Die Sprache als Rückgrat der Landesgeschichte

Alter tschechischer Text

Im vergangenen August haben in Prag zwei internationale Fachveranstaltungen der Prager Karlsuniversität stattgefunden. Auf ihrem Programm standen – sehr vereinfacht gesagt – die tschechische Sprache, Literatur und Geschichte. Im Rahmen der so genannten „Sommerschule für slawische Studien“ trafen sich bereits zum 60. Mal Pädagogen und Studenten der Slawistik sowie andere Interessenten aus vielen Ländern der Welt. Dem Tschechischen als Fremdsprache wurde auch das 8.Internationale Symposium gewidmet. Diesmal unter dem Leitmotiv „Das Tschechische – ist es eine europäische und Weltsprache?“. Dieser Titel wies unverkennbar auf ein Thema hin, mit dem sich Jahre lang der vor wenigen Monaten verstorbene Professor der Karlsuniversität, Jiří Marvan befasste.

Jiří Marvan  (Foto: Archiv der Nationalbibliothek)
Der international anerkannte tschechische Sprachwissenschaftler Jiří Marvan hat sich sein Leben lang mit einem ungewöhnlich breiten Themenspektrum befasst. Viele Bohemisten und Linguisten kommen nicht umhin, sich mit seinem Lebenswerk vertraut zu machen. Tschechisch, Polnisch, Ukrainisch, Russisch, aber auch baltische Sprachen waren sozusagen sein wissenschaftliches Fahrwasser. Beinahe 30 Jahre lang wirkte er als Universitätsprofessor in Skandinavien, den USA und Australien. Nach seiner Rückkehr nach Tschechien Anfang der 1990er Jahre hielt er Vorträge an der Karlsuniversität in Prag und der Purkyně- Universität im nordböhmischen Ústí nad Labem/ Aussig.

2015 erschien sein rund 450 Seiten starkes Buch „Die Sprache. Ihre tschechische Geschichte - die ersten tausend Jahre (800 - 1800)“, an dem Marvan seit 1999 arbeitete. Es beginnt im 9 Jahrhundert mit der Entwicklung des Tschechischen aus einem slawischen Dialekt zu einer selbstständigen Sprache. Ihre Geburt datiert der Autor auf das Jahr 1012, als mit Fürst Oldřich mehr Ruhe in den von Machtkämpfen zerrütteten böhmischen Staat einkehrte. Ihm zufolge prägte die tschechische Sprache in den nachfolgenden 100 Jahren ein neues Sprachmilieu, in dem die Tschechen bis heute leben. Das Tschechische sei zum Epizentrum von Sprachänderungen geworden, die sich durch Mittel- und Mittelsüdeuropa - vom Baltischen Meer bis an die Adria verbreiteten. Der Prozess resultierte nach Marvan in der Entstehung der einzelnen slawischen Sprachen. Auf dem einst gemeinsamen Slawengebiet lebten dann die West-, Ost- und Südslawen fast vollkommen getrennt voneinander.

Buch „Die Sprache. Ihre tschechische Geschichte - die ersten tausend Jahre  (800 - 1800)“  (Foto: Verlag Karolinum)
Das Buch ist in chronologisch angeordnete Kapitel aufgeteilt, in denen die tschechische Sprache aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet wird. Dies aufgrund der Analyse authentischer Schriften und im Kontext des historischen Zeitgeschehens. Jiří Marvan sagte zum Beispiel über die Regierungszeit von König und Kaiser Karls IV.:

„Schon in der Zeit Karls IV. kann man von einer Bewusstseinsbildung über das Tschechische als einer Hochsprache sprechen. Damals galt sie - logischerweise gemeinsam mit Deutsch und Italienisch als eine der Hauptsprachen in Europa. Karl IV. verfügte unter anderem, das Tschechische bei Gerichtsverfahren zu verwenden. Daran erinnert der Kirchenreformator Jan Hus in seinen Schriften und ruft dazu auf, sich an Karls Anordnung zu halten. Eine Maßnahme zum Schutz des Tschechischen verlangte, dass diejenigen, die bewusst das Tschechische vermieden, des Landes verwiesen werden sollten. Diesbezüglich möchte ich erwähnen, dass Ähnliches auch in der auf Tschechisch verfassten Dalimil-Chronik vom Anfang des 14. Jahrhunderts geschrieben steht. Zweierlei Sprachen in einem Land könnten zum gesellschaftlichen Zerfall führen.“

Jan Hus
Ein eigenes Buchkapitel ist Jan Hus gewidmet. Allerdings nicht als Kirchenreformator, der 1415 den Märtyrertod auf dem Scheiterhaufen in Konstanz sterben musste.

„Das Heldentum von Jan Hus ist bewundernswert. Doch heute wird er von vielen Menschen hierzulande eher als Sprachreformator wahrgenommen. Und dies nicht nur in Bezug auf die tschechische Rechtschreibung. Neue Regeln aus seiner Feder setzten sich auch in der tschechischen Grammatik durch. Des Weiteren trug er maßgeblich dazu bei, dass das Tschechische zum selbstverständlichen Kommunikationsmittel wurde. Auf Tschechisch wurde gepredigt, was zum Beispiel bei den Lutheranern bis ins 18. Jahrhundert nicht der Fall war. Bekannt sind Hus´ Beschwerden darüber, wie sich das Prager Tschechisch germanisiere. In jener Zeit lebte in Prag eine starke deutschsprachige Gemeinschaft, deren Großteil deutsche Studenten und Professoren an der von Karl IV. gegründeten Universität bildeten. Wegen der Hussitenbewegung, die sich in Anlehnung an Hus´ Lehre sprunghaft landesweit verbreitete, geriet Böhmen in Europa für eine ganze Zeitlang in Verruf. Die Ausländer kamen nicht und das Tschechische erlebte eine neue Blütezeit.“

Kuttenberger Dekret
Die Ausländer kamen nicht mehr, zogen aber auch weg. Einen starken Impuls zum Verlassen des Landes gab 1409 das so genannte Kuttenberger Dekret, mit dem König Wenzel IV. die Verhältnisse an der Prager Universität zugunsten der Tschechen regelte. Der Linguist Marvan spricht vom Anfang einer „Re-Bohemisierung“ des isolierten Landes, die bis 1520 andauerte. Ihren positiven Effekt untermauert er zum Beispiel auch mit dem Verweis auf eine Äußerung von Papst Pius II.:

„Jedes Weib beherrsche die Schreibschrift besser als mancher italienische Bischof. Die Tschechen wurden in der Tat das erste Volk in Europa, das für die damaligen Verhältnisse in hohem Maße schreibkundig war. Es war das Verdienst der 1457 gegründeten reformierten Kirche ‚Jednota bratrská‘(Kirche der Böhmischen Brüder). Doch auch ein katholischer Publizist erwähnt die Verbreitung der Lese- beziehungsweise Schreibfähigkeit der tschechischen Bevölkerung – ‚sogar bei Handwerkern und Tagelöhnern, aber auch den Frauen‘. Das war auch für die Emanzipation der Frauen wichtig. Gerade in jener Zeit begann diese nämlich, ihre Wurzeln zu schlagen.“

Prag Anfang 17. Jahrhunderts  (Foto: Public Domain)
Vieles ändert sich nach 1520 – für Europa sowie das Königreich Böhmen. Vom Balkan her drangen die Türken nach Mitteleuropa und 1526 bestiegen die Habsburger den böhmischen Thron. Das Tschechische musste sich im öffentlichen Leben kontinuierlich gegen die deutsche Sprache behaupten. Marvan zufolge hat 1615 in Prag in gewissem Sinne das erste Gesetz zum Sprachschutz das Licht der Welt erblickt. Es handelte sich um einen kollektiven Beschluss des sogenannten Generallandtags im Königreich Böhmen und Mähren.

Protestanten
„Es war eine Ironie der Zeit. Die Landesgrenzen standen wieder für die Ausländer offen und viele Tschechen begrüßten ihre lutherischen Glaubensbrüder aus Deutschland mit offenen Armen. Zugleich auch mit großer Genugtuung, da sie damit richtig lagen, indem sie als erste den Reformationsprozess in Europa einleiteten. Doch es bedeutete zugleich eine massive Rückkehr der deutschen Sprache nach Böhmen. Und damit auch ihres Einflusses auf das Tschechische. Dieser war dermaßen stark, dass die deutschsprachigen Protestanten sogar den Anspruch auf eine eigene Identität hierzulande erhoben. Diese aber hatte mit dem böhmischen Staat nichts zu tun. Und darauf musste das oberste Verwaltungsorgan im Lande mit einem Beschluss reagieren.“

Alter tschechischer Text
Das vom Generallandtag verabschiedete 5-Punkte-Dokument betraf verschiedene Bereiche, deren Regelung auch an die Verwendung der tschechischen Sprache gebunden war. Zum Beispiel verordnete es den Einwanderern die Pflicht, ihre Kinder in tschechischer Sprache ausbilden zu lassen. Sie hatten dann auch bestimmte Vorteile im Erbrecht.

„Die Nachkommen, die Tschechisch erlernt haben, sollten über das Recht verfügen, mehr zu erben als diejenigen, die die Sprache nicht beherrschten. Sei es ein Mann oder eine Frau gewesen. Hierfür galt de facto das Prinzip der Gleichberechtigung. Weil junge Mädchen bekanntlich schneller ein gutes Verhältnis zur Landessprache aufbauen konnten, war es auch möglich, dass eine Frau den Vorzug vor ihrem männlichen Pendant hätte bekommen dürfen. Vielleicht zum ersten Mal in der europäischen Geschichte.“

Dreißigjähriger Krieg
Eine andere Maßnahme verlangte, dass die Angehörigen des Adelsstandes, die kein Tschechisch beherrschten, nicht den so genannten „Incolatus“ erwerben konnten, also das Bleiberecht im Land. Das „Sprachschutzgesetz“ ist in Wirklichkeit nie in Kraft getreten. Böhmen stand kurz vor dem Ständeaufstand, der später eine Initialzündung des 30-jährigen Kriegs in ganz Europa war. Danach wurde allerdings die Stellung der tschechischen Sprache durch die Regeln des Habsburger Vielvölkerstaates bestimmt. Als Amtssprache wurde flächendeckend das Deutsche eingeführt. Jiří Marvan sieht aber trotzdem auch etwas Positives:

„Was weiterhin überlebte, war zum Beispiel das Bewusstsein der Bedeutung der Ökumä, der Gleichberechtigung sowie der allgemeinen Lese- und Schreibfähigkeit. Nachdem die österreichische Kaiserin Maria Theresia die Schulpflicht eingeführt hatte, waren im Laufe von nur einer Generation 70 Prozent der Tschechen des Schreibens und Lesens kundig. Im Vergleich dazu nur 20 Prozent der Österreicher.“

Das Buch spannt einen Bogen über die 1000-jährige Geschichte des Tschechischen und beleuchtet zahlreiche Zeitabschnitte und repräsentative Persönlichkeiten bis in die so genannte Nationale Wiedergeburt, die Anfang des 19. Jahrhundert zu Ende ging. Gerade mit der Sichtweise ihres letzten Vertreters Jan Kollár, Dichter, Sprachwissenschaftler und Historiker slowakischer Abstammung, konnte sich fast 170 Jahre später der tschechische Sprachwissenschaftler Jiří Marvan identifizieren:

„Er wendet sich der Vergangenheit zu und zeigt zugleich, dass das Vergangene auch die Zukunft prägt. Und das steht genauso im Einklang mit der Botschaft meines Buches, dass es Dinge gibt, die vergänglich sind, sowie solche, die uns nie verlassen. Und das ist unsere Muttersprache.“