Eine Homage an die großen Autoren: Der Traum von einem Literaturhaus für deutschsprachige Schriftsteller aus Prag und Böhmen soll endlich wahr werden
Es waren goldene Jahre in der goldenen Stadt Prag: Anfang des 20. Jahrhunderts feierte die Literatur in Böhmen beständig Hochkonjunktur. Tschechische, deutsche und jüdische Autoren lebten und wirkten zusammen, ergänzten sich und stritten miteinander. Vieles, was sie dabei schufen, zählt heutzutage zur Weltliteratur und gehört in jeden guten Bücherschrank. Lange Jahre gab es Überlegungen, dem einzigartigen Erbe des kulturellen Austausches in Prag ein Andenken zu bereiten. Nun ist es endlich soweit: In Prag soll ein "Literaturhaus für deutschsprachige Autoren aus Prag und Böhmen" entstehen. Mehr dazu in unserem Kultursalon von Menno van Riesen.
Lenka Reinerova weiß genau, was ihrer Heimatstadt gut ansteht und was nicht. Beinahe neunzig Jahre zählt die deutschschreibende Autorin inzwischen. Egon Erwin Kisch, Max Brod, Franz Werfel, Karl Kraus - all diese Berühmtheiten aus der Prager Literaturszene vor dem zweiten Weltkrieg hat sie mit- und überlebt. Als Franz Kafka, der namhafteste Vertreter der literarischen Hochkultur Anfang des 20. Jahrhunderts 1924 starb, war Lenka Reinerova gerade einmal acht Jahre alt. An die ersten Anfänge einer konkreten Idee - ein Literaturhaus zum Andenken an deutschsprachige Schriftsteller aus Prag und Böhmen zu schaffen - erinnert sie sich noch genau:
"Zum ersten Mal haben sich im Jahre 1968, also in einer Zeit des Aufschwungs hier, ein paar Leute zusammengesetzt und diese Idee aufgebracht. Und dann kam natürlich die eiskalte Zeit der so genannten Normalisierung, als man darüber nur still nachdenken konnte."
Bis zum Prager Frühling hatten die Reformkommunisten noch versucht, dem Kommunismus ein "menschliches Antlitz" zu verleihen. Dann folgten über dreißig lange Jahre, in denen gerade die Schriften Kafkas, die die existenziellen Probleme des Individuums betonen, den kommunistischen Machthabern als aufwieglerisch, ja "konterrevolutionär" galten. Die Idee eines Literaturhauses blieb bloße Utopie. Später konnte Lenka Reinerova sich wieder konkreter mit ihrem Wunsch befassen:
"Nach dem letzten Umsturz, im November 1989, ist mir dieser Gedanke wieder neu gekommen. Und weil von den Menschen, die das damals beabsichtigt hatten, leider niemand mehr da ist, fühle ich die Verpflichtung, diesen Gedanken weiter zu spinnen. Nun ist aus diesem Gedanken eine Tatsache zu machen."
Unterstützung für das Projekt findet Lenka Reinerova vor allem bei ihrem guten Freund Frantisek Cerny, dem ehemaligen Botschafter Tschechiens in Berlin. Die beiden Ruheständler haben sich das Literaturhaus gewissermaßen zu einer Lebensaufgabe gemacht. Cerny betont:
"Wir wollen einerseits daran erinnern, dass es hier in Prag und in Böhmen über einhundert namhafte Autoren gab, die außerhalb des deutschen Sprachraumes geschaffen haben - das sind nicht nur Kafka, Rilke, Kisch und Werfel - andererseits wollen wir aber auch zeigen, wie das alles funktioniert hat oder auch nicht funktioniert hat. Es waren einmalige Jahrzehnte einer gewissen multikulturellen Gesellschaft. In dieser Hinsicht ist Prag jedenfalls eine große Ausnahme."
Lenka Reinerova hat den regen Austausch zwischen deutschen, tschechischen und jüdischen Bürgern noch in lebhafter Erinnerung. Schließlich genoss sie selbst als Schülerin eines renommierten Prager Gymnasiums unmittelbare Einblicke in jenes multikulturelle Miteinander: "Ich ging im bekannten Stefansgymnasium zur Schule. Max Brod war dort bereits vor mir gewesen. Die Hälfte der Schüler bestand aus deutschnationalen Familien, und die andere Hälfte setzte sich aus deutschsprachigen jüdischen Kindern zusammen. Ähnlich war das bei den Professoren."
Der einsetzende Nationalsozialismus in Deutschland läutete den allmählichen Zerfall der einmaligen Hochkultur ein - jedoch mit Verzögerung. Zunächst wühlten deutsche Emigranten - Theaterleute, bildende Künstler und Schriftsteller - die hiesige Künstlerszene kräftig auf. Gerade Prag wurde zum Zufluchtsort für viele, wie Frantisek Cerny betont:
"Prag war damals eine Art Drehscheibe, denn die Leute, die aus Deutschland asylsuchend gekommen sind, wussten, dass das nicht für immer so sein wird. Und 1939, nach der Okkupation, mussten alle wieder weiterziehen. Aus Deutschland nach Prag, und von Prag in die Schweiz oder nach Amerika, oder aber wie Lenka über Frankreich nach Mexiko." Lenka Reinerova ergänzt: "In diesen 30er Jahren hat Prag kulturell profitiert von dieser Emigration. Wir hatten plötzlich wunderbare Schauspieler am Deutschen Theater. Wir hatten Zeitschriften, die Neue Weltbühne ist hier erschienen, und es gab den `Prager Mittag`, ein Blatt, das nur von Emigranten gemacht wurde."
Dass in ein künftiges Haus der Literatur deutschsprachiger Schriftsteller aus Prag und Böhmen auch die Literatur der Emigranten gehöre, darüber sind sich Lenka Reinerova und Frantisek Cerny einig. Hingegen sind die Ansichten der beiden in Sachen Sudentendeutsche Literatur noch kontrovers: Frantisek Cerny verficht im Gegensatz zu Lenka Reinerova ihre Berücksichtigung. Und überhaupt: Der Grande Dame der deutschsprachigen Literatur Tschechiens ist eine Konzentration auf die Literatur an sich wichtiger als die zeitgeschichtlichen Umstände: "Sie spricht ja. Die Literatur hat ihre eigene Sprache und Stimme. Es geht darum, vor allem den Autoren zu gedenken, auch den vielen, die bereits in Vergessenheit geraten sind. Das ist die Verpflichtung, die ich fühle. Und wenn später Lesungen und Diskussionen im Rahmen einer solchen Institution veranstaltet werden, müssen sich die Leute daraus ihre eigenen Schlüssen ziehen." Frantisek Cerny geht weiter: "Das ist in Ordnung, Aber man müsste auch zeigen, was dazu geführt hat, dass es zum Schluss keine multikulturelle Gesellschaft in Prag mehr geben konnte."
Auch wenn sich Lenka Reinerova und Frantisek Cerny noch im Detail uneins sind; längst wissen sie etablierte Befürworter ihres Projektes an der Seite: Sei es das Prager Goethe-Institut, das Österreichische Kulturforum, die Kafka-Gesellschaft oder die Jüdische Gemeinde: sie alle ringen derzeit mit den Initiatoren um ein gemeinsames Profil des Literaturhauses. Ein rechtlich abgesicherter Stiftungsfonds für das Projekt existiert bereits. Allein - potenzielle Geldgeber scheuen sich noch ihn zu füllen, zumal auch noch keine Ausstellungsräume gefunden werden konnten. Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Ohne Haus kein Geld, aber ohne Geld auch kein Haus. Cerny bestätigt: "Wir bekommen sogar immer mehr Tipps, aber jedes mal hapert es dann daran, dass dann gesagt wird, na ja, wie viel können Sie bezahlen, für Miete z. B., für die Rekonstruktion des Gebäudes, und dann sind auf einmal Millionen in der Luft."
Um nicht zuletzt möglichst viele Finanzquellen erschließen zu können, spricht sich Stefan Nobbe, der Leiter des Goethe-Instituts in Prag, für einen breiteren zeitgeschichtlichen Umfang der Ausstellung aus: "Wir denken immer sofort an die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. Dieses wäre eine Einengung, nach meinem historischen Wissen und nach meiner Überzeugung sollte dieses nicht geschehen, wenngleich es natürlich das reichste Forschungsgebiet ist. Von der Qualität her werden diese Autoren, die also zwischen 1900 und 1945 geschrieben haben, natürlich die wesentlichen Teile der Sammlung darstellen."Unterstützt wird Stefan Nobbes breiterer Ansatz von der Kafka-Gesellschaft, die es sich im Wesentlichen verschrieben hat, die Bedeutung der ehemaligen kulturellen Pluralität in das Bewusstsein der heutigen tschechischen Gesellschaft zu hieven. Gerade an der Vermittlung der damaligen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umstände ist dem Leiter der Kafka-Gesellschaft, Kurt Krolop, viel gelegen: "Es existiert ein Ausspruch von Goethe: ´Ich habe immer gefunden, dass es gut sei, etwas zu wissen´. Also gilt es, den Begriff von der `Dreivölkerstadt Prag`, der häufig nur im Munde herumgeführt wird, durch das Voneinanderwissen zu ergänzen - Wissen über die Geschichte der deutschen, tschechischen und jüdischen Kulturtraditionen."
Schließlich ließen sich Menschen, die etwas voneinander wissen, nicht gegeneinander aufhetzen. Und somit möchte Kurt Krolop den Wissenshorizont der künftigen Literaturhaus-Besucher noch weiter lichten: Auch über das Wirken von anderen Künstlern und Intellektuellen aus dem Umkreis der deutschen, tschechischen und jüdischen Kulturschaffenden, wie etwa Gustav Mahler und Sigmund Freud, solle die Einrichtung informieren.
Noch weiter geht der Geschäftsführer der Föderation der jüdischen Gemeinden in Tschechien, Tomas Kraus: "Wir möchten das Projekt gerne sehen als eine Gedenkstätte, ein Museum, aber auch als einen Raum für etwas Neues. Man soll sich auch modernen Themen widmen, wie etwa Rassismus, das geht hin bis zur Verfolgung von Künstlern auf der ganzen Welt. Ich kann mir ganz gut vorstellen, dass das Haus sich auch mit einem Emigranten aus China oder Kuba befassen wird. Es soll auch politisch sein, nicht nur literarisch oder künstlerisch."Gewinnen will Tomas Kraus vor allem junge Menschen. Dem Geschäftsführer der jüdischen Gemeinden in Tschechien liegt viel daran, das jüdische Element, wie er es nennt, welches die deutsche und tschechische Kultur einst zusammengebracht hat, wieder herauf zu beschwören um damit zeitgenössischen Konflikten begegnen zu können.
Zu einer besseren Verständigung beider Völker will auch der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds beitragen. Er wäre zudem eine mögliche Geldquelle für ein Literaturhaus für deutschsprachige Autoren aus Prag und Böhmen. Aber noch schränkt der Geschäftsführer des Zukunftsfonds, Tomas Kafka, ein: "Wir sind im Moment so weit, dass wir das Projekt mit einer gewissen Sympathie begleiten, aber als Institution müssen wir darauf achten, dass wir erst in Anbetracht der harten Fakten entscheiden dürfen." Im Klartext: Damit der deutsch-tschechische Zukunftsfonds maximal fünfzig Prozent an den Projektkosten auf Antrag bezuschussen kann, müssen alle Projektbeteiligten eine einheitliche und begehbare Vorstellung von dem Literaturhaus liefern. Tomas Kafka macht deutlich: "Ein Konsens ist für uns nicht genug, wir erwarten von jedem Antragsteller, dass er uns auch die ganze Konzeption inklusive des Haushaltes präsentieren sollte. Wir werden dieses Konzept dann prüfen und unseren Verwaltungsrat entscheiden lassen."
Lenka Reinerova und Frantisek Cerny hoffen - auch wenn noch viel zu tun bleibt - auf einen positiven Entscheid noch in diesem Jahr, und auf eine offizielle Eröffnung im nächsten Jahr, 2006. Damit viele Menschen mit ihnen den Traum von einem Literaturhaus für deutschsprachige Autoren aus Prag und Böhmen nicht noch länger träumen müssen. Lenka Reinerova erinnert sich, wie sie einst - bezüglich des Projektes - überraschende Post erhielt: "Eines Tages bekam ich von einer mir bis dahin völlig unbekannten Frau einen Brief, in dem sie schrieb, sie besäße u. a. eine Bibliothek mit über 700 Bänden mit Werken deutschsprachiger Autoren aus unserem Land, und dazu etwa 170 Bände mit Werken tschechischer Autoren, ins Deutsche übersetzt. Die Frau schrieb, sie hätte von unserem Projekt gehört, und sie würde es als eine Ehre ansehen, wenn ihre Bibliothek den Grundstock des neuen Literaturhauses bilden könnte."