Das Massaker von Prerau als Doku-Drama
Es war das größte Massaker in der Nachkriegszeit: In einer Juninacht 1945 ermordeten tschechoslowakische Soldaten nahe der mährischen Stadt Přerov / Prerau 267 Menschen. Die Opfer waren überwiegend Karpatendeutsche, die sich auf dem Rückweg in ihre Heimat befanden. Über den Massenmord drehte Regisseur Jiří Havelka mit den Schauspielern des Nationaltheaters ein Doku-Drama, das auf der Webseite der Prager Bühne zu sehen ist. Über die Entstehung des Films und seine Recherchen in den Archiven sprach der Regisseur anlässlich der Premiere des Stücks vorige Woche in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks.
Regisseur Jiří Havelka drehte während der Corona-Krise mit den Schauspielern des Nationaltheaters einen Film mit dem Titel „Očitý svědek“ (zu Deutsch: Augenzeuge). Vom Tod der 267 Zivilpersonen erzählen die Schauspieler, indem sie die Aussagen derjenigen widergeben, die damals gemordet haben, die ihre Nächsten verloren oder die nur bei der Tat zugesehen haben. Die Zeugenaussagen aus dem Archiv verwandelten sich vor der Kamera in Erzählungen von Menschen mit einem konkreten Schicksal. Der Zuschauer sieht nur die Gesichter von 34 Personen, die das Massaker nahe Přerov schildern. Anderthalb Stunden lang wechseln sich die Gesichter vor dem Hintergrund einer weißen Mauer. Die Darsteller sprechen eine Protokollsprache, die archaisch klingt. Die Kamera ist statisch, die Aussagen wirken authentisch. Mit dem Thema befasste sich Regisseur Havelka einige Jahre lang, wie er im Tschechischen Rundfunk anmerkte:
„Ich studierte das Stück ,Elity‘ (zu Deutsch: Eliten) im Slowakischen Nationaltheater ein. Dem Drama lagen die Werbeakten des kommunistischen Geheimdienstes ŠtB zugrunde. (Das slowakische Institut Ústav pamäti národa befasst sich mit der Aufarbeitung der Akten des kommunistischen Geheimdienstes ŠtB, Anm. d. Red.). Ich fing damals an, mit dem slowakischen Institut Ústav pamäti národa zusammenzuarbeiten. Dabei stieß ich auf Akten vom Militärhistorischen Institut, die die Untersuchungen zum Massenmord von Přerov beschrieben. Ich wusste zuvor nichts davon. Und plötzlich stellte ich fest, dass das wirklich geschehen war. Tagelang konnte ich nicht aufhören, daran zu denken. Ich suchte darum nach weiteren Dokumenten. Als ich schon einen dicken Stapel von Archivmaterialien gesammelt hatte, wusste ich, dass damit etwas gemacht werden muss.“
Der Regisseur besuchte Lověšice, das heute ein Ortsteil von Přerov ist und wo ein kleines Denkmal steht. Er suchte seinen Worten zufolge nach den möglichen Ursachen des Massenmordes sowie Befehlen, die das Massaker ermöglichten. Allmählich habe er entdeckt, wie viele Informationsquellen es dazu gibt und wieviel darüber bekannt ist, so Havelka:
„Die erste Idee war, ein Drehbuch zu schreiben. Ich konnte mir vorstellen, die Zeugenaussagen zu verfilmen und zu versuchen, die Chronologie der Ereignisse zusammenzustellen. Denn alles spielte sich sehr schnell ab: Am Morgen waren die Züge da, in der Nacht wurde geschossen, am nächsten Tag fuhren die Züge wieder ab. Es gibt so viele Augenzeugenaussagen, dass sie den ganzen Tag, die Nacht sowie den nächsten Tag rekonstruieren.“
Schicksalhaftes Zusammentreffen von zwei Zügen
Havelka schrieb also ein Filmdrehbuch. Anschließend dachte er eher an eine Miniserie, die auch die Untersuchungen des Massakers bis 1948 umfassen würde. Jetzt aber übertrug er die ursprüngliche Idee in einer einzigartigen Form auf die Bühne. Der Zuschauer erfährt durch die Zeugenaussagen, was in der Nacht vom 18. auf 19. Juni 1945 passiert ist. Der Regisseur:
„Es war einen Monat nach dem Krieg. Am 18. Juni trafen in Přerov zwei Züge ein. Sie konnten jedoch nicht direkt auf dem dortigen Bahnhof halten, sondern blieben im Rangierbahnhof im Vorort Lověšice. Einer der Züge war voll von tschechoslowakischen Soldaten, die von der Siegesfeier auf dem Prager Wenzelsplatz zurückkehrten. Sie fuhren Richtung Bratislava. Im zweiten Zug reisten Tschechoslowaken, die in ihre Heimat – die Slowakei – zurückkehrten, vor allem nach Dobšiná. Sie waren zuvor vor der Roten Armee in den Schluckenauer Zipfel evakuiert worden. Damals wurden sie als Deutsche bezeichnet. Einige Frauen unter ihnen hatten deutsche Männer. Häufiger waren es Menschen, die sich zu den Deutschen bekannten, um in deren Fabriken arbeiten und den Krieg überleben zu können. Die Evakuierung betraf vor allem Frauen, alte Männer und Kinder. Im Schluckenauer Zipfel überlebten sie den Krieg und kehrten nun nach Hause zurück.“
Die Waggons, in denen die Heimkehrer reisten, waren mit slowakischen, tschechischen und auch russischen Flaggen geschmückt. Das Zusammentreffen der beiden Züge auf einem Bahnhof hatte tragische Folgen. Was genau der Impuls war, warum die Soldaten die Menschen aus dem Zug holten, interessiert Havelka am meisten. Er ist nicht der einzige, der sich mit den Ereignissen beschäftigt. Mit dem Massaker an der Schwedenschanze befasste sich zuvor ausführlich der Historiker František Hýbl. Der ehemalige Leiter des Prerauer Museums schrieb ein Buch darüber. Außerdem bearbeitete der Publizist Jan Urban gemeinsam mit Marek Pivovar das Thema in einem Hörspiel. Havelka sprach sowohl mit Hýbl als auch mit Urban. Er las zudem das Buch von Jiří Padevět über die Gewalttaten, die kurz nach dem Krieg auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik an Deutschen verübt worden sind. Aus den Zeugenaussagen geht laut dem Regisseur hervor, dass jemand die Heimkehrer im Zug deutsch oder halbdeutsch sprechen hörte.
„Einer der Soldaten sagte vermutlich dem Leutnant Karol Pazúr, dass es da Deutsche gibt, die in die Heimat zurückkehren. Und was es für ein Unsinn ist, dass sie in die Republik zurückreisen.“
Es sei, so Havelka, bekannt, dass Pazúr am Morgen bei der örtlichen Polizeistelle nachfragte, ob es dort nicht irgendwelche SS-Männer gibt. Es saßen dort zwar einige in Haft. Aber der Beamte lehnte es ab, sie an Pazúr auszuliefern. Der enttäuschte Leutnant kehrte in den Zug zurück. Dort bekam er vermutlich schon eine Namensliste. Denn einige der slowakischen Soldaten stammten aus Dobšiná und kannten ein paar von den Heimkehrern persönlich. Jedenfalls wurden mehrere der Slowaken aus dem Zug geholt. Es habe aber keinerlei Verhör gegeben, so Havelka:
„Es gibt Zeugenaussagen aus den Waggons, wie die Menschen ausgesucht wurden und warum. Sie zogen beispielsweise den 15-jährigen Ján Repaský aus dem Zug. Seine Schwester und Mutter sagten den Soldaten, dass er keinen Personalausweis hat, weil er nur 15 Jahre alt ist. Die Soldaten akzeptierten das nicht, weil er älter aussah. Sie sagten, das sei bestimmt ein SS-Mann.“
Massenmord und Raubmord
267 Menschen, vor allem alte Männer und Frauen mit zum Teil sehr kleinen Kindern, mussten den Zug verlassen. 30 bewaffnete Soldaten überwachten sie auf Pazúrs Befehl. Sie trieben die Menschen in Viererreihen nach Horní Moštěnice, das südlich von Přerov liegt. Havelka vermutet, dass sie die ,Flüchtlinge‘, wie die Soldaten sie bezeichneten, vielleicht in der dortigen Ziegelfabrik einsperren wollten. Der Bürgermeister des Ortes lehnte es jedoch ab, den Soldaten die Schlüssel zu geben. Der ganze Umzug kehrte in Richtung Lověšice zurück und blieb auf der Kreuzung stehen, über der sich die Schwedenschanze befindet. Dies ist ein Wall aus dem Dreißigjährigen Krieg. Pazúr befahl zuvor dem Nationalausschuss in Lověšice, ihm 15 Männer mit Spaten und Schaufeln zur Verfügung zu stellen. Diese ließ er eine Grube ausheben. Die Männer wollten anschließend natürlich nach Hause gehen, aber Pazúr erlaubte das nicht. So legten sie sich ins Gras. Ihre Aussagen über die Hinrichtungen sind dem Regisseur zufolge am grausamsten. Einer der Männer sagte:
„Nach dem Ausgraben der Grube sagten uns zwei Offiziere, dass jetzt hingerichtet wird und dass unsere Arbeitstruppe die Leichen zuschütten soll. Dagegen wehrte ich mich scharf und forderte den Offizier auf, uns nach Lověšice zurückgehen zu lassen. Das lehnte er ab und befahl uns streng zu bleiben.“
Ein anderer Mann sagte später, er könne sich nicht erklären, warum er sich nicht umwandte und nach Hause ging. Er hatte damals Angst zu flüchten, so wie andere auch, meinte er.
Pazúr befahl etwa zehn Soldaten, hinaufzugehen und ihre Waffen zu laden. Sie holten je zehn der sogenannten „Flüchtlinge“ aus der Reihe und erschossen sie, beschreibt Regisseur Havelka:
„Es begann eine unglaubliche massenhafte Hinrichtung, ein Mord, der zudem ein Raubmord war. Denn die Frauen nahmen ihre Ohrringe ab, und die Soldaten steckten sie gleich ein. Die Flüchtlinge mussten sich ausziehen, Pazúr und sein Hinrichtungskommando haben die Habseligkeiten untereinander verteilt. Sie plünderten auch die Waggons. Das dauerte die ganze Nacht lang, alle wussten davon. Viele der dortigen Bewohner haben das gesehen.“
Das jüngste Opfer war ein acht Monate alter Säugling, das älteste war ein 80-jähriger Mann.
Versuch einer Bestrafung
Vor Gericht wurde schließlich nur Karol Pazúr gestellt. Regisseur Havelka lobt den zuständigen Olmützer Staatsanwalt František Doležel, der ein überzeugter Demokrat war. Er wollte sogar eine Exhumierung der Leichname anordnen, erzählte Havelka:
„Der Geheimdienst StB führte jedoch einige Tage früher eine geheime Exhumierung durch. Es zeigte sich, dass die Mehrheit der Opfer noch am Leben war, als sie zugeschüttet wurden, denn sie hatten viel Erde im Mund und in den Händen. Bestattet wurden anschließend nur Männerleichen. Die sterblichen Überreste der Frauen und Kinder wurden verbrannt, um Beweise zu vernichten.“
Den Fall übernahm bald der Militäranwalt Anton Rašla. Dieser hatte schon einige Gegner des kommunistischen Regimes ins Gefängnis geschickt, erzählte Havelka. Aber selbst für den Militäranwalt war der Massenmord zu viel. Pazúr wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. Im Berufungsverfahren erhöhte das Militärgericht die Strafe auf 20 Jahre. Havelka dazu:
„Damals näherte sich jedoch schon der Februar 1948. Karol Pazúr, der zuvor Spitzel der Gestapo war, war auch Spitzel des NKVD. Im Gefängnis ist er zweifelsohne auch zum Agenten des tschechoslowakischen Geheimdienstes StB geworden. Nach dem Februar 1948 wurde Pazúr freigelassen, er saß nur knapp ein Jahr seiner Strafe ab.“
Mit dem Massaker an der Schwedenschanze befassen sich inzwischen Historiker und Publizisten. Es wurde nicht vergessen. Aber im Bewusstsein der tschechischen Öffentlichkeit ist der Massenmord nicht präsent. Könnte eine künstlerische Bearbeitung des Themas dies ändern? Der Regisseur:
„Es ist notwendig, die Wunden zu öffnen und zu fragen, warum sie nicht geheilt sind. Es ist ein Beispiel dafür, wer politische Stimmen wie gewinnt und wer imstande ist, eine Gruppe als Feinde zu kennzeichnen. Es ist heute sehr einfach, eine Gruppe von Menschen, ein Ethnikum auszuwählen und es als ‚DIE‘ zu bezeichnen. Das genau geschah damals der Gruppe von 300 Menschen. Jemand sagte, das seien Deutsche und SS-Männer oder sie seien von der Hitler-Jugend. Nichts davon stimmte, zumindest gab es dafür keine Beweise, aber das Gesagte hat gereicht. Etwas wird ausgesprochen, und in dem Moment gilt es. Es ist notwendig, nach den Ursachen zu suchen. Vielleicht nicht unbedingt intellektuell und faktengrafisch, aber vor allem emotional. Wir müssen versuchen, uns in verschiedene Sichtweisen hineinzuversetzen. Und dies kann eben die Kunst, indem sie eine ganze Skala von Empathie, von verschiedenen Blickwinkeln bietet. Dann hat der Mensch im Guten und im Bösen eine bessere Orientierung.“
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