Die politische Krise in der Ukraine aus tschechischer Sicht
In der heutigen Ausgabe unserer Sendereihe Schauplatz befasst sich Robert Schuster mit der Frage, wie die aktuelle politische Krise in der Ukraine in Tschechien gesehen wird.
Das Interesse, welches die tschechischen Medien diesem Thema widmen, steht jedoch in einem krassen Kontrast zur Haltung der heimischen Politiker, die sich lange mit einer offiziellen Stellungnahme zurückhielten. Als zum Beispiel Außenminister Cyril Svoboda das Thema Ukraine vor vergangene Woche im Plenum des tschechischen Parlaments behandeln lassen wollte, stimmte eine Mehrheit der Abgeordneten dagegen und somit wurde dieser Programmpunkt nicht in die aktuelle Tagesordnung aufgenommen.
Ebenso in Grenzen hielt sich auch die Präsenz tschechischer Politiker auf diversen Solidaritätskundgebungen, die auch hierzulande - insbesondere natürlich in Prag - in den vergangenen Tagen stattfanden. Wie ist dieses Verhalten zu erklären? Standen vielleicht Befürchtungen dahinter, dass man mit etwaigen Stellungnahmen Russland provozieren könnte?
Das fragten wir den tschechischen Journalisten und Experten für die Länder der ehemaligen Sowjetunion, Jaromir Stetina. Stetina hat übrigens vor wenigen Wochen selber sozusagen die Seiten gewechselt, in dem er als unhabhängiger Kandidat der Grünen in Prag in den Senat, also die zweite Kammer des tschechischen Parlaments, gewählt wurde. Angesprochen auf den erfolglosen Vorstoß des tschechischen Außenministers im Parlament meint Stetina:
"Das war ein mutiger Versuch von Minister Svoboda das Parlament mit dieser Frage zu befassen, aber es ist ihm nicht gelungen, weil eben eine Mehrheit aus Kommunisten und Teilen der Sozialdemokraten und Bürgerdemokraten dagegen war. Es ist traurig und ich würde das sogar als Schande bezeichnen. Es gehört leider zu den unschönen tschechischen Eigenschaften abzuwarten, wie sich etwas entwickelt, wer der Gewinner sein wird um dann sagen zu können, dass der Sieger recht hatte. Das was sich heute in der Ukraine abspielt ist eine wahre Revolution - das hat längst nicht mehr nur mit manipulierten Wahlen zu tun. Dieses Land will sich endlich emanzipieren und aus dem Einflussbereich des Kremls ausbrechen. Diesem Land muss geholfen werden - deshalb sind die Polen hingefahren, aber warum waren nicht der tschechische Präsident oder Tony Blair, Chirac oder Schröder vor Ort? Auch wenn wir keine gemeinsame Grenze mit der Ukraine haben, gehört dieses Land doch auch zu unseren Nachbarn. Zudem ist es ein Nachbar, der nicht stabil ist und für uns daher nicht nur wirtschaftlich eine potentielle Gefahr darstellt."
Der heutige Senator Stetina war einer der ersten tschechischen Journalisten, die sich unmittelbar nach der Wende - also zu einer Zeit, als der Hauptstrom der Gesellschaft seine Blicke ausschließlich Richtung Westen setzte - in die damals noch bestehende Sowjetunion begab, um dort das Geschehen vor Ort zu beobachten und darüber zu berichten. So war unmittlebarer Zeuge des Auseinanderfallens des einstigen kommunistischen Riesenreiches, genauso wie der ersten militärischen Konflikte am Kaukasus. Später gehörte Stetina zusammen mit seiner Zeitungskollegin Petra Prochazkova zu den wenigen ausländischen Journalisten, die in Tschetschenien anwesend waren.
Damit hängt auch unsere nächste Frage an Jaromir Stetina zusammen und zwar, ob die aktuelle Entwicklung in der Ukraine - eingeschlossen die jetzt akut gewordene Gefahr, dass sich das Land spalten könnte - nur für das Land spezifisch ist, oder ob er diese Situation, die sich nun dort abzeichnet, in den vergangenen 15 Jahren auch anderswo im postsowjetischen Raum erlebt hat? Dazu meint Jaromir Stetina:"Ein gutes Beispiel liefert Georgien, also ein Land, welches schon seit einigen Jahren auf Grund von Einflüssen aus dem Ausland faktisch in einige Teile zerissen ist, und es in Abchasien einen Konflikt gibt mit dem Ziel diesen Landstrich vom georgischen Mutterland zu trennen. Ich habe das damals selber erlebt, als der Präsident Abchasiens die Unabhängigkeit verkündete und dabei von russischen Soldaten und Offizieren umgeben war. Der Umstand, dass in der abchasischen Metropole Suchumi heute fast keine Georgier leben, sondern dort die sog. neuen Russen alles aufgekauft haben, zeugt davon, dass Russland den Georgiern Abchasien genommen hat und das gleiche droht nun auch in der Ukraine, d.h. dass Georgien und die Ukraine in dieser Hinsicht sehr ähnlich sind."
Die aktuelle Krise in der Ukraine im Zusammenhang mit den teilweise gefälschten Ergebnissen der Präsidentenwahlen zeigt aber auch auf einen grundlegenden Konflikt in Bezug auf das Demokratieverständnis, das bislang in weiten Teilen der Nachfolgestaaten der einstigen Sowjetunion herrscht. In vielen dieser Staaten, vielleicht mit Ausnahme der baltischen Länder, die seit Mai diesen Jahres Vollmitglieder der Europäischen Union sind, hat sich nämlich, ein auf starken politischen Autoritäten aufgebautes politisches System entwickelt, welches sich zwar nach außen durchgehend demokratisch gibt, aber im Prinzip mit jener Demokratie, wie sie Westeuropa nach dem Krieg verwurzelte, nur wenig zu tun hat. Einige Politikwissenschaftler und Publizisten sprechen heute sogar von einer so genannten "von Oben gesteuerten Demokratie", die sich nun in vielen Nachfolgestaaten des einstigen sowjetischen Reiches - einschließlich Russland - zu etablieren scheint.
Kann aber angesichts der oft fehlenden demokratischen Tradition in diesen Ländern überhaupt erwartet werden, dass sich dort ein klassisches demokratisches System entwickeln kann? Dazu meint Jaromir Stetina."Ich denke, dass sowohl Russland und umso stärker auch die Ukraine, Moldawien oder Weißrussland Länder sind, die im Stande sind sich demokratisch zu entwickeln. Ich denke nicht, dass Russland dazu vorbestimmt wäre, dass dort immer nur eine Art mehr oder weniger aufgeklärte Zaren oder Präsidenten regieren müssten. In Russland lassen sich heute neue politische Eliten von demokratisch gesinnten Politikern finden und auch die Bürgergesellschaft ist dort entwickelter. Es ist ein Prozess, der aber seine Zeit und auch Unterstützung brauchen wird. Das Hauptgewicht des Verhältnisses von Europa und Russland sollte darin bestehen, dass man den demokratischen Politikern mehr helfen sollte. Nur ein Beispiel: Der russische Reformpolitiker Grigorij Jawlinski war vor einigen Monaten in Prag auf der Tagung des Forums 2000 und niemand hat ihn zur Kenntnis genommen - weder die Medien, noch die tschechischen Politiker. Ich denke man sollte also weitaus stärker diese Demokraten unterstützen und nicht nur alles blind auf eine Karte - nämlich auf Putin setzen. Putin zu hofieren bedeutet heute eigentlich bereits gleichzeitig die imperialen Tendenzen und die Etablierung eines autokratischen Regimes zu unterstützen."
Das Verhältnis der Tschechen nicht nur zur Russland, sondern zum gesamten sowjetischen Imperium, war durch starke Schwankungen gekennzeichnet. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Sympathien überwogen, weil man in den Russen die Befreier von den Nazis sah. Als dann 1968 die Reformbewegung des Prager Frühlings von den sowjetischen Panzern unterdrückt wurde, schlug diese ursprüngliche Sympathiewelle in tiefe Ablehnung um. Gleich nach der Wende waren die damaligen Politiker angesichts der ungewissen Entwicklung in Russland bemüht das Land so schnell wie möglich politisch und vor allem sicherheitspolitisch in den westlichen Strukturen zu verankern, was nicht zuletzt mit dem vollendeten EU-Beitritt Tschechiens im Mai diesen Jahren gelungen ist.
Sind heute bei den Tschechen eigentlich noch Ängste vor einer möglichen Gefahr aus dem Osten vorhanden, oder ist diese Region den meisten heute völlig gleichgültig? Hören Sie dazu abschließend noch einmal den Russland-Kenner und Politiker Jaromir Stetina:
"Gleichgültig kann diese Region niemandem sein und falls ja, dann zeugt das von extremer Kurzsichtigkeit. Russland ist nach wie vor ein instabiles Land und befindet sich in einer äußerst gefährlichen Phase seiner Geschichte. Es steht nämlich am Anfang des Zerfalls des traditionellen russischen Imperiums, das es längst vor der Sowjetunion gegeben hat. Die Ukraine war eben immer ein Kernland dieses Reiches. Deshalb habe ich Angst, dass Präsident Putin seiner Verantwortung nicht gerecht werden und den Einsatz von Truppen in der Ukraine befehlen könnte. Das Gleiche gilt auch für Georgien. Man muss Russland helfen, aber gleichzeitig auch aufpassen und ganz klar und deutlich sagen, dass die Größe Russlands nicht mit seiner territorialen Grenze gleichzusetzen sei, sondern damit, wie sich der Staat gegenüber seien Bürgern und seiner nahen Umgebung verhalten wird."