Das Münchner Abkommen und die sudetendeutschen Sozialdemokraten
Ende September 1938 fand in München eine Konferenz statt, die über die Zukunft der Tschechoslowakei entschied. Die Mehrheit der damals in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen wollte an das Deutsche Reich angeschlossen werden. Ihr Wunsch wurde auf jener Konferenz erfüllt. An die Sudetendeutschen, die gegen den Anschluss an das Dritte Reich waren, erinnert im nun folgenden Kapitel aus der tschechischen Geschichte Katrin Bock.
In der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit gab es ebenso wie in der Weimarer Republik eine breite Parteienvielfalt und das tschechisch, slowakisch und deutsch: von den Kommunisten und Sozialdemokraten über die christlichen Parteien bis hin zu Agrariern und nationalistischen Parteien. Alle diese Parteien hatten auch ihre verschiedensten Verbände und Vereine, wie Thomas Oellermann am Beispiel der Sozialdemokraten erläutert:
"Neben der Partei, der DSAP - der deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei gab es auch ganz typisch Gewerkschaften, Genossenschaften, und eben auch ein reichhaltiges Verbandswesen, z.B. Turn- und Sportvereine, Bildungsvereine, Theatergruppen, ja und eigentlich alles, was so die Freizeit der Arbeiterschaft betrifft. Der Sozialdemokratie gehörten hauptsächlich tatsächlich Arbeiter an, das waren schätzungsweise bis zu 90 Prozent der Mitgliedschaft. Nur in ganz geringen Gruppen waren es vielleicht Lehrer oder auch Angestellte. Aber den Hauptteil bildete die nordböhmische und westböhmische Arbeiterschaft."Als die Tschechoslowakei Ende Oktober 1918 entstand, standen ihr die meisten sudetendeutschen Sozialdemokraten eher ablehnend gegenüber. Diese Einstellung änderte sich mit der Zeit:
"Das war für 20er Jahre sehr problematisch, es gab verschiedene Kritikpunkte der Arbeiterturner am tschechoslowakischen Staat, ein zentraler Punkt war die Subventionierung der Tätigkeit: das meiste Geld bekam letztendlich der tschechoslowakische Sokol und die Arbeiterturner und gerade die deutschen Arbeiterturner bekamen deutlich weniger, und das wurde in den 20er Jahren auch sehr deutlich kritisiert. So und das ganze ändert sich 1929, weil hier deutsche und tschechische Sozialdemokraten in die Regierung eintreten, und so wird natürlich auch das Verhältnis der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterturner anders und ab 1929 wird die Kooperation zwischen deutschen und tschechoslowakischen Arbeitertunern und Sozialdemokraten eindeutig besser. Sie arbeiten zusammen und versuchen zusammen auch, Mittel zu finden, um der Bedrohung, die sich von außen aufbaut, irgendwie entgegen zu wirken."
Die Zusammenarbeit zwischen deutschen und tschechischen Turnern nahm mit der zunehmenden Bedrohung ebenfalls zu, dazu noch einmal Thomas Oellermann:"Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland wurde eigentlich im umgekehrten Sinne das Verhältnis zwischen deutschen und tschechischen Sozialdemokraten besser, denn unter dem Eindruck der äußeren aber auch inneren Bedrohung, denn schließlich haben ja auch nationalistische sudentedeutsche Kräfte an Zulauf gewonnen, kooperierte man mehr, es gab mehr gemeinsame Veranstaltungen. Das schlägt sich ganz genau bei diesen Verbänden nieder. Während sich die beiden sozialdemokratischen Parteien, die deutsche und die tschechoslowakische nicht so wirklich nahe kamen, kann man z.B. für die Arbeiterturner sagen, dass sie sehr stark kooperierten, das ging dann 1938 sogar soweit, dass man für den Sommer 38 gemeinsame Ferienaktionen für Kinder plante. Also je stärker die Bedrohung wurde, desto besser wurde die Zusammenarbeit."
Ab Frühsommer 1938 spitzte sich die Situation in den Sudetengebieten immer mehr zu - immer öfter kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Henlein-Anhängern und ihren Gegnern. Während erstere einen Anschluss an das Dritte Reich forderten, setzten sich ihre Widersacher für den Erhalt der Republik ein.
"Man hat bis zuletzt höchste Kampfbereitschaft eigentlich demonstriert, und Kampfbereitschaft meinte jetzt nicht nur die politische Agitation unter den Arbeitern oder unter der deutschen Bevölkerung der Tschechoslowakei, sondern meinte auch wirklich Kampf, denn die Sozialdemokraten waren auch beteiligt an einer Organisation, das war früher die Rote Wehr und sie wurde später umbenannt in die Republikanische Wehr, und diese war wirklich eine Organisation, die mit Waffen versuchte die Republik zu schützen oder auch die Grenzen der Republik zu schützen. Es gab gewalttätige Auseinadersetzungen, zum Beispiel auf Turnfesten, aber auch auf Veranstaltungen der deutschen sozialdemokratischen Partei zwischen Sozialdemokraten und sudetendeutschen Nationalisten oder Nationalsozialisten. Hierbei waren die Sozialdemokraten diejenigen, die die Republik im Endeffekt verteidigt haben."Kann man sich das wirklich vorstellen, dass die mit einer Waffe in der Hand da waren?
"Es gibt Photos wo man wirklich z.B. die Mitglieder dieser Republikanischen Wehr sieht, die sitzen auf einem LKW mit Gewehren in der Hand - und auf dem LKW steht "Wir schützen die Grenzen der Republik". Also ich denke schon, dass die deutschen Sozialdemokraten sehr kampfbereit waren. Und um noch mal auf die Turner zurückzukommen, diese Arbeitersportler. Die haben in ihrer aktuellsten Fassung aus dem Jahre 1937 sogar den Schiesssport und den Wehrsport in ihre Satzung aufgenommen: Sie haben es also als eine Aufgabe ihres Verbandes verstanden, ihre Mitglieder in Schiessen zu unterrichten, also eine ganz klare Ansage dahingehend, dass sie die Republik verteidigen wollen notfalls auch mit der Waffe in der Hand.
In den letzten Gemeindewahlen im Mai und Juni 1938 erhielt die Sudetendeutsche Partei von Konrad Henlein 90% der deutschen Stimmen. Dieser hatten sich inzwischen die anderen deutschen Parteien angeschlossen, mit Ausnahme der Sozialdemokraten, die 10 Prozent der Stimmen erhielten. Nach heftigen Ausschreitungen im Sudetengebiet verbot die Prager Regierung am 16. September die Sudetendeutsche Partei. In dieser äußerst angespannten Zeit rief der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratischen Partei der Tschechoslowakei, Wenzel Jaksch Deutsche und Tschechen zu Besonnenheit auf:"Das Gebot der Stunde ist Besinnung. Lassen wir uns nicht einreden, dass das eine Volk nur aus Teufeln besteht und das andere nur aus Engeln. Ob uns eine deutsche oder eine tschechische Mutter geboren hat, vergessen wir nicht, dass wir auch Menschen sind. Um jeden Toten weint eine Mutter. Lassen wir nicht zu, dass künstlich erzeugte Giftschwaden des Hasses das Land überfluten und die Sonne des Friedens verdunkeln."
Zwei Wochen später trafen sich in München die führenden vier europäischen Politiker, um eine Ausweitung der Krise in der Tschechoslowakei zu vermeiden. Die beste Lösung sahen sie in der Abtretung der überwiegend von Deutschen besiedelten Grenzgebiete der Tschechoslowakei an das Dritte Reich. Konrad Henlein und seine Anhänger konnten sich Anfang Oktober 1938 freuen:
"So kam die Zeit da der Führer uns heimholte und heimrief in das große deutsche Vaterland - heil, heil- Am 10. dieses Monats ist das ganze sudetendeutsche Gebiet besetzt - heil, heil - am 10. dieses Monats ist unsere sudetendeutsche Heimat Teil des Reiches geworden - heil"
Für die sudetendeutschen Sozialdemokraten kam das Ende, dazu noch einmal der Historiker Thomas Oellermann:
"1938 ist eigentlich der Zusammenbruch dieser Verbandsstrukturen. Denn da sich die Tschechoslowakei als Staat nicht wehrt, wehren sich auch die deutschen Sozialdemokraten nicht. Ja, es ist der wirkliche Zusammenbruch: Also alle Sportstätten, die im Besitz dieser Arbeiterturner waren, werden konfisziert und der ganze Besitz dieser Verbände wird beschlagnahmt. Und letztendlich bleibt für eine gewisse Zahl von führenden Funktionären nur die Flucht oder das Exil, zuerst natürlich nach Prag, also in diesen Reststaat, und dann darüber hinaus gehend ein Jahr später noch weiter nach Paris, London, usw.. Für die breite Masse der Mitgliedschaft bleibt eben nur übrig, sich irgendwie anzupassen, Widerstand auszuüben oder zu gucken, in irgendeiner Form zu überwintern."
Noch im Oktober 1938 wurden die ersten schätzungsweise 20.000 Gegner des Dritten Reiches im Sudetengau verhaftet, ihnen sollten in den folgenden sechs Jahren Tausende folgen. Es wird geschätzt, dass über 15.000 sudetendeutsche Sozialdemokraten und 7.000 Kommunisten während des Zweiten Weltkriegs verhaftet wurden, mindestens 450 von ihnen wurden hingerichtet.