„Das ist eine tickende Zeitbombe“ – Politologe Schuster über tschechische Politik im Jahr 2011
Das Jahr 2011 ist angebrochen – es soll das Jahr der Reformen in Tschechien werden. Doch bereits im Dezember musste die Regierungskoalition eine Krise überstehen. Dies ist genauso ein Thema für den Politologen und Radio-Prag-Mitarbeiter Robert Schuster wie der Besuch des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer vor kurzem in Prag und seine Bedeutung für die zukünftigen tschechisch-bayerischen Beziehungen.
„Historisch war der Besuch Horst Seehofers in Prag auf jeden Fall. Wenn man bedenkt, dass er der erste bayerische Ministerpräsident seit dem Jahr 1945 ist, der in die tschechische Hauptstadt gekommen ist, dann ist das sicherlich einen Eintrag in die Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen wert. Von Tauwetter würde ich allerdings noch nicht sprechen, denn dafür bedarf es meiner Meinung nach immer noch relativ vieler vertrauensbildender Maßnahmen von beiden Seiten. Man hat auch bei dem Treffen zwischen Seehofer und seinem tschechischen Gegenüber, Premier Petr Nečas gesehen, dass sehr viel Reserviertheit im Spiel war. Beide waren sehr vorsichtig, um kein falsches Wort in den Mund zu nehmen. Ich denke, das einzige, was helfen kann diese Atmosphäre zu entspannen und tatsächliche eine Art Tauwetter einzuleiten, wäre, wenn sich nicht nur diese beiden Politiker, sondern auch andere Spitzenpolitiker Bayerns und Tschechiens in der nahen Zukunft so oft wie möglich treffen würden.“
Zwanzig Jahre lang hat ja eigentlich Stillschweigen auf der Achse München-Prag geherrscht. Welche Gründe siehst du, dass der Besuch gerade jetzt möglich geworden ist?„Der Besuch eines bayrischen Ministerpräsidenten in Prag hat sich schon vor zwei oder drei Jahren angebahnt. Damals war Günther Beckstein designierter Ministerpräsident und kam noch als bayerischer Innenminister zu einem offiziellen Besuch nach Prag, wobei er anklingen ließ, auch bald als Regierungschef kommen zu wollen. Dazu ist es aber nicht gekommen. Die Gründe dafür, warum das so lange gedauert hat, liegen in den Fragen der Vergangenheit – Stichwort Vertreibung der Sudetendeutschen. Dies hat alles andere, auch die Fragen der Gegenwart und Zukunft überlagert. Vielleicht sind die zwanzig Jahre seit der Wende auch eine wichtige zeitliche Zäsur und der richtige Zeitpunkt, um einen gewissen Abstand zu diesen Vergangenheitsthemen zu erhalten - und vielleicht auch zur Einsicht zu gelangen, dass man einfach bei gewissen Themen nicht immer einer Meinung sein kann oder muss.“
Du hast bereits erwähnt, dass Premier Nečas und Ministerpräsident Seehofer sehr vorsichtig bei ihrem ersten Treffen haben. Unter anderem haben sie auch vermieden, die Begriffe Beneš-Dekrete und Sudetendeutsche in den Mund zu nehmen. Glaubst du, dass die schmerzhafte gemeinsame Vergangenheit in der Zukunft als Thema eher an Bedeutung verlieren wird, oder könnte auch noch mal eine große Diskussionswelle darüber auf beide Seite zukommen?„Ich denke, dass das aus der vorderen Linie der politischen Debatten allmählich verschwinden wird. Dafür sind ganz einfach die Herausforderungen der Zukunft und teilweise auch der Gegenwart zu groß – sowohl für Bayern, wie auch für Tschechien. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Das heißt, wenn man ein Thema, bei dem es unterschiedlichen Meinungen gibt, in der Agenda nach unten schiebt, dann heißt das noch lange nicht, dass man nicht eine Lösung finden und das Thema ein für allemal regeln könnte. Ich erwarte, dass der ganze Themenkomplex „Vertreibung/Sudetendeutsche/Beneš-Dekrete“ von der politischen Ebene herunter gestuft wird, und zwar auf eine Eben, wo sich Historiker und Juristen damit befassen. Das auch mit der Perspektive, dass es vielleicht in zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren möglich sein wird, dazu gemeinsame Standpunkte und Sichtweisen zu entwickeln. Ich denke aber, dass dieses Thema nun aus den unmittelbaren politischen Beziehungen herausgenommen wird.“
Auf wirtschaftlicher, kommunaler und regionaler Ebene gibt es ja bereits eine ganze Menge Kontakte zwischen Tschechien und Bayern. Glaubst du, dass die tschechisch-bayerischen Beziehungen durch Seehofers noch einen weiteren Schub bekommen können? Und wo siehst du noch Verbesserungsmöglichkeiten, jetzt mal nicht auf politischer Ebene? Zum Beispiel Sprachenlernen…„Einen Schub wird es sicherlich geben, was die Zusammenarbeit der politischen Vertreter auf kommunaler Ebene angeht. Auch wenn es seit zwanzig Jahren eine Reihe von tschechisch-bayerischen Städtepartnerschaften gibt, glaube ich, dass viele tschechische Kommunalpolitiker sich vielleicht auch etwas gesträubt haben, Beziehungen mit bayerischen Kommunen aufzunehmen. Man war sich ja nicht sicher, wie weit man sich heraus lehnen kann und ob von der Regierung in Prag nicht jemand dazwischenfunkt. Da Horst Seehofer nun offiziell in Prag war, wird auf kommunaler Ebene der Druck wegfallen, dass man sich unbedingt auch den historisch belastenden Themen annehmen muss. Das wird auch zu einer gewissen Entspannung führen. Wenn man sich aber etwas näher kommen will, dann bedarf es nicht nur der Sprachkenntnis, sondern auch geeigneter Verkehrswege, was ebenso ein sehr wichtiges Thema beim Seehofer-Besuch in Prag war. Es wurde von der Notwendigkeit geredet, das Schienennetz zwischen Tschechien und Bayern auszubauen, die Strecke Pilsen-Regensburg-Nürnberg zu modernisieren und vieles Weiteres. Das sind auch die wichtigsten Schlussfolgerungen von diesem Besuch, die in naher Zukunft verwirklicht werden sollten.“Wir waren jetzt bei den tschechisch-bayerischen Beziehungen und ihrer Entwicklung nach dem Besuch von Seehofer. Aber natürlich würde ich auch gerne in der tschechischen Innenpolitik ein bisschen die in die Kristallkugel schauen. Kann man sagen, dass das Jahr 2011 das Jahr der Reformen wird? So zumindest plant es die derzeitige tschechische Regierungskoalition.„Sicherlich. Die Regierung hat auch keine andere Möglichkeit, als die wichtigsten Reformen, wie die Gesundheitsreform oder die Reform des Rentensystems, in diesem Jahr durchzuziehen. Es finden schließlich in diesem Jahr keine Wahlen statt. 2012 stehen dann wieder Regionalwahlen auf dem Programm, wobei die letzten aus dem Jahr 2008 gezeigt haben, wie die Opposition mit Kritik an den Reformen bei den Wählern punkten kann. Wenn es die Regierung ihre Reformvorhaben nicht 2011 schafft, dann wird es ihr in den Folgejahren nicht mehr gelingen.“
Wie viel Konfliktpotential bergen die Reformen? In einer Umfrage für die Zeitung Lidové noviny hat ja eine Mehrheit der Tschechen Zweifel geäußert, dass die Regierungskoalition die volle Legislaturperiode aushalten wird. Ist das übertrieben pessimistisch?„Eigentlich nicht, wenn man bedenkt, dass kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres die Regierung fast wegen einer Bagatelle gestürzt wäre – da ging es ja gar nicht um die geplanten Reformen oder um große ideologische Konflikte innerhalb des Regierungslagers. Die drei Parteien werden sich schon zusammenraufen müssen. Es stimmt, dass die Reformen etwas kosten werden, weil alles, was den Bürgern etwas abverlangt, sich in den Umfragewerten der Regierungsparteien sofort niederschlägt. Nicht zu vergessen ist auch, dass sich die drei Regierungsparteien in völlig unterschiedlichen Situationen befinden. Die stärkste Regierungspartei, die Demokratische Bürgerpartei (ODS) von Premier Nečas hat es am leichtesten, weil sie nicht die Ministerien inne hat, die von den Reformen am stärksten betroffen sein werden: Finanzen, Arbeit und Soziales sowie Gesundheit. Diese Zuständigkeiten hat aber wiederum die neue Partei TOP 09, die sich sehr anstrengen muss. Ihre Klientel ist allerdings überdurchschnittlich hoch von der Notwendigkeit der Reformen überzeugt. Der dritte Partner im Bunde ist die ebenfalls neue, populistisch agierende Partei der öffentlichen Angelegenheiten. Bei ihr weiß man eigentlich überhaupt nicht, wie sie sich in der Reformdebatte verhalten wird. Das ist fast eine tickende Zeitbombe. Wenn die Partei der öffentlichen Angelegenheiten nicht mitzieht, wird die Regierung die volle Legislaturperiode nicht überstehen.“
Gibt es außenpolitisch etwas Wichtiges, das auf die Tschechische Republik im kommenden Jahr zukommt?
„Es gibt keine unmittelbaren Herausforderungen im Bereich der Außenpolitik. Dennoch bringt das Jahr 2011 ein sehr interessantes Jubiläum mit sich, nämlich das zwanzigjährige Bestehen der Visegrad-Gruppe, also jener informellen mitteleuropäischen Staatengruppe, die aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn besteht. Zudem übernehmen die Ungarn in der ersten Jahreshälfte 2011 die EU-Ratspräsidentschaft, und das wird sicherlich die eine oder andere Gelegenheit geben, stärker auf den Raum Mitteleuropa aufmerksam zu machen und die Zusammenarbeit der vier Staaten noch stärker zu forcieren. Den tschechischen Außenpolitikern wird ja oft vorgeworfen, dass sie sich nur um die euroatlantischen Beziehungen, um Brüssel oder höchstens noch um Moskau kümmern, den mitteleuropäischen Raum jedoch vernachlässigen. Das Visegrad-Jubiläum wie auch die EU-Ratspräsidentschaft Ungarns bieten somit eine gute Gelegenheit, das tschechische Engagement hier zu verstärken.“