch eine Kunstform zelebriert werden kann. Dafür wird es Unterstützung von staatlicher und kommunaler Seite brauchen, wie sie heute etwa Museen, Theater und Opernhäuser erfahren. Dadurch wird sich das Kino vermutlich ein wenig mehr musealisieren. Festivals auf der anderen Seite werden weiterhin Sinn machen und in ihrer heutigen auch größere Zielgruppen erreichen können. Denn die Mischung, die Bandbreite und die bunte Vielfalt, die man auf Festivals erlebt, kann man an keinem anderen Ort finden.“

Inwieweit ist für Sie als Intendant eines deutschen Festivals die Zusammenarbeit mit tschechischen Festivals wichtig? Arbeiten Sie zusammen?

Karel Och | Foto: Slavomír Kubeš,  ČTK

„Natürlich arbeiten wir zusammen. Es hat sich sogar in der Pandemie gezeigt, dass die Zusammenarbeit durch Videokonferenzen einfacher wurde. Mit Karel Och zum Beispiel habe ich mehrere Gespräche während der Pandemie geführt darüber, was wir planen und wie wir auf die Krise reagieren. Wir haben Erfahrungen ausgetauscht. Das war auch mit anderen Festivalteams so. Es hat so viel Zusammenarbeit gegeben wie nie zuvor, und es ist klar, dass es ohne diesen Austausch gar nicht geht. Ich bin sehr froh darüber, dass wir Teil einer großen Gemeinschaft sind.“

„In der Pandemie hat es so viel Zusammenarbeit zwischen den Festivals gegeben wie nie zuvor.“

Waren Sie schon öfter beim Filmfestival in Karlovy Vary?

„Ich war schon sieben- oder achtmal hier, also mindestens alle zwei bis drei Jahre. Denn das Festival gefällt mir außerordentlich gut. Hier ist es besonders leicht, Menschen zu treffen und kennenzulernen, aber auch Entdeckungen aus dem osteuropäischen Raum zu machen. Mir gefällt die Atmosphäre, und es ist auch nicht so weit entfernt. Ich fahre mit dem Auto von Leipzig zweieinhalb Stunden. Das ist nichts im Vergleich mit den Flugreisen, die man zu den weiter entfernten Festivals macht. Es ist sozusagen ein Festival in der Nachbarschaft.“

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