Die tschechische „chalupa“ – wie ein Mythos zur Tradition wurde

Foto: Martina Schneibergová

Viele Stadtbewohner Tschechiens fahren am Wochenende auf ihr Landhäuschen, das haben sie entweder gekauft oder auch geerbt. Dort geben sie sich einer Leidenschaft besonders hin: dem Basteln an ihrer „chalupa“. So lautet das tschechische Wort für diese Häuschen. Das „Wochenendhäuslertum“ soll sogar die tschechische „chalupa“ als Phänomen der Volksarchitektur gerettet haben, glauben viele Menschen hierzulande. Der Historiker Jiří Woitsch von der Akademie der Wissenschaften widerspricht dem jedoch.

Jiří Woitsch  (Foto: ČT24)
Die heutige „chalupa“, sie hat nichts mehr zu tun mit traditionellen Häuserbauweisen, wie es sie europaweit bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben hat. Das behauptet Jiří Woitsch, der dazu kürzlich auch in Prag einen öffentlichen Vortrag gehalten hat. Seine Feststellung, heutzutage gebe es in Tschechien kein Archetyp der landesweit typischen „chalupa“, mögen die meisten Zuhörer zum ersten Mal gehört haben. Allerdings hat laut Woitsch die Gegend des heutigen Tschechiens eine gewissermaßen spezifische Lage:

„Man muss sich bewusst werden, dass die Böhmischen Länder aus historischen, aber auch geografischen und nicht zuletzt klimatischen Gründen eine besondere Region darstellen. Keineswegs in dem Sinn, dass unser Land das Herz Europas wäre, wie es manchmal pathetisch geschrieben oder gesagt wird. Doch was die Bautraditionen auf dem Lande angeht, steht außer Zweifel, dass Böhmen, Mähren und Mährisch-Schlesien eine Art Übergangszone bilden. Auf unserem Territorium treffen wichtige Phänomene und Erscheinungen traditioneller Volksarchitektur Europas aufeinander.“

Volksarchitektur der Walachei  (Foto: Martina Schneibergová)
Und diese spezifische Lage hat dazu geführt, dass die ländliche Architektur je nach Regionen Tschechiens sehr unterschiedlich aussah:

„Bis nach Mähren, konkret in das Gebiet des Altvatergebirges und der Beskiden, reichen die westlichen Ausläufer der sogenannten Karpatenkultur samt ihrer Bauweise. Häuser, die sich zum Beispiel in der Region Valašsko (Walachei) befanden beziehungsweise befinden, haben typologisch, funktionell und in anderen Gesichtspunkten viel mit dieser Kultur gemeinsam. Dies bezieht sich auch auf Häuser auf dem Balkan im heutigen Bulgarien und Rumänien.“

Suche nach der ländlichen Idylle

Fachwerkhäuser in Tschechien  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag)
Weit verbreitet ist in Tschechien die Vorstellung von einem herkömmlichen ländlichen Haustyp. Jiří Woitsch bezeichnet dies aber als einen Mythos:

„In mehreren europäischen Ländern fingen um die Mitte des 19. Jahrhunderts Teile der Gesellschaft an, sich gegen die immer brutaler werdende Industrialisierung und Urbanisierung abzugrenzen. Dies war nichts spezifisch Böhmisches, auch nicht die Tatsache, dass man sich das Bild von einem traditionellen Häuschen schuf. Die Suche nach einem typischen Haus im sogenannten ‚Heimatstil‘ kennt man auch aus dem Alpenraum. Aus derselben Zeit stammt zum Beispiel die Idee, dass das Fachwerk generell etwas echt Deutsches sei. Dabei wurden auf zwei Dritteln deutschen Gebiets überhaupt keine Fachwerkhäuser gebaut. Mit der romantischen Sichtweise der Vergangenheit taucht in der Literatur und in der bildenden Kunst die Vorstellung einer bukolischen, jüngferlichen Landschaft auf. Sie wird der zunehmend ‚verdorbenen‘ und ‚stinkende‘ Stadt entgegengesetzt.“

Landesjubiläumsausstellung 1891
Wie zuvor schon andernorts in Europa verbreitete sich auch hierzulande das Faible für das Leben auf dem Lande. Und das zeigte sich zum Beispiel auch beim 100. Jubiläum der ersten europäischen Industrieausstellung:

„1891 findet in Prag die sogenannte Landesjubiläumsausstellung statt. In der letzten Etappe dessen, was ‚Nationale Wiedergeburt‘ genannt wird, war sie als eine Leistungsschau bedeutender Erfolge der tschechischen Emanzipation konzipiert. Einige der ersten halbprofessionellen und Laienethnografen, die sich für die ländliche Kultur interessierten, kamen auf die Idee, auf dem Prager Messegelände die Wurzeln des – wie es hieß – wahren Tschechentums zu thematisieren. Und ihrer Auffassung nach ließen sich diese Wurzeln vor allem sozusagen auf dem ‚unverdorbenen‘ Lande finden, wo möglichst auch kein Deutsch gesprochen wurde. Und dieses Leben repräsentieren sollte die tschechische chalupa.“

Ein Haus im Patchwork-Stil

Antonín Wiehl
Der anerkannte tschechische Architekt Antonín Wiehl entwarf einen entsprechenden Ausstellungspavillon. Binnen kurzer Zeit setzten die Organisatoren das Projekt um. Aufgrund von Unterlagen fundierter Kenner vorrangig der nordböhmischen Volksarchitektur wurde ein sogenanntes Umgebindehaus geschaffen. Es entstand im Patchwork-Stil:

„Wiehl und seine Mitarbeiter übernahmen für das Umgebindehaus, wie es in der Tagespresse zu lesen war, von einem Haus das Dach, von einem anderen den verzierten Giebel, von einem weiteren ein schönes Einfahrtstor und so weiter. Das alles wurde zusammengesetzt zu einem Pavillon, der zur größten Attraktion der Jubiläumsausstellung wurde. Innerhalb des einen Jahres, in der die Tore der Ausstellung geöffnet waren, besichtigten eine Million Menschen diese ‚tschechische chalupa‘. So entstand der Prototyp einer angeblich ästhetisch vollkommenen Volksarchitektur, die obendrein als wahrhaft tschechisch präsentiert wurde.“

Tschecho-Slawische Volkskundliche Ausstellung
Der Erfolg dieses künstlich geschaffenen Modells zeigte schon bald weitere Wirkung. Jiří Woitsch:

„Dies war der Startschuss für ein Phänomen, das die damalige Presse als volkskundliches Fieber bezeichnete. In den Böhmischen Ländern entstanden bis 1895 rund 60 regionale Museen und eine Reihe spezieller Zeitschriften. Damit waren die Fundamente gelegt für die tschechische Volkskunde. Engagierte patriotische Intellektuelle konzipierten 1895 eine sogenannte Tschecho-Slawische Volkskundliche Ausstellung. Sie sollte sich ausschließlich auf die traditionelle Volkskultur konzentrieren.“

Volkskundliches Fieber

Bauernhaus aus der Gegend entlang der Iser in der Tschecho-Slawischen Volkskundlichen Ausstellung  (Foto: Moritz Adler,  Public Domain)
Den Kern der Ausstellung bildeten ästhetisch schöne Bauernhäuser aus der Gegend von Turnov / Turnau in Nordböhmen und entlang der Iser. Ein Teil der Pavillons seien stilisierte Bauten gewesen, die aber von der Öffentlichkeit und der Presse als echt tschechisch und echt volkstümlich wahrgenommen wurden, so Woitsch. Um die Symbiose der Landbevölkerung mit der mythisierten „chalupa“ zu demonstrieren, lebte sogar eine Bauernfamilie aus Nordostmähren ein ganzes Jahr lang direkt auf dem Messegelände. Und in der Zeit wurde ihnen sogar ein Kind geboren:

„Die Ausstellung wurde zu einem gesellschaftlichen Event. Sie führte aber auch zu starken Animositäten, die sich in der tschechischen und deutschen Presse hierzulande widerspiegelten. Heutzutage mag es verwundern, dass man sich gegenseitig beschimpfte. In der deutschen Presse stand zum Beispiel, dass ein Haus der Ausstellung nicht tschechisch, sondern typisch deutsch sei. Dies sei überhaupt nicht wahr, konterte die tschechische Presse, der Vorwurf sei nur ein Ausdruck der germanischen Unterdrückung.“

Freilichtmuseum in Stockholm  (Foto: Nordelch,  CC BY-SA 2.5)
Nur vier Jahre trennten die beiden Landesausstellungen voneinander, doch die Gesellschaft hatte sich in der kurzen Zeit stark verändert. Als 1895 das Freilichtmuseum auf dem Prager Messegelände eröffnet wurde, befand sich die hiesige Volkskultur bereits im Stadium des Untergangs. Die fortschreitende Industrialisierung hatte eine massive Landflucht ausgelöst, die Städte wuchsen und städtische Lebensformen breiteten sich immer weiter aus. Zu einer weiteren Präsentation von Volkskultur und Volksarchitektur kam es nicht mehr. Kurz nachdem die Tore der Ausstellung schlossen, wurden die Häusermodelle als Brennholz verkauft. Wären die Exponate gerettet worden, so Historiker Jiří Woitsch, dann stünde heute in Prag das zweitälteste Freilichtmuseum Europas – nur sieben Jahre jünger als das im schwedischen Stockholm.