Die Kommunal- und Senatswahlen 2010 aus der Sicht der Politikwissenschaftler
Wer hat denn nun eigentlich die Kommunalwahlen tatsächlich gewonnen? Waren es die Sozialdemokraten, die in vielen großen Städten Erfolge verzeichnen konnten? Oder doch die unabhängigen Kandidaten, die auf dem Land regelrecht abgeräumt haben und auch in einigen Großstädten beachtliche Ergebnisse erzielt haben. Oder gar die TOP 09, die die Hauptstadt Prag für sich erobern konnte? Radio Prag fasst dazu die Reaktionen von Politikwissenschaftlern zusammen.
„Bei Kommunalwahlen ist es immer schwierig, von einem eindeutigen Sieger zu sprechen. Da findet man die Verlierer schon besser. Man kann also nicht mit einem Satz auf diese Frage antworten und muss die verschiedenen Aspekte dieser Wahl herausstreichen. Dass die unabhängigen Kandidaten erneut die meisten Stimmen bekommen werden, war zu erwarten. Das liegt daran, dass sie vor allem in den kleinen Dörfern punkten können. Und Tschechien hat die Besonderheit, dass es vor allem aus vielen dieser sehr kleinen Dörfer besteht, die nicht einmal 500 Einwohner haben. Wenn wir uns auf die höhere Ebene begeben, also auf jene der großen Städte mit eigenem Statut, dann ist die Sache eindeutiger: Im Vergleich zum Jahr 2006 konnten die Sozialdemokraten deutlich zulegen. Die Frage ist, ob sich das auch in der Zusammensetzung der Stadtvertretungen widerspiegelt. Es könnte auch so wie bei den Parlamentswahlen passieren, dass die Sozialdemokraten zwar die Wahl gewonnen haben, aber trotzdem nicht an der Regierung beteiligt sind.“
Der geschäftsführende Sozialdemokraten-Chef Bohuslav Sobotka bezeichnete den Erfolg der Sozialdemokraten in vielen großen Städten als klares Zeichen der Wähler gegen den harten Sparkurs und die seiner Meinung nach ungerechten Reformen der Mitte-Rechts-Koalition von Petr Nečas. Dazu meint der Politologe Kamil Švec von der Universität Hradec Králové / Königgrätz:„Ich denke, das stimmt nur zur Hälfte. Der Hinweis auf die von der Koalition bereits durchgeführten oder angekündigten Reformen hat sicher viele Sozialdemokraten dazu motiviert, wählen zu gehen. Auf der anderen Seite glaube ich, dass es sich dabei um einen natürlichen Prozess der Aufteilung der Macht handelt. Die Wähler versuchen oft, ein politisches Gegengewicht zwischen Mehrheiten auf der staatlichen und der regionalen Ebene herzustellen. Das hat sich zum Beispiel auch bei den Regionalwahlen vor zwei Jahren gezeigt.“
Trotz der schweren Verluste für die Demokratische Bürgerpartei ODS in vielen großen Städten sei die Partei von Premier Nečas nicht in ihren Grundfesten erschüttert, findet der Prager Politikwissenschaftler Petr Just:„Aber der Verlust einiger ihrer bisherigen Bastionen wie Süd- und Ostböhmen muss der ODS zu denken geben. Besonders deutlich wird das in Budweis / České Budějovice, wo eine von der ODS abgespaltene Bürgerliste gewonnen hat. Gerade in Budweis und Südböhmen sowie in Königgrätz und Ostböhmen waren die Bürgerdemokraten jahrelang in einer absoluten Führungsposition, nicht erst bei den letzten Wahlen. Gemeinsam mit Prag waren das klare ODS-Hochburgen. Deren Verlust muss für die ODS ein Warnsignal sein, wieder mehr für die Bürger dort zu tun.“
Gefallen ist bei den Kommunalwahlen am Wochenende auch die größte aller ODS-Bastionen: In der Hauptstadt Prag stellte die Demokratische Bürgerpartei seit der politischen Wende vor 20 Jahren den Oberbürgermeister und regierte seit dem Jahr 2006 sogar mit absoluter Mehrheit. Nun ging, wie schon bei den Parlamentswahlen im Mai dieses Jahres, Platz eins an den Polit-Neuling TOP 09. Deren Spitzenkandidat, der ehemalige Notenbankchef Zdeněk Tůma, hat beste Chancen, neuer Prager Oberbürgermeister zu werden. Der Politikwissenschaftler Jiří Pehe von der Prager New York University meint, die Wähler hätten die Prager ODS für die vielen undurchsichtigen Geschäfte mit öffentlichen Aufträgen und den immer wieder geäußerten Korruptionsverdacht gegen einige bürgerdemokratische Politiker abgestraft:„Mich überrascht das Ergebnis überhaupt nicht. Ich denke, die ODS hat wirklich alles dazu getan, um in Prag eine große Niederlage zu erleiden. Ich habe mich eher über einige Wahlumfragen gewundert, die die ODS erneut vorne gesehen haben. Mir war dabei nicht klar, woher die Wähler kommen sollten, die die ODS trotz all der Skandale der vergangenen Jahre unterstützt hätten. Der Sieg der TOP 09 hat mich nicht überrascht. Prag hat traditionell immer rechts gewählt und nun hatten die Bürger erstmals die Wahl zwischen zwei rechts orientierten Parteien. Sie haben sich für jene entschieden, die – ich sage das jetzt vielleicht ein wenig zynisch – noch nicht korrumpiert ist.“ Die Rechnung für unsaubere Praktiken und Korruptionsvorwürfe präsentiert bekommen hat die ODS auch in anderen traditionell dem rechten politischen Lager zugewandten Städten wie Liberec / Reichenberg, Hradec Králové / Königgrätz oder Znojmo / Znaim, wo erst wenige Tage vor der Wahl das Rathaus von der Anti-Korruptions-Einheit der Polizei durchsucht wurde. Die Partei der Öffentlichen Angelegenheiten, die sich den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geheftet hat, konnte daraus aber keine Profite ziehen und hat bei den Kommunalwahlen landesweit schlechte Ergebnisse zu verzeichnen. Dazu sagt Politologe Pehe:„Die Partei der Öffentlichen Angelegenheiten ist regelrecht durchgefallen. Daraus muss die Partei nun Konsequenzen ziehen. Das Hauptproblem der Öffentlichen Angelegenheiten ist, dass sie eine Protestpartei war, die gegen das herrschende System und die so genannten politischen Dinosaurier angetreten ist. Und das erste, was sie nach den Parlamentswahlen gemacht hat, war, sich mit genau diesen Dinosauriern zusammenzutun. Damit haben viele ihrer Wähler ein echtes Problem. Das zweite Thema, das hinter dem Wahlerfolg im Mai gestanden ist, war der Kampf gegen die Korruption. Das spielt in der Arbeit der Koalition aber zurzeit nur eine untergeordnete Rolle, und das ist für die Partei der Öffentlichen Angelegenheiten ein ernstes Problem. Die Partei unterstützt in der Regierung eine Politik, die nicht in ihrem Programm steht, nämlich die neoliberalen Reformen der beiden rechten Koalitionspartner. Und auf der anderen Seite ist ihr Hauptthema, der Kampf gegen die Korruption, in der Regierungsarbeit nicht sehr präsent.“ Einig sind sich die Politikwissenschaftler darin, dass auf den Wahlsieger TOP 09 in Prag schwierige Koalitionsverhandlungen zukommen. Eine Zusammenarbeit mit der von den Wählern abgestraften ODS erscheint ihnen ebenso riskant wie ein Bündnis mit den Sozialdemokraten, die sich strikt gegen die von der TOP 09 in der Regierung mitgetragenen Sparmaßnahmen wenden. Eine theoretisch mögliche Zusammenarbeit der Sozialdemokraten mit der Demokratischen Bürgerpartei käme für Jiří Pehe gar einem politischen Selbstmord der Sozialdemokraten gleich, die damit in den Augen ihrer Wähler jede Glaubwürdigkeit verlieren würden. Heftig kritisiert wird von den meisten Experten auch das von der bisher allein regierenden ODS durchgesetzte Prager Wahlrecht, das den Einzug kleinerer Parteien in den Stadtrat extrem erschwert. Noch keine Mandate vergeben wurden bei der Neubesetzung eines Drittels des Senats. Über die Verteilung der nach dem Mehrheitswahlrecht ermittelten 27 Sitze entscheidet erst die Stichwahl am kommenden Wochenende. Dennoch freuen sich die Sozialdemokraten, der linken Mehrheit im Oberhaus des Parlaments einen entscheidenden Schritt näher gekommen zu sein. In 22 Wahlkreisen kämpft in der Stichwahl ein Sozialdemokrat um den Einzug in den Senat, der Gewinn von zwölf Senatoren reicht den Sozialdemokraten für eine Mehrheit im Oberhaus des Parlamentes. Droht dann eine Blockade der Regierungsarbeit durch einen politisch links dominierten Senat? Dazu sagt Politikwissenschaftler Pehe:„Das würde keine besonderen Schwierigkeiten für die Regierung bedeuten. Aber die Umsetzung einiger Vorhaben würde sich verlangsamen, weil der Senat öfter Gesetze an das Abgeordnetenhaus zurückschicken würde. Die Abgeordneten müssten das Veto des Senats überstimmen, was bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen allerdings kein Problem wäre. Paradoxerweise wäre das für die Regierungskoalition wahrscheinlich gar nicht so schlecht, denn über bestimmte Reformen würde dann mehr diskutiert und das Abgeordnetenhaus würde darüber zweimal abstimmen. Dadurch hätten diese Änderungen in den Augen der Gesellschaft dann wohl eine höhere Legitimität. Es gäbe eine gründlichere öffentliche Debatte und es besteht nicht die Gefahr, dass Dinge gegen den Willen beinahe der Hälfte der Gesellschaft durchgepeitscht werden.“Ein gewichtiges Wort mitzureden hat der Senat allerdings bei Änderungen am Wahlgesetz sowie bei Verfassungsreformen, wo Beschlüsse des Oberhauses nicht vom Unterhaus des Parlamentes überstimmt werden könnten. Sollte die Linke aus den Senatswahlen mit einer Mehrheit hervorgehen, hätte sie zumindest diesen einen Trumpf in der Hand, meint Politologe Pehe. Außerdem könnten die Sozialdemokraten Anspruch auf das prestigeträchtige Amt des Senatspräsidenten erheben, der gemäß Verfassung nach dem Staatspräsidenten als zweiter Mann im Staat gilt.