Dürrenmatt, Havel und die Tschechoslowakei – eine besondere Beziehung

Friedrich Dürrenmatt (Foto: Elke Wetzig, CC BY-SA 3.0)

Im November vor genau 26 Jahren hat der tschechoslowakische Präsident Václav Havel während seines Staatsbesuchs in der Schweiz den prestigeträchtigen „Gottlieb-Duttweiler-Preis“ entgegengenommen. Die Lobrede hielt der weltberühmte Schweizer Dramatiker und Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Es war der letzte öffentliche Auftritt im Leben des Literaten. Für die schweizerische Botschaft in der Tschechischen Republik und die Prager „Václav-Havel-Bibliothek“ war dies ein Anlass, an das Ereignis zu erinnern. „Salon Dürrenmatt“ – so der Titel der Veranstaltung, die kürzlich in Prag stattfand.

Friedrich Dürrenmatt  (Foto: Elke Wetzig,  CC BY-SA 3.0)
Die feierliche Preisverleihung an Václav Havel fand am 22. November 1990 in Rüschlikon bei Zürich statt. Friedrich Dürrenmatts fesselnde Rede im Sitz des Gottlieb-Duttweiler-Instituts (GDI) bewegte damals die Schweiz nachhaltig. Der Autor präsentierte sie unter der provokanten These: „Die Schweiz – ein Gefängnis“. Das Schweizer Fernsehen (SRF) zum Beispiel strahlte die Rede 18 Jahre später noch einmal aus. Auch das GDI, der älteste Think Tank der Schweiz, blickte zu seinem 50. Gründungstag vor drei Jahren auf das Ereignis zurück. Unter der Überschrift „Als Havel und Dürrenmatt Geschichte machten“ stand auf den Internetseiten des Instituts unter anderem:

„Als Schriftsteller, der jahrelang gegen das kommunistische Regime in seinem Heimatland gewirkt hatte, war Havel zu weltweiter Achtung geraten. So war es konsequent, dass zu seiner Preisverleihung in Rüschlikon einer der größten Schweizer Autoren die Preisrede hielt. In ‚Die Schweiz, ein Gefängnis‘ lobte Dürrenmatt den Mut und den Freiheitskampf des Menschenrechtlers Havel. Gleichzeitig verglich er die Schweiz – vor einem hochkarätig besetzten Publikum inklusive Bundesräten – mit einem Gefängnis, dessen Bewohner zugleich Wärter und Gefangene seien.“

Film „Im Labyrith“  (Foto: YouTube)
Waren damals Dürrenmatts Worte etwa auch als Warnung an die junge tschechoslowakische Demokratie gedacht? Darüber lässt sich heute nur noch spekulieren. Die Rede des Dramatikers war jedoch vergangene Woche bei weitem nicht das einzige Thema des Gedenkabends in Prag. Auf dem Programm des „Salon Dürrenmatt“ stand zum Beispiel auch ein Kinoporträt des Autors. Regisseurin Sabine Gisiger hat für ihren Film „Im Labyrith“ zahlreiches Archivmaterial zusammenmontiert. Dadurch werden die Zuschauer von Dürrenmatt selbst durch sein Leben geführt. Der Hauptinitiator der Prager Veranstaltung war der Schweizer Botschafter Markus-Alexander Antonietti. Die Frage, was ihn dazu bewegt hat, beantwortete er in einem Gespräch exklusiv für Radio Prag:


Václav Havel  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Herr Botschafter Antonietti, der Salon Dürrenmatt findet in Prag statt, weil das wahrscheinlich der beste Ort auf der Welt ist, wo man ihn durchführen kann. Und zwar deshalb, weil Friedrich Dürrenmatt 22 Tage vor seinem Tod die letzte öffentliche Rede am Gottlieb-Duttweiler-Institut für seinen Freund Václav Havel gehalten hat.“

War es nicht etwas Symbolisches für die Beziehung der beiden Schriftsteller?

„Ich glaube, das kann man so sehen. Wir wissen nicht, was uns im Leben erwartet. Wir wissen ja nur, dass wir in die Welt geworfen sind, dass wir allein kommen und allein gehen. Was uns zwischendrin erwartet, wissen wir nicht. Das wusste weder Václav Havel, noch Friedrich Dürrenmatt, aber beide haben sich Gedanken darüber gemacht. Ebenso über die Menschenrechte, über die Würde des Menschen sowie über Themen wie Gerechtigkeit, Korruption oder Sicherheit der Welt. Ob gewollt oder nicht, die Geschichte hat für die Symbolik gesorgt, dass es die letzte Rede war von Friedrich Dürrenmatt für seinen Freund, den damaligen tschechoslowakischen Präsidenten Václav Havel.“

„Wir haben die Türen geöffnet und es nie bereut.“

Friedrich Dürrenmatt ist für uns Tschechen nicht nur ein bekannter Dramatiker, sondern auch ein Kritiker des Einmarschs der Sowjets am 21. August 1968 in die Tschechoslowakei. Und er hat nicht nur kritisiert, sondern sich auch dafür eingesetzt, dass viele Tschechen in die Schweiz kommen konnten…

Markus-Alexander Antonietti  (Foto: Archiv der Schweizer Botschaft in Prag)
„Das hat er gemacht, in der Tat. Friedrich Dürrenmatt hat nach dem August 1968 seine bekannte Basler Rede gehalten. Was ich als Schweizer Botschafter in Erinnerung rufen möchte: Wir haben ja nach dem Überfall auf ihr Land durch die Truppen des Warschauer Paktes von 1968 bis gegen Ende 1969 zwischen 12.000 und 15.000 Tschechoslowaken bei uns aufgenommen. Es war ein bitterer Moment für sie, aber wir haben die Türen geöffnet und es nie bereut. Das hat eine Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern und zwischen den Menschen begründet, die bis heute besteht. Sie ließ ganz spezielle Wurzeln wachsen, welche bis heute Früchte tragen, worauf wir in der Schweiz stolz sind. Das werden sicher auch unsere tschechischen Freunde nicht vergessen.“


Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei  (Foto: ČT24)
Auf den Überfall auf die Tschechoslowakei von 1968 ging Dürrenmatt 22 Jahre später gleich im ersten Teil seiner Rede auf Václav Havel ein:

„Sehr geehrter Herr Staatspräsident, lieber Václav Havel. An der Protestveranstaltung, die 1968 im Basler Stadttheater gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei stattfand, nahm auch ich teil und schloss meine Ansprache mit den Worten: In der Tschechoslowakei verlor die menschliche Freiheit in ihrem Kampf um eine gerechtere Welt eine Schlacht, doch nicht den Krieg“.

Milan Tvrdík  (Foto: Martina Schneibergová)
Unter den Gästen des „Salon Dürrenmatt in Prag“ war ebenso der profunde Kenner des schweizerischen Autors, Milan Tvrdík, Germanistik-Professor an der Karlsuniversität Prag. Seit 2008 hat er auch einen Lehrauftrag für moderne österreichische und Schweizer Literatur an der Universität in Köln.

Herr Professor Tvrdík, ich möchte Sie um einen kleinen Vergleich von Havel und Dürrenmatt bitten. Beide waren Philosophen und Dramatiker. Hatten sie eventuell etwas gemeinsam?

„Gemeinsam hatten sie sicherlich Humor und Ironie. Es gibt zudem jeweils Stützpunkte in ihren Essays, also in der Überlegung über den Zustand der Welt. Oder anders gesagt: Die Aufforderung, immer wieder Stellungnahme zur Welt zu nehmen, das verband in den 1970ern und 1980er Jahren Dürrenmatt mit Havel. Und es war auch die Begeisterung Dürrenmatts für ihn. Havels Stücke waren absurd – ein Feld, das Dürrenmatt selbst als Autor nicht unbedingt betreten wollte. Das groteske Theater ist ihnen zwar gemeinsam, aber der Duktus ist bei Havel und Dürrenmatt meiner Meinung nach verschieden.“

Immerhin waren sie aber Freunde. Was hat ihrer Meinung nach die beiden in ihrem persönlichen Kontakt verbunden?

„Die Sorge um die Welt und um die Menschen war Havel und Dürrenmatt gemeinsam.“

„Ich weiß nicht, wie viele Male sie sich gesehen haben. In den 1960ern waren sie wahrscheinlich dadurch verbunden, dass Havel damals als Dramaturg und Dramatiker Dürrenmatt sehr hoch geschätzt und die Dürrenmatt-Welle hierzulande mitbestimmt hat. Die Art und Weise, wie Dürrenmatt seine Stücke systematisch aufbaut, hat Havel sicherlich angesprochen. Auch die Methode und die Themen, das heißt die Sorge um die Welt und um den Menschen, das war ihnen gemeinsam.“

Friedrich Dürrenmatt während seinem Vortrag „Die Schweiz – ein Gefängnis“  (Foto: Archiv 3sat)
Sie haben in Ihrem Vortrag gesagt, Dürrenmatt habe den Kommunismus in gewissem Maße „in Gnade“ genommen. Das kann man von Havel bestimmt nicht sagen. Dürfte man es vielleicht als einen ihrer Unterschiede bezeichnen?

„Ich möchte aber sagen, dass der Unterschied vor allem darin lag, dass Dürrenmatt den Kommunismus nie gelebt hat, wogegen Havel im Kommunismus lebte. Dürrenmatt hat über die Möglichkeiten des Kommunismus nachgedacht. Für ihn stellte er die Veränderbarkeit der Welt dar, das hat ihn immer wieder angesprochen und interessiert. Natürlich hat er aber auch hinter die Kulissen geschaut und gesehen, wie es dort aussieht. Seine Begeisterung für die Veränderbarkeit der Welt, mit der er den Kommunismus verband, ist dann bei ihm abgeflaut. Aber bei Havel auch. Der Kommunismus als intellektuelles Thema war zuvor eine Herausforderung für Dürrenmatt gewesen. Vielleicht sei der Kommunismus zu früh gekommen, sagte Dürrenmatt, aber was man aus ihm gemacht habe, sei falsch. Das werde die Menschheit zurückwerfen. Und das ist wohl in der heutigen Zeit der Nationalismen gerade passiert. Es waren in der Tat die Worte einer großen Prophezeiung, sie ist leider in Erfüllung gegangen.“

Wie hat sich der Einmarsch der sogenannten Bruderländer in die Tschechoslowakei im Jahr 1968 bei Dürrenmatt bewirkt?

„Er hat sofort seine Schriftstellerkollegen in der Schweiz zusammengetrommelt.“

„Dass er sofort seine Kollegen in der Schweiz, die damals namhaften Schriftsteller zusammengetrommelt hat. Sie haben ein Treffen in Basel veranstaltet, auf dem Dürrenmatt seine berühmte Rede ‚Die Tschechoslowakei 1968‘ hielt. Es war eine unmittelbare Reaktion auf die Gefahr, dass der ‚Sozialismus mit dem menschlichen Antlitz‘ zu Ende geht und dass die falsche und verführerische Ideologie Oberhand gewinnen wird. Und das hat sich auch gezeigt. Dürrenmatt hat sich also gegen die Okkupation ausgesprochen und gegen sie gearbeitet. Er hat sich für den Zustrom von Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei ausgesprochen und die Gesellschaft aufgefordert, sie aufzunehmen. 1968 war er wirklich einer der Initiatoren der Hilfe für die Tschechen und Slowaken.“


Für Dürrenmatt war die Laudatio an Havel der letzte öffentliche Auftritt. Seine „Gefängnisrede“, die er im Gottlieb-Duttweiler-Institut hielt, wird aber bis heute von vielen als ein Höhepunkt der politischen Literatur in der Schweiz und als staatskritisches Vermächtnis ihres großen Autors geschätzt. Friedrich Dürrenmatt starb am 14. Dezember 1990.