„In den ‚Gurre-Liedern‘ ist nichts, was normal ist“ – Aufführung in Prag mit 250 Mitwirkenden

Arnold Schönbergs postromantische Kantate „Gurre-Lieder“ kehrt nach 102 Jahren auf die Bühne der Staatsoper Prag zurück. Der Dirigent Petr Popelka leitet den riesigen musikalischen Apparat von 250 Mitwirkenden, in dem das Symphonieorchester des Tschechischen Rundfunks und das norwegische Rundfunkorchester spielen.

Foto: Tomáš Vodňanský,  Tschechischer Rundfunk

Die „Gurre-Lieder“ von Arnold Schönberg beruhen auf einer dänischen Sage aus dem 14. Jahrhundert. Der Komponist konzipierte die monumentale Kantate im Jahr 1900 und schrieb sie innerhalb von zwei Jahren in den größten Teilen. Dennoch dauerte es elf Jahre, bis das Werk vollendet war. Petr Popelka ist Chefdirigent des Symphonieorchesters des Tschechischen Rundfunks. Er führt den Taktstock im anstehenden Konzert:

„Die Gurre-Lieder sind ein Meilenstein in der Musikgeschichte. Bei ihnen handelt es sich um das größte Werk, das je geschrieben wurde, was die Größe des Ensembles angeht. Es toppt sogar Mahlers 8. Symphonie und ist also wirklich etwas Unglaubliches. Deswegen wird das Werk auch nicht oft gespielt, weil man so viele Menschen braucht und dazu enorm viel Zeit, da das Stück technisch unglaublich schwierig ist.“

Petr Popelka | Foto: Tomáš Vodňanský,  Tschechischer Rundfunk

Die Uraufführung im Februar 1913 in Wien wurde von Franz Schreker dirigiert. Petr Popelka fährt fort:

„Im Kontext von Schönbergs Schaffen haben diese Lieder einen ganz besonderen Platz. Wie wir wissen, hat Schönberg elf Jahre lang gebraucht, um das Stück zu vollenden. Als es im Musikverein uraufgeführt wurde, war es ein enormer Erfolg – eigentlich sein erster Erfolg, aber Schönberg war nur noch wenig daran interessiert. In seinen Werken bewegte er sich zu jener Zeit bereits ganz woanders. Wir wissen, dass er sich beim Beifall nicht zum Publikum verbeugt hat, sondern nur zum Orchester. Dadurch zeigte er, dass ihm quasi egal ist, in dem Moment anerkannt zu werden.“

Foto: Tomáš Vodňanský,  Tschechischer Rundfunk

Der Österreicher Arnold Schönberg gilt als einer der einflussreichsten Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts. Die spätromantische Kompositionstechnik habe für ihn aber in der Zeit der Premiere der „Gurre-Lieder“ schon als überwunden gegolten, sagt der Dirigent:

„Er hat sich als die Krönung der großen deutschen Tradition gesehen – angefangen bei Bach über Beethoven und Brahms bis zu ihm. Schönberg hat dann komplett seinen Stil verändert. Er brachte die harmonische Musik zu ihren absoluten Grenzen und sah dann keinen anderen Weg, als die Harmonie zu verlassen. Dann schrieb er die ersten Stücke, die atonal waren. In dem neuen Raum der absoluten Freiheit brauchte er aber auch Regeln und entdeckte das geniale System der Zwölftonmusik. Mit dieser Kompositionsmethode schuf er dann unglaubliche Werke. Er verließ die Riesenformen, mit denen er angefangen hatte, und konzentrierte sich auf kleine Werke. Schönberg hat seine Philosophie und seine Schaffensweise komplett verändert.“

Zurück aber zu den „Gurre-Liedern“. Schönberg komponierte in dem Stück über 35 musikalische Motive, die nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch Aspekte der Natur und Gefühlszustände darstellen. Zum ersten Mal verwendete er auch die Technik des Sprechgesangs. Fünf Gesangssolisten, ein Sprecher, ein Chor und ein großes Orchester sind auf der Bühne. Das sind über 250 Künstler:

Foto: Tomáš Vodňanský,  Tschechischer Rundfunk

„Die Besetzung ist enorm: zehn Hörner, acht Wagner-Tuben, acht Posaunen, acht Flöten, ein enormes Schlagwerk, unter anderem mit Ketten, ein dreifacher Chor… In diesem Stück ist einfach nichts normal. Was in der Musik breit ist, ist da breit bis zum Gehtnichtmehr. Was flott und schnell ist, ist extrem schnell. Das Pianissimo bewegt sich an der Grenze des Hörbaren, und das Fortissimo bläst einem die Ohren weg. Das war in jener Zeit so. In der Kunst galt es, die Grenzen des Menschlichen, des Seelischen, des Ertragbaren zu erforschen. Und dieses Stück geht an die absoluten Grenzen.“

Die Gurre-Lieder wurden hierzulande bisher nur dreimal aufgeführt. Die Prager Uraufführung fand im Juni 1921 am Neuen Deutschen Theater statt. Das Orchester spielte damals unter der Leitung von Schönbergs Schwager Alexander Zemlinsky. 1964 wurde die Kantate vom Symphonieorchester des Tschechoslowakischen Rundfunks unter der Leitung von Václav Neumann und 2006 während des Festivals Prager Frühling von der Tschechischen Philharmonie unter der Leitung von Zdeněk Mácal aufgeführt. Petr Popelka war damals dabei:

Foto: Tomáš Vodňanský,  Tschechischer Rundfunk

„Ich habe früher Kontrabass im Orchester gespielt. Ich hatte das Glück, dass ich bei der Prager Aufführung in der Tschechischen Philharmonie gespielt habe. Und dann noch einmal als Kontrabassist im Rahmen des Festkonzerts zum Jubiläum des Symphonie-Orchesters des Bayerischen Rundfunks mit Mariss Jansons in Gasteig. Jetzt dirigiere ich die Gurre-Lieder zum ersten Mal. Diese Partitur verlangt natürlich enorm viel Zeit, man muss sich wahnsinnig im Voraus vorbereiten, bis man überhaupt die Noten alle liest. Ich habe schon viele Werke von Schönberg gemacht – die Kenntnis von Schönbergs Sprache ist die beste Vorbereitung.“

Dabei habe er in die Partitur eingreifen müssen, gesteht der Dirigent:

„In der Dynamik. Dynamisch gesehen gibt es da keine einzige Seite, auf der man nicht etwas verändern müsste.“

Als Vorlage für das Libretto diente ein dramatisches Gedicht von Jens Peter Jacobsen aus dem Jahr 1868. Die Geschichte spielt auf Schloss Gurre in Dänemark. König Waldemar verliebt sich in die schöne Tove, die von seiner Frau Helwig aus Eifersucht vergiftet wird. In seinem Kummer verflucht Waldemar Gott und ist dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit durch den Nachthimmel zu wandern. Seine Geliebte wird in der Pracht der Natur verkörpert. Die deutsche Sopranistin Susanne Bernhard singt Tove:

Foto: Tomáš Vodňanský,  Tschechischer Rundfunk

„Es ist für mich das erste Mal, dass ich diese Rolle singen darf. Ich muss es wirklich dürfen nennen, weil ich in diese Musik sofort verliebt war, als ich sie das erste Mal gehört habe. Ich finde auch die Sprache so toll. Sie ist so bildhaft, es gibt so viele Dinge, die die Emotionen unmittelbar ansprechen. Man spürt, fühlt, riecht und hört richtig die Dinge, die da in der Sprache ausformuliert werden. Ich bin sehr glücklich, dass ich das mache.“

Und wie ist es für eine Solo-Sängerin, vor einem 250-köpfigen Orchester zu singen?

„Ich habe immer noch eine innere Unruhe, die ich sonst nicht so sehr habe, wenn ich Stücke singe, die ich kenne. Es ist für mich in mehrerlei Hinsicht eine Herausforderung. Es handelt sich um einen sehr großen Orchesterapparat, man muss bestimmt an vielen Stellen sehr kräftig sein und viel Material bringen. Dennoch heißt es ja Gurre-Lieder. Dies ist eigentlich ein bisschen ein Widerspruch in sich, denn man muss mit diesem Text sehr fein umgehen, durch die vielen Emotionen und Bilder, die da beschrieben werden, eigentlich so wie beim Liedgesang. Aber von den technischen Anforderungen her ist es anders. Es gibt vielleicht ein paar Stellen, an denen man das Orchester dazu anleiten kann, dass es leise spielt, damit mehr Farben ermöglicht werden. Ich hoffe sehr, dass ich der Versuchung nicht erliege, zu glauben, ich müsste wahnsinnig viel geben und besonders laut sein. Denn das ist schade. Es ist unglaublich schön, und es lebt von der Seligkeit, der Schönheit, dem Legato. Ich hoffe, dass ich da bei mir bleibe.“

Foto: Tomáš Vodňanský,  Tschechischer Rundfunk

Für die neue Aufführung haben sich neben zwei Chören – dem Tschechischen Philharmonischen Chor Brünn und dem Slowakischen Philharmonischen Chor – auch zwei Orchester zusammengeschlossen. Und zwar das Symphonieorchester des Tschechischen Rundfunks (SOČR) und das norwegische Rundfunkorchester (KORK). Petr Popelka leitet die beiden Ensembles als Chefdirigent. Nun hat er die Instrumentenspieler zu einem Musikkörper vermischt:

„Das ist wirklich wunderschön, weil ich die beiden Orchester so gut kenne. Ich kann mir nicht vorstellen, solch ein Projekt mit einem Orchester zu machen, wo man sich nicht kennt. Es verlangt mein großes Vertrauen in die Musiker und das Vertrauen der Musiker in mich. Ich empfinde es als großes Geschenk, dass wir das verwirklichen können.“

Das Konzert wird im Rahmen des Projekts „Musica non grata“ im Prager Nationaltheater aufgeführt. Gleichzeitig ist es Teil der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen des Tschechischen Rundfunks.

Das Konzert wird am 20. Juni ab 19 Uhr vom Kultursender Vltava des Tschechischen Rundfunks und dem norwegischen Radiosender NRK P2 live aus der Staatsoper in Prag übertragen. Im Herbst wird auch der deutsche Radiosender MDR eine Aufzeichnung ausstrahlen. Die TV-Aufzeichnung des Konzerts wird vom Tschechischen Fernsehen und dem norwegischen Fernsehsender NRK ebenfalls im Herbst gezeigt.