Die Wahl der Nichtwähler

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Der tschechische Wahlkampf bleibt bis zum letzten Moment spannend, die beiden stärksten politischen Parteien - die regierenden Sozialdemokraten und die konservativen Bürgerdemokraten - liefern sich gegenwärtig ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Den Ausschlag werden letztlich die Stimmen derjenigen geben, die sich erst im letzten Moment entscheiden, wen sie wählen. Und vor allem: Ob sie überhaupt zu den Urnen gehen. Silja Schultheis ist dem Phänomen der unentschlossenen Wähler nachgegangen.

Zwischen 52 und 55 Prozent der wahlberechtigten Tschechen sind nach den letzten Erhebungen führender Meinungsforschungsinstitute (Factum Invenio, STEM, SC&C) entschlossen, wählen zu gehen. Eine klare Entscheidung in die andere Richtung hatten im Mai 16 Prozent getroffen: Sie gaben an, sich auf keinen Fall an den Wahlen zu beteiligen. Die restlichen rund 30 Prozent waren noch unentschlossen.

Eine Kneipe im Prager Arbeiterviertel Zizkov. Es ist drei Uhr nachmittags, ein ganz normaler Arbeitstag. Draußen strahlt die Sonne, in der düsteren Wirtsstube sitzen die Gäste ganz offenkundig nicht beim ersten Bier. Auf die Frage, ob man in einer Woche wählen geht, hat jeder seine eigene Antwort.

"Ich gehe wählen. Dazu mahnt mich mein Pflichtgefühl. Die Kommunisten werde ich wählen", sagt ein Mann in den Fünfzigern bestimmt. Seine Frau, die neben ihm sitzt, pflichtet ihm eifrig bei.

"Klar geh ich wählen", sagt eine lebhafte ältere Frau mit rauher, nicht zu überhörender Stimme. "Warum? Weil ich das so will. Wenn ich nicht wählen gehe, machen die da oben, was sie wollen. Es gibt ohnehin schon genügend verschenkte Stimmen. Also finde ich es richtig, wählen zu gehen."

Ihr Tischnachbar sieht es anders: "Ich gehe nicht wählen, keine Lust. Egal wen wir wählen: dieser Saustall hier wird immer so bleiben. Es hat überhaupt keinen Sinn, wählen zu gehen."

"Ich weiß es nicht", sagt ein jüngerer Mann scherzend. "Ich habe die Wahlunterlagen verloren. Mal sehen, vielleicht gehe ich trotzdem wählen. Vielleicht, wenn ich nicht verschlafe. Ich werd mich bemühen."

Neben diesem letzten Mann zählen zu den unentschiedenen Wählern in Tschechien laut dem staatlichen Meinungsforschungsinstitut CVVM vorwiegend Arbeitslose, Hausfrauen und Landbewohner. Sie sind nach Meinung von Soziologen leichte Opfer für Wahlversprechen in letzter Minute. Eine weitere Gruppe von Unentschiedenen kommt aus der gebildeten städtischen Mittelschicht. Sie ist zwar entschlossen, zu den Urnen zu gehen, weiß aber noch nicht, welcher Partei sie ihre Stimme gibt.

Die Stimmen dieser gegenwärtig noch unentschlossenen Wähler könnten nach Einschätzung von Meinungsforschungsinstituten insbesondere der Partei der Grünen zugute kommen, die diesmal ernsthafte Chancen hat, erstmals ins Abgeordnetenhaus einzuziehen. Profitieren können die Grünen von den noch unentschlossenen Wählern aber logischerweise nur dann, wenn diese am Wahltag überhaupt zu den Urnen gehen. Denn darin liegt das Hauptdilemma der Grünenpartei: Ihre Sympathisanten wünschen sich zwar einen politischen Kurswechsel, sehen aber zugleich nicht unbedingt die Notwendigkeit, selbst wählen zu gehen. Eben hier gilt es in der letzten, heißen Wahlkampfphase Überzeugungsarbeit zu leisten, sagt der Wahlkampfmanager der Grünen, Petr Hrdina:

"Es handelt sich bei diesen Wählern in erster Linie um junge Wähler und Familien mit Kindern. Wir bemühen uns, ihnen zu sagen, dass dieser politische Kurswechsel nur dann eintreten kann, wenn sie zu den Urnen gehen und für diesen Wandel stimmen. Aber ein Teil der Wähler, die Veränderungen wollen, hat wahrscheinlich schon die Hoffnung aufgegeben, dass sich etwas verändern lässt."

Um diese Wähler zu mobilisieren, setzen die Grünen nicht auf die klassischen Wahlveranstaltungen und öffentlichen Kundgebungen der großen politischen Parteien:

"Wir bemühen uns stattdessen eher, direkt zu den Wählern zu gehen, von Haus zu Haus, und direkt mit den Leuten zu reden. Ohne dass im Hintergrund ein Konzert oder eine audiovisuelle Show auf dem Marktplatz stattfindet."

Warum ist der Anteil der Nichtwähler und unentschlossenen Wähler in Tschechien so hoch? Politikverdrossenheit? Rückzug ins Private nach jahrzehntelanger Politisierung des gesamten Lebens durch die Kommunisten? Die Bürgerinitiative Agora Central Europe organisiert - nach niederländischem Vorbild - seit mehreren Jahren öffentliche Debatten, Seminare und Konferenzen in Tschechien, um die Öffentlichkeit stärker an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Sie sieht eine wesentliche Ursache für die hohe Zahl von Nichtwählern im Verhalten der Politiker, erklärt Agora-Mitarbeiter Pavel Micka:

"In Tschechien sind wir immer noch nicht daran gewöhnt, dass die Menschen eine Meinung haben und über genügend Erfahrungen verfügen und viel zu sagen haben zu öffentlichen Problemen. Sie wollen nicht nur vor den Wahlen in politische Entscheidungsprozesse einbezogen werden, sondern die meisten von uns würden gerne kontinuierlich zur Lösung der Probleme beitragen, die uns alle plagen. Unsere Initiative bemüht sich, u.a. durch öffentliche Debatten mit Fachleuten und Politikern dazu beizutragen, dass die Bürger ein natürlicher Bestandteil der öffentlichen Diskussion werden."

Eine stärkere Einbeziehung der Bürger in das politische Geschehen ist nach Meinung von Micka daher der Schlüssel zum Erfolg im Bemühen um eine höhere Wahlbeteiligung:

"Meiner Meinung nach können die Politiker am erfolgreichsten Wähler motivieren, wenn sie während der gesamten Legislaturperiode auf lokaler Ebene Raum bieten würden für gemeinsame Diskussionen mit den Bürgern. Wenn sie beginnen würden, die Probleme der Bürger gemeinsam mit diesen zu lösen. Das ist die beste Kampagne, und damit darf man nicht erst wenige Monate vor den Wahlen beginnen, da muss man längerfristig dran arbeiten. Und vor allem muss sie von den Politikern Ernst gemeint sein."