Endstation Sehnsucht: Neumeiers Ballett in tschechischer Premiere in Prag
Am Donnerstag wurde das Ballett „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier in tschechischer Premiere im Prager Ständetheater aufgeführt. Martina Schneibergová hat sich eine der Proben angeschaut und mit den Künstlern gesprochen.
John Neumeier gilt in der Ballettwelt als Legende. Der Choreograf ist seit 1973 Direktor und Chefchoreograf des Hamburg Ballett. Für seine Werke wurde der Künstler mit zahlreichen Preisen geehrt. 1983 schuf Neumeier für das Ensemble in Stuttgart das Ballett „Endstation Sehnsucht“. Dabei ließ er sich vom gleichnamigen Theaterstück von Tennessee Williams inspirieren. Musikalisch ist der erste Teil mit Sergej Prokofjews „Visions fugitives“ (Flüchtige Erscheinungen) unterlegt. Im zweiten Teil erklingt Alfred Schnittkes Erste Sinfonie. Am Donnerstag wurde das Werk in tschechischer Premiere im Prager Ständetheater aufgeführt. Filip Barankiewicz ist heutzutage Direktor des Ballettensembles des Prager Nationaltheaters. Das folgende Gespräch mit dem langjährigen Solisten des Stuttgarter Balletts entstand kurz vor der Premiere im Ständetheater:
Herr Barankiewicz, wie ist es Ihnen gelungen, das Ballett „Endstation Sehnsucht“ als erstes Werk von John Neumeier in Prag zu inszenieren?
„Als ich mich um den Direktorposten im Nationaltheater 2015 bewarb, habe ich gesagt, dass ich Neumeiers ,Endstation Sehnsucht‘ aufführen möchte. Ich habe Jan Burian (Direktor des Prager Nationaltheaters, Anm. d. Red.) nach Stuttgart eingeladen und ihm gezeigt, was ich in Prag inszenieren möchte. Es war ein langer Weg, denn wir haben sechs Jahre lang mit Neumeier verhandelt. Er kannte unser Ensemble nicht und musste sich einige Vorstellungen anschauen. Dabei sagte er, dass er das Stück dem Ensemble nicht gebe werde, wenn er keine Blanche (die Hauptheldin, Anm. d. Red.) finde. Erst jetzt wird das Ballett aufgeführt.“
Aber jetzt gibt es sogar einige Tänzerinnen für die Titelrolle…
„Für unser Ensemble ist es wichtig, das Gefühl zu haben, mit einer Generation von Choreografen zusammenzuarbeiten, die in der Ballettwelt Geschichte geschrieben haben.“
„Derzeit haben wir drei, eigentlich haben wir vier, aber drei sind auf die Vorstellungen vorbereitet worden.“
Nach diesem langen Weg hat es nun doch geklappt. Sie kannten John Neumeier vermutlich schon aus Stuttgart…
„Natürlich. Ich habe mit ihm genauso wie mit Marcia Haydée und Jiří Kylián zusammengearbeitet – ob es die ,Kameliendame‘ war oder andere Stücke. Auch für unser Ensemble ist es wichtig, das Gefühl zu haben, mit einer Generation von Choreografen zusammenzuarbeiten, die in der Ballettwelt Geschichte geschrieben haben. Eigentlich traf ich mit John auch auf der Bühne zusammen. Ich habe Romeo getanzt, und er hat damals Pater Lorenzo gespielt.“
Wir sind gerade bei einer Probe: Ist es schon die Generalprobe?
„Nein, es ist keine Generalprobe. John fand es wichtig, mit dem Ensemble fünf Tage vor der Premiere noch einmal zu arbeiten. Er wollte auch alle drei Besetzungen sehen, die wir vorbereitet haben. John konnte nicht früher kommen, da er eine seiner Choreografien in Hamburg aufführte. Trotzdem ist er da, und wir haben unseren Plan ein bisschen umgeändert. Am Anfang der Spielzeit – im August – hat er die Besetzung zusammengestellt und einen Workshop mit verschiedenen Tänzern gemacht, um zu sehen, ob sie ihre Rollen spielen können. Es ist nicht das übliche Tanzen. Er hat zuerst mit der ganzen Besetzung über das Thema des Stücks gesprochen. Dann haben die Ballettmeister aus Hamburg, Ivan und Laura, das Ballett einstudiert.“
In wie weit ist die schauspielerische Leistung wichtig?
„Es ist nicht nur das Schauspiel selbst. Aber die Emotionen hinüberzubringen, das ist das A und O bei diesem Stück.“
Irina Burduja ist erste Solistin des Balletts des Prager Nationaltheaters. In Neumeiers Stück tanzt sie Stella, die Schwester von Blanche. Die Tänzerin, die auch in klassischen Balletten auftritt, sagte, dies sei für sie eine neue Erfahrung:
„Eine Rolle wie die der Stella habe ich noch nie zuvor getanzt. Für mich sind es neue Erlebnisse und neue Gefühle. Im Bereich des klassischen Balletts sind wir ganz gut trainiert. In diesem Stück gibt es vielleicht einige Bewegungen, die wir zuvor nicht gekannt haben. Aber bei den Proben haben wir sie gelernt. John Neumeier ist wirklich ein genialer Mensch. Wir sind sehr froh, dass er nach Prag gekommen ist. Es ist das erste Mal, dass wir ein Stück von ihm aufführen. Ich halte es für eine große Sache, mit ihm zusammenzuarbeiten.“
Die Künstlerin glaubt, dass „Endstation Sehnsucht“ vielleicht keine Vorstellung für jeden Zuschauer sei…
„Es ist ein schweres Ballett, was das Psychische betrifft, es ist tragisch und enthält Szenen, die Gewalt zeigen. Das mag vielleicht jemanden schockieren. Aber der Schluss ist sehr stark.“
Das Ensemble hat die Vorstellung mit einer Kampagne der NGO Konsent verbunden. Diese kämpft gegen falsche Vorstellungen und Lügen über sexuelle Gewalt. Auf den Plakaten für das Ballett steht „Respekt je jen jeden“ (Es gibt nur einen einzigen Respekt). Johana Nejedlová ist Direktorin von Konsent:
„Wir sind in einer Situation, in der jede zehnte Frau während ihres Lebens vergewaltigt wird. Aber auch jeder 33. Mann erleidet dies. Da haben wir noch Arbeit vor uns.“
Eine der Rollen in der Neuinszenierung tanzt Basil Schwerzmann. Er stammt aus Zürich und ist seit einigen Jahren Mitglied des Prager Ballettensembles. Während einer der Proben entstand das folgende Gespräch mit dem Künstler:
Herr Schwerzmann, ist dies Ihre erste Erfahrung mit einer Choreografie von John Neumeier?
„Ja, es ist das erste Stück von ihm, in dem ich tanze. Es ist extrem intensiv, weil jede kleine Bewegung, jedes Detail bei ihm etwas bedeutet. Dieser Weg, durch die Choreografie den Charakter näher kennenzulernen, selbst etwas einbringen zu dürfen und etwas auf der Bühne zu kreieren, das ist wunderbar. Das ist ein sehr schönes Erlebnis.“
Worin besteht nach Ihrer Meinung die erzählerische Kunst des Choreografen?
„Wie Neumeier dieser Geschichte von ,Endstation Sehnsucht‘ einen Mehrwert verleiht, finde ich faszinierend. Es ist echt toll, wie er die Musik zusammengestellt hat.“
„Es ist sehr interessant. Ich habe das Theaterstück gelesen. Das Ballett bringt dieses nicht nochmals auf die Bühne, sondern ist als Tanzstück kreiert und ist vielmehr eine Charakterstudie von Blanche. Wie Neumeier dieser Geschichte von ,Endstation Sehnsucht‘ einen Mehrwert verleiht, finde ich faszinierend. Es ist echt toll, wie er die Musik zusammengestellt hat: mit der wunderbaren Choreografie im ersten Teil und der recht verstörenden Musik im zweiten Akt. Wir befinden uns eigentlich im Kopf von Blanche, und diese verstörende Musik lässt uns fühlen, wie Blanche sich fühlen musste, als sie von dieser schönen Residenz auf dem Lande in die Stadt kam und allen diesen Tumult erleben musste.“
Welche Rolle tanzen Sie?
„Ich werde als der Freund oder Liebhaber von Allan auf der Bühne zu sehen sein. Ich bin ein bisschen ein Bösewicht, da ich zwischen Allen und Blanche stehe. Sie heiraten. Und ich bin der Grund, warum Blanche zum dritten Rad am Wagen geworden ist. Diese Dreiecksbeziehung treibt schließlich Allan in den Tod und Blanche in die Verrücktheit.“
Seit wann sind Sie Mitglied des Ensembles des Nationaltheaters?
„Es ist schon die vierte Saison. Dazwischen gab es die Corona-Pandemie. In Prag hatten wir aber das Glück, immer zu arbeiten, waren jedoch nicht immer auf der Bühne. Darum fühlte sich diese Phase vielleicht ein wenig kürzer an, aber auf der anderen Seite auch länger, weil wir so viel Zeit zusammen im Studio verbracht haben. Aber die schwierige Zeit hat uns als Theater zusammengeschweißt.“
Warum sind Sie gerade nach Prag gekommen?
„Ich bin verliebt in die Stadt. Ich will tanzen, und das Theater hier hat ein wunderbares Repertoire und wunderbares Team. Hier gibt es viele Aufführungen, in denen man sich zeigen und die Freude am Tanz mit dem Publikum teilen kann.“
Sie stammen aus einer Musikerfamilie. Spielen Sie auch ein oder mehrere Musikinstrumente?
„Meine Eltern sind Musiker. Mein Vater ist ein wunderbarer Klarinettist und auch noch Komponist. Es ist ein absolutes Privileg, mit so viel Musik aufwachsen zu dürfen. Das ist auch ein Grund, weshalb ich später in den Tanz gegangen bin, weil dieser für mich visuelle Musik ist. Ich glaube, als ich drei Jahre alt war, habe ich gesagt, dass ich Violine spielen will. Weshalb gerade Violine, weiß ich nicht. Ein Jahr später habe ich angefangen. Bis ich die Akademie in Zürich mit 19 Jahren abgeschlossen habe, hatte ich jede Woche Unterricht. Musik hat mich mein ganzes Leben begleitet.“
Da sind Sie bestimmt auch mit tschechischer Musik in Kontakt gekommen…
„Ja, es ist tatsächlich so. Das sage ich nicht nur, weil wir in Tschechien sind, sondern weil eines meiner liebsten Stücke die Symphonie ,Aus der Neuen Welt‘ von Dvořák ist. Ich höre es immer wieder.“
Wie kam es dazu, dass Sie in Prag mittlerweile schon auch eine Choreografie gemacht haben?
„Das war eine Zusammenarbeit mit meinem Vater. Es war Teil eines Projekts, in dem eine neue Oper teils auf die Bühne gebracht wurde. Sie heißt ,Chronos‘. Da konnte ich zunächst in Prag meine erste Erfahrung mit der Choreografie machen. Und später in Zürich durfte ich die Choreografie für die Teilaufführung der Oper vorbereiten. Das ist ein tolles Erlebnis, wenn man künstlerisch mit seinem Vater zusammenarbeiten darf.“
Adam Zvonař ist erster Solist des Balletts des Prager Nationaltheaters. In „Endstation Sehnsucht“ tanzt er Mitch, der sich in die Hauptheldin Blanche verliebt. Zvonař war von 2013 bis 2017 Mitglied des Bayerischen Staatsballetts in München. John Neumeier habe er schon dort kennengelernt, sagt der Tänzer:
„Ich habe schöne Erinnerungen an meine Arbeit in der Bayerischen Staatsoper. Dort hatte ich die Gelegenheit, mit John Neumeier zusammenzuarbeiten. Das Ballett, das ich sozusagen in meinem Herzen trage, ist die ,Kameliendame‘. Mich freut sehr, dass ,Endstation Sehnsucht‘ in Prag aufgeführt wird. Mich erinnert das Stück mit dem Stil, mit der Vision des Choreografen ein bisschen an die ,Kameliendame‘.“
Laut Zvonař muss die Tanztechnik bei John Neumeier sehr präzise sein, um Raum für die Betonung der schauspielerischen Leistung zu schaffen. Der Tänzer:
„Das Tanztechnische bewahrt uns einigermaßen davor, dass wir es mit dem Schauspielen nicht übertreiben. Die Darstellung muss für den Zuschauer verständlich sein. Und auch wir Tänzer müssen glaubwürdig in unseren Rollen sein.“
Adam Zvonař schätzt die Zusammenarbeit mit Neumeier und seinen Mitarbeitern vom Ballett Hamburg sehr…
„John Neumeier arbeitet dort seit 50 Jahren. Er hat in Hamburg ein Team von Menschen zusammen, die uns die Spezifika seiner Choreografie näher bringen können. Ich habe mir vor kurzem den Film ,Endstation Sehnsucht‘ angesehen. Ich kann jedoch sagen, dass im Ballett noch etwas mehr als im Film oder im Theaterstück gezeigt wird, was sich um Blanche und ihre Gefühle dreht. Hiermit lade ich alle ins Theater ein.“
Die nächsten Reprisen von John Neumeiers Ballett „Endstation Sehnsucht“ im Ständetheater finden am Sonntag um 14 und um 19 Uhr und am Montag um 19 Uhr statt. Es gibt noch Restkarten. Das Ballettstück wird auch im Januar und im Februar aufgeführt.