Ein Pole über sein „Gottland“ – Mariusz Szczygiełs Tschechien-Reportagen
Günter Grass, Thomas Mann – Namen von Literaturnobelpreisträgern, die jeder kennt. Und Jaroslav Seifert? Schon mal gehört, den Namen? Nein? – Radio Prag will das ändern. Bei BUCH.cz stellen wir Ihnen bekannte und weniger bekannte Literatur vor. Und zwar Literatur aus und über Tschechien, die auch in deutscher Sprache erschienen ist. Egal ob Neuerscheinung oder Klassiker - bei BUCH.cz bekommen Sie an jedem ersten Donnerstag im Monat Tipps für lange Leseabende.
Patrick, du hast zum Start von Buch.cz ein Buch über Tschechien mitgebracht, richtig?!
"Genau. Es ist das Buch „Gottland“, ein absoluter Bestseller in Tschechien. Geschrieben hat es aber – vielleicht überraschend – ein Pole: Mariusz Szczygieł."Das Buch heißt „Gottland“, genauso wie das mittlerweile geschlossene Karel-Gott-Museum in Jevany. Hat das Buch von Szczygieł etwas mit dem Museum zu tun?
"Indirekt. Das Museum war Namensgeber für das Buch. Ganz direkt hat das Buch „Gottland“ aber mit Karel Gott zu tun, unter anderem jedenfalls. Szczygieł erzählt in „Gottland“ die Geschichte Tschechiens im 20. Jahrhundert mit allen Höhen und den vielen Tiefen. Er tut dies auf eine eher ungewöhnliche Art, nämlich anhand von Biographien ausgewählter Tschechinnen und Tschechen. Und eine dieser Biographien ist eben die des Schlagerstars Karel Gott. Der Titel „Gottland“ ist für Szczygieł Programm. Ich zitiere ihn: „Eine Welt ohne Gott ist nicht möglich, deshalb spielt der Sänger im atheistischsten aller Länder die entsprechende Rolle.“"
Das klingt sehr provokant, gerade aus der Feder eines Journalisten aus dem katholischen Polen.
"Ja, damit spielt Szczygieł sicherlich ein bisschen, aber es geht ihm grundsätzlich nicht ums Provozieren. Szczygieł schreibt über Tschechien mit viel Humor. Man merkt „Gottland“ an, dass er Tschechien mag. Die rosarote Brille trägt er dabei aber nicht. Er trifft den richtigen Ton, auch wenn es um kontroverse Themen geht. Szczygieł stellt dar, aber er wertet nicht. Das Urteil überlässt er dem Leser."
Welche Personen stellt Szczygieł seinen Lesern vor, außer Karel Gott?
"Es sind Personen, deren Lebensläufe die Drehungen und Wendungen der tschechischen Geschichte im 20. Jahrhundert illustrieren. Los geht es mit einem Familienporträt der Industriellenfamilie Baťa, die aus einem kleinen Schusterbetrieb seit der Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie bis heute ein Schuhimperium von Weltformat geschaffen haben. Es geht um die Schauspielerin Lída Baarová, die in 1930er Jahren eine Affäre mit dem Nazipropagandaminister Goebbels hatte. Es geht um Otakar Švec, der Anfang der 50er Jahre auf dem Prager Letná-Hügel das weltgrößte Stalin-Denkmal erschuf und daran zugrunde ging. Švec brachte sich noch vor der Enthüllung des Denkmals um. Es geht um die Sängerin Marta Kubišová, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 zwei Jahrzehnte lang nicht mehr singen durfte. Diese und viele weitere bekannte und auch weniger bekannte Personen und Geschichten sind das Material, mit dem Szczygieł die Geschichte Tschechiens im 20. Jahrhundert nacherzählt."Mariusz Szczygieł ist Pole. Ist das nicht sonderbar, dass er über Tschechien schreibt?
"Ja, das ist schon sonderbar. Tschechien ist für Polen sicher kein exotisches Land, und trotzdem – so sagt es zumindest Szczygieł selbst – wissen die Polen eigentlich nichts über ihre Nachbarn. Aber es ist vielleicht gerade diese Mischung aus Nähe und Distanz, die „Gottland“ so glaubwürdig macht. Der enorme Erfolg von Szczygiełs Tschechien-Reportagen – sowohl in Polen als auch in Tschechien – hat aber noch einen anderen Grund: Sie sind großartig – sorgfältig recherchiert und unterhaltsam geschrieben. Manchmal glaubt man, es handelt sich um einen Roman. Aber alles sind wahre Geschichten."
Du würdest „Gottland“ also zur Lektüre empfehlen?
"Ein uneingeschränktes „Ja“. Die deutsche Ausgabe von „Gottland“ ist im Suhrkamp-Verlag erschienen und kostet 19,80 Euro. Das ist hervorragend investiertes Geld."