Eine gute Geschichte: Märchen als Anreiz zum Sprachenlernen
Urlaubszeit, Reisezeit - Märchenzeit. Nein, hier werden keine Geschichten erfunden, denn die gibt es tatsächlich schon, und zwar am Flughafen: Im Rahmen des EU-Projekts "Fairy Tales before Take Off", zu Deutsch "Märchen vor dem Abflug", treten diesen Sommer neun Märchenerzähler auf den Flughäfen mehrerer europäischer Städte auf, um gemeinsam und doch jeder in seiner Muttersprache Geschichten zu erzählen. Dadurch sollen die kleinen, aber auch die großen Fluggäste zum Sprachenlernen animiert werden. Sandra Dudek hat am Prager Flughafen zugehört:
Dass die Geschichte von der Geburt der Welt gleich in vier Sprachen parallel erzählt wird, passt sehr gut an einen Ort wie diesen. Denn auf einem Flughafen treffen sich Menschen aus der ganzen Welt und man bekommt die unterschiedlichsten Sprachen zu hören. Weniger selbstverständlich aber ist, wenn das Sprachgewirr so gar nicht willkürlich, sondern im Gegenteil augenscheinlich inszeniert ist. Und wenn man bekannte Phrasen in seiner eigenen Muttersprache aufschnappt oder gar das Gesagte aufgrund der begleitenden Mimik und Gestik versteht, ohne die Sprache zu beherrschen, dann wird man hellhörig. Märchen muss man nämlich nicht unbedingt im Wortlaut verstehen, um sie zu verstehen. Genau das beweisen die neun Märchenerzähler aus neun verschiedenen europäischen Ländern: Auf ihrer Tour quer durch Europa haben sie Mitte Juli auch am Prager Flughafen Ruzyne Halt gemacht und kleine wie große Fluggäste in eine vielsprachige Märchenwelt entführt haben. Engagiert wurden sie von den in Brüssel ansässigen Kulturinstituten, vor Ort erläuterte Julia Helber, Projektverantwortliche am Goethe-Institut in Brüssel, die Hintergründe des Projekts:
"Wir möchten darauf aufmerksam machen, dass in Europa viele Sprachen gesprochen werden und dies auf eine ganz spielerische Art, die Neugierde erwecken soll. Die Leute sollen ein Aha-Erlebnis bekommen und sagen: "Ich kann zwar nicht Ungarisch, ich habe noch nie einen Ungarn gehört, aber ich kann trotzdem verstehen, was er sagt." Dass man auf diesem Weg auch neugierig wird, nicht unbedingt Ungarisch lernen zu wollen, aber sich doch mehr für Sprachen zu öffnen.""Fairy Tales before Take Off", zu Deutsch "Märchen vor dem Abflug", heißt das von der Europäischen Union unterstützte Projekt und es soll die Mehrsprachigkeit innerhalb Europas fördern. Aus einer vor kurzem veröffentlichten Umfrage der Europäischen Kommission geht hervor, dass mehr als 40 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger nicht in der Lage sind, sich in einer anderen als der eigenen Muttersprache zu unterhalten. Mehr als die Hälfte kann sich in einer Fremdsprache verständigen, ein Drittel der Befragten gab an, zwei Fremdsprachen zu beherrschen. Die Sprachkenntnisse sind von Land zu Land freilich sehr unterschiedlich: Während beispielsweise in Luxemburg so gut wie jeder Bürger mindestens eine Fremdsprache beherrscht, kann sich die Mehrheit der Bevölkerung in Irland, Großbritannien, Italien, Ungarn, Portugal und Spanien nur in ihrer eigenen Muttersprache verständigen - und ist damit noch weit vom EU-Ziel entfernt. Demnach sollte nämlich jeder EU-Bürger neben seiner Muttersprache noch zwei weitere Sprachen beherrschen. Häufig fehlt zum Spracherwerb die Zeit, aber auch die Motivation. Das Märchenprojekt zeigt, dass man Sprachen nicht nur spielerisch lernen, sondern auch ebenso spielerisch mit ihnen umgehen kann. Nicht zu vernachlässigen ist auch der kulturelle Aspekt: Märchen sind Teil der europäischen Kultur, sie haben oft nicht nur die gleichen Inhalte, sondern ähneln sich auch in Erzählmuster und Struktur. Und das, so Barbara Bresslau, Bildungsbeauftragte am Goethe-Institut in Prag und Mitorganisa, käme schlussendlich dem Märchenprojekt zugute:
"Dadurch haben wir einen sehr großen Erkennungsfaktor und es ist auch für alle Altersgruppen gedacht. Märchen sprechen sowohl Kinder als auch Erwachsene an, weil man als Erwachsener Märchen entweder selber gehört oder gelesen hat oder sie jetzt seinen Kindern erzählt. Das bringt Europa irgendwie zusammen. Und gleichzeitig kann es ein interessanter Effekt sein, ein Märchen in einer anderen Sprache zu hören."Seit zwei Jahren gibt es den Märchenmarathon schon, neu ist, dass er auf Flughäfen stattfindet und dass die Erzähler reisen. Man habe sich die Flughäfen überlegt, so Julia Helber, weil gerade hier die Notwendigkeit, Sprachen lernen zu müssen, deutlich werde. Außerdem sei das Flugzeug ein Symbol dafür, sich in ein anderes Land zu begeben. Und das sei wiederum wie das Tor zu einer anderen Sprache und Kultur. Auch das Märchen selbst kann als Tor zu einer anderen Kultur dienen, so wie es bei den Nesvadbas, einer bekannten tschechischen Schauspielerfamilie, der Fall ist. Michal Nesvadba, einer der neun durch Europa reisenden Märchenerzähler, erinnert sich an seine Kindheit und seine Lieblingsmärchen "Hänsel und Gretel" und "Rotkäppchen". Nie sei ihm, als sein Vater ihm diese Märchen erzählt hatte, langweilig geworden und auch heute noch würden sie zu seinen Lieblingsmärchen zählen, denn, so Nesvadba:
"Meistens aber hat man diese zwei Märchen erzählt, weil man sie auch ein bisschen abändern kann. Sie können in verschiedene Länder verlegt werden. So kann man ein Märchen über Rotkäppchen erzählen, das aus Afrika stammt oder bei den Eskimos am Nordpol zu Hause ist. Das konnte man ändern und das war unterhaltsam."
Neben Michal Nesvadba treten im Juli und August Märchenerzähler aus Finnland, Frankreich, Irland, Ungarn, Dänemark und den Niederlanden auf und sind damit im wahrsten Sinne des Wortes die Sprachrohre für ihre jeweiligen Kulturinstitutionen und damit für ihre Heimatländer. Die deutsche Sprache wird sowohl durch das deutsche Goethe-Institut als auch das Österreichische Kulturforum repräsentiert, die Deutsche Suse Weiße und die Österreicherin Katharina Ritter teilen sich die Aufgabe als Märchenerzählerinnen auf der Flughafen-Tour. Im Gegensatz zu vielen anderen Sprachen gibt es im Deutschen eine Vielfalt an Varietäten, die auch im Lieblingsmärchen von Julia Helber, Projektverantwortliche am Goethe-Institut in Brüssel, sehr gut zum Ausdruck kommen:
"Ich mag zum Beispiel die Bremer Stadtmusikanten. Das ist auch das Märchen, das die deutsche Sprache repräsentiert. Was mir daran gefällt, ist, dass die Tiere auch ganz unterschiedliche Töne von sich geben und im übertragenen Sinne unterschiedliche Sprachen sprechen und dass sie aber gemeinsam etwas schaffen. Das ist auch so ein bisschen die Botschaft in diesem Märchen: Gemeinsam sind wir stark."
Auch die Märchenerzähler selbst sind gemeinsam stark und am 14., 16. und 17. August noch einmal gemeinsam zu hören, wenn sie auf den Flughäfen von Frankfurt, Dublin und Kopenhagen auftreten werden. Die Märchen haben sie selbst ausgewählt und miteinander inszeniert, erzählt wird allein oder in kleinen Gruppen auf spielerische Weise. Dabei wird auch auf die Zuhörerschaft eingegangen, indem beispielsweise so manches Schlüsselwort übersetzt wird. Im Schnitt dauern die Märchen drei bis fünf Minuten, vor allem für Kinder gerade richtig, bevor sie wieder von den interessanten Geschehnissen auf dem Flughafen abgelenkt werden. So möchte man zumindest meinen. Doch weit gefehlt: Die Kinder haben den Märchenerzählern so gebannt gelauscht, als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre, auf einem Flughafen Geschichten in einer fremden Sprache erzählt zu bekommen. Darin sieht Andrea Schrammel, Vizechefin des Österreichischen Kulturforums Prag, allerdings kein Hindernis:"Meistens ist es so, dass viele Kinder in Europa die gleichen Märchen kennen und dass es in jeder Kultur ähnliche Märchen gibt mit dem gleichen Schluss. Es ist egal, in welcher Sprache da gesprochen wird. Man hat gesehen, wie aufmerksam die Kinder waren und ihre Reaktionen zeigten, wie gut sie alles verstanden haben."
Vielleicht liegt es auch daran, dass Märchen, so wie Michal Nesvadba meint, durch ihr gutes Ende wie Streicheleinheiten seien, über die sich alle freuen würden. Da mag das gebannte Zuhören nicht verwundern, wenn die Streicheleinheiten auch noch so lautmalerisch wie hier von der deutschen Märchenerzählerin Suse Weiße präsentiert werden:
Folgende Hinweise bringen Ihnen noch mehr Informationen über den Integrationsprozess Tschechiens in die Europäische Union:
www.integrace.cz - Integrace - Zeitschrift für europäische Studien und den Osterweiterungsprozess der Europäischen Union
www.euroskop.cz
www.evropska-unie.cz/eng/
www.euractiv.com - EU News, Policy Positions and EU Actors online
www.auswaertiges-amt.de - Auswärtiges Amt