Disziplin oder Laissez-faire: Kindererziehung in Deutschland und Tschechien
Spätestens seit die Lehrer der Berliner Rütlischule wegen Gewalt seitens der Schüler die Arbeit niederlegten, ist in Deutschland die Debatte um Kindererziehung entbrannt. Statt der antiautoritären Erziehung der 1968er Eltern wurden Rufe nach Zucht und Ordnung laut, Eva Hermann lobte die „Wertschätzung der Mutter“ im Nationalsozialismus und Bernhard Buebs Buch „Lob der Disziplin“ wurde zum Bestseller. Wie wird in Tschechien über Kindererziehung diskutiert? Was denken tschechische Eltern und Pädagogen über Disziplin?
„Konsequent, nicht zu streng und mit Liebe. Es darf nicht so sein wie beim Militär, aber Kinder brauchen bestimmte Grenzen. Sie sollten wissen, das sie manche Sachen nicht machen dürfen,“ antwortet eine ältere Dame. Ein junger Mann meint: „Ich denke, Disziplin ist wichtiger, als man denkt. Kinder brauchen Regeln und Ordnung.“
Eine weitere Passantin: „Disziplin spielt eine große Rolle, aber ich finde an erster Stelle sollte das Kind in der Erziehung Liebe spüren und Harmonie bei den Eltern und in der Familie.“„Disziplin ist wichtig, damit aus Kindern gute Bürger werden. Eltern sollten ihre Kinder aber auch so erziehen, dass sie sich frei entwickeln können,“ so eine junge Mutter.
Bei den Prager Passanten ist die die Meinung einhellig: Disziplin und feste Regeln für Kinder müssen sein. Aber: Zuneigung und Freiheit gehören irgendwie auch dazu.
Abends im Prager Goethe-Institut: Sabine Andresen, Bielefelder Professorin für Erziehungswissenschaft und Stanislav Štech, Leiter des Pädagogischen Instituts der Karlsuniversität diskutieren über Erziehung in Deutschland und Tschechien. Andresen kritisiert Bernhard Buebs Buch „Lob der Disziplin“:
„Wir halten es für ganz wichtig, dass man sich anschaut, womit Disziplin zusammenhängt. Bei Bernhard Bueb wird Disziplin in den Kontext von Autorität gestellt, die unhinterfragt anerkannt und in einer Hinwendung zur Macht und zu Machtverhältnissen vollzogen werden soll. Diesen Kontext halten wir für den Umgang miteinander und für den Umgang mit Kindern für nicht angemessen.“
Eine akademische Debatte wie es scheint, in der sich die Befürworter der verschiedenen Erziehungsmethoden – hartes Durchgreifen auf der einen, laissez-faire auf der anderen Seite – nach politischen Lagern spalten. Eine rein westdeutsche Debatte außerdem, denn antitautoritäre Erziehung und die 68er Bewegung waren ein Phänomen der Bundesrepublik. Gibt es eine ähnliche Diskussion in der tschechischen Öffentlichkeit? Stanislav Štech, Leiter des Pädagogischen Instituts an der Karlsuniversität:
„In Tschechien gibt es keine Debatte über Disziplin und über Wesen und Ziele von Erziehung. Warum es diese Debatte nicht gibt? Ich vermute, dass es mit den Änderungen nach der Samtenen Revolution 1989 zusammenhängt. Es entstand eine Situation, in der wir dachten, dass wir uns nach Mustern der demokratischen Länder richten müssen und dass alles, was wir vor 89 gemacht haben, schlecht war. Wir haben nur darüber diskutiert, welche Schulformen es geben soll, wie sich die Curricula ändern sollen, aber niemals haben wir gefragt: Warum? Deshalb haben wir noch nicht einmal heute eine grundlegende Wertedebatte über Erziehung und Bildung und über ihre Ziele.“
Eine Debatte hat in Tschechien zwar noch nicht stattfgefunden, etwas hat sich aber doch schon geändert im Umgang mit Kindern, erzählt die Kindergärtnerin Alena Schimmerlingová, die über 30 Jahre lang in verschiedenen Prager Kindergärten gearbeitet hat, zuletzt im jüdischen Kindergarten:
„Früher haben die Kinder mich ‚Paní učitelko Alenko‘, also ‚Frau Lehrerin Alenka‘ genannt. Als ich nach der Revolution in einem anderen Kindergarten angefangen habe, haben wir mit den Kollginnen begonnen, die Klasse familiärer zu leiten. Die Kinder haben mich nicht mehr ‚Frau Lehrerin’ genannt, sondern nur noch Alenka. Damit wollten wir zeigen, dass wir mit den Kindern wie in einer Familie umgehen.“
Auch laut Stanislav Štech wandelt sich in der tschechischen Gesellschaft die Haltung zu Disziplin und Kindererziehung – und diese Entwicklung wirft neue Fragen auf:„Wenn man Disziplin als Bereitschaft und Fähigkeit versteht, sich Regeln und Gesetzen unterzuordnen, denke ich, dass Disziplin eine sehr bedeutende Rolle im tschechischen Erziehungsstil spielt. Das hängt natürlich auch von der sozialen Zugehörigkeit der Familien ab: In den unteren Bildungsschichten beharren die Eltern häufig ohne eigenes Nachdenken und Diskussion über ihren Sinn auf Disziplin. Leute aus den oberen sozialen Schichten und Intellektuelle finden diese von außen aufgezwungene Disziplin unangemessen, unmodern und überflüssig. Aber auch wenn sie das machen, ist eine grundsätzliche Frage bisher offen geblieben: Was soll diese erzwungene Disziplinierung ersetzen?“
Auf diese Frage scheint es bisher keine Antwort zu geben, auch Sabine Andresen kommt da mit leeren Händen. Der Ruf nach Zucht und Ordnung drückt ihrer Meinung nach die Sehnsucht überforderter Eltern und Pädagogen nach einfachen Lösungen aus. Berichte über bewaffnete Schüler wie in den deutschen Medien gibt es in Tschechien zwar bisher selten. Doch auch hier machen den Pädagogen Respektlosigkeit und Gewalt zunehmend zu schaffen. Dazu Alena Schimmerlingová:
„In Schulen ist es vielleicht besser, wenn Lehrer strenger sind. Nicht, dass sie die Kinder anschreien sollen, aber etwas Strenge kann nicht schaden. Denn was man so hört, was die Schüler sich gegenüber den Lehrern erlauben, das ist auch nicht gut.“
Eine heile Welt scheinen also auch tschechische Schulen nicht zu sein. Bislang hält sich die Diskussion über gewalttätige Kinder in Grenzen. Ob vielleicht doch eine striktere Erziehung positve Wirkung zeigt? Die Erzieherin Marei Wormsbecher arbeitet in Prag mit deutschen und tschechischen Kindern. Unterschiede sind ihr sofort aufgefallen:„In Deutschland wird man dazu erzogen, seine Meinung zu sagen. Ich habe oft das Gefühl, dass Kinder hier eher akzeptieren sollen, was von oben kommt und sich damit zu arrangieren haben. Mir scheint, dass die tschechischen Kinder sehr viel ruhiger sind. Wenn die nach draußen gehen, dann gehen die ganz klar in Zweierreihen und keiner springt aus der Reihe. Ich bin eher dafür zu sagen: Wenn wir an der Straße gehen, gehen wir alle in der Reihe, aber wenn wir im Park sind, kann jeder laufen wie er will.“
Für Alena Schimmerlingová ist es nicht der pädagogische Ansatz, der am wichtigsten ist. In der Praxis komme es darauf an, wie der einzelne Erzieher – oder die einzelne Erzieherin – mit den Kindern umgeht:
„Erziehung hat sich vor und nach der Revolution von 1989 insofern gar nicht geändert, als sie immer von der Persönlichkeit der Lehrerin abhängt. Während meiner Karriere habe ich gute Lehrerinnen kennengelernt, aber auch sehr strenge, vor denen ich mich selbst fürchten würde. Es ist wichtig, mit den Kindern zu reden, ihnen alles zu erklären und sie nicht anzuschreien oder sie irgendwie zu bestrafen. Und Kinder verstehen ziemlich gut, was man ihnen erklärt.“