Erfolge und Misserfolge des tschechoslowakischen Gesundheitswesens in der Ersten Republik (1918-1938)
Die gegenwärtige Politik in Tschechien wird von der angespannten Situation im Gesundheitswesen enorm belastet. Ein Gesundheitsminister nach dem anderen wird abgelöst, vorgeschlagene Reformen werden nicht umgesetzt, Ärzte und Apotheker drohen wiederholt mit Streik, die Krankenhäuser stehen vor einer unsicheren Zukunft. Ein typisches Krankheitsbild im hiesigen Gesundheitswesen? Um einen Vergleich ziehen zu können, wird Dana Martinova im heutigen "Kapitel aus der tschechischen Geschichte" das Gesundheitswesen aus der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik beleuchten. Dazu hat sie sich mit PhDr. Hana Máová vom Institut für medizinische Geschichte der Karls-Universität Prag unterhalten.
Im Jahr 1918 war mit der Tschechoslowakei ein neuer Staat entstanden. Bei der Verwirklichung seines Ziels, eine demokratische Gesellschaft auszubauen, musste er sich von Anfang an mit einer ganzen Reihe von Problemen auseinander setzen. Eines dieser Probleme war auch das Gesundheitsressort. Die Ausgangsposition der Tschechoslowakei (CSR) war insofern kompliziert, dass sie als einer der Nachfolgestaaten der ehemaligen Österreichisch-Ungarischen Monarchie zunächst versuchen musste, die erheblichen Unterschiede in der ökonomischen, legislativen und sozial-kulturellen Entwicklung der fünf historischen Gebiete, die 1918 zu einem einzigen Staat vereinigt wurden, auszugleichen. Konkret handelte es sich um die ökonomisch fortschrittlichen Länder Böhmen, Mähren und Schlesien, die zuvor zu Österreich gehörten, sowie die wesentlich rückständigeren Länder Slowakei und Karpaten-Ukraine, die bis 1918 dem ungarischen Teil der Monarchie angegliedert waren. Hinzu kamen die schrecklichen Folgen des ersten Weltkrieges. Hana Máová schildert die damalige Situation:
"Die Tschechoslowakische Republik hat 1918 ein Krankenpflegesystem mit einem soliden europäischen Niveau übernommen. Allerdings musste sie sich gleich nach ihrer Entstehung mit den unseligen Kriegsfolgen auseinander setzen, die ein ziemlich katastrophales Ausmaß hatten: Die vielen gefallenen Soldaten ließen insgesamt 250 000 Waisen zurück, von der Kriegsfront kehrten rund 640 000 Soldaten als Invaliden heim, unter den unterernährten Bewohnern hatten sich in einem ungewöhnlichen Umfang Typhus, Masern, Röteln und Scharlach sowie in zwei Wellen auch die spanische Grippe ausgebreitet. Das gleiche galt für die Geschlechtskrankheiten, während in der Slowakei und der Karpaten-Ukraine vor allem das Fleckfieber und die Körnerkrankheit sehr verbreitet waren. In den damaligen Statistiken ist zudem ein weiterer Anstieg des ohnehin schon hohen Vorkommens von Tuberkulose und Säuglingssterblichkeit verzeichnet."
Aus der Zeit seiner Zugehörigkeit zur Habsburger Monarchie hatte der neue tschechoslowakische Staat aber auch positive Dinge übernommen.
"Die Republik hatte vom vorherigen Regime eine qualitativ ziemlich gute, wenn auch veraltete Gesundheitsgesetzgebung bezüglich der öffentlichen Krankenpflege, der Krankenversicherung und der rechtlichen Stellung des medizinischen Personals übernommen. In der Slowakei und der Karpaten-Ukraine aber galt noch ein anderes, nämlich das ungarische Recht. Aber auch in Mähren und Schlesien hatte es in gewisser Weise eine unterschiedliche Entwicklung des Verwaltungswesens gegeben. Deshalb bestand eine der ersten Aufgaben darin, die Legislative in allen Teilen des neuen Staates zu vereinheitlichen, die bisherigen Gesetze zu vereinfachen und den neuen Bedingungen anzupassen. Nicht alles davon ist jedoch gelungen. Das geplante Grundgesetz für das Gesundheitswesen wurde in den 20 Jahren, in denen die Erste Republik existierte, nicht auf den Weg gebracht. Die erreichten Reformen wurden oft nur halbherzig und langsam durchgeführt oder zu spät eingeleitet."
Die Gesetze aus den Jahren 1920 und 1922 sollten zum Beispiel den Einfluss der Staatsadministrative auf das Gesundheitswesen gewährleisten. Und zwar so, dass Ärzte, die bis dahin Angestellte der Gemeinden waren, zu staatlichen Angestellten wurden. Das allerdings mit großen Pflichten, aber mit geringen Kompetenzen und vor allem mit einem kärglichen Gehalt. Kein Wunder also, dass nicht wenige von ihnen viel lieber in Privatpraxen arbeiteten.
"Ähnlich halbherzig war das Gesetz vom April 1920 über eine einstweilige Regelung der Verhältnisse in den Heilanstalten. Das Netz der Krankenhäuser und Hausärzte in den Gebieten der Tschechoslowakei war insbesondere seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ziemlich eng geknüpft, aber es war ungleichmäßig aufgeteilt und das Niveau der Anstalten war ebenso uneinheitlich. In Mähren und in Schlesien, aber besonders in der Slowakei und der Karpaten-Ukraine herrschte ein absolutes Defizit an Krankenhäusern. Die Bemühungen um ein geordnetes Netz an Krankenhäusern und um die Entstehung einer Gesundheits- und Sozialpflege mit den Krankenhäusern als Hauptstütze wurden erst nach 1929 intensiviert, und zwar im Zusammenhang mit dem Gesetz über die Neuaufteilung der Verwaltungsgebiete in der Republik."
Die Verwirklichung dieses sehr wichtigen Schritts aber verhinderten die politischen Ereignisse in den Jahren 1938/39.
Eines der dominierenden Gesundheitsprobleme in der Zwischenkriegszeit war die Tuberkulose. In den ersten Jahren der jungen Republik registrierte man fast eine halbe Million Menschen, die an TBC erkrankt waren. Der Kampf gegen die Tuberkulose aber gehörte zu den Erfolgen des tschechoslowakischen Gesundheitswesens. Mit der Hilfe der Schutzimpfung, der Entfaltung einer umfassenden Beratung, der vor allem in Sanatorien durchgeführten stationären Behandlung, durch die Verbesserung der sozialen und hygienischen Bedingungen und durch eine konsequente Volksaufklärung sank die Tuberkulose-Sterblichkeit bis 1937 um nahezu 50 Prozent im Vergleich zum Jahr 1920. Darüber hinaus hatte der Aufschwung der diagnostischen Verfahren und der Heilmethoden inzwischen ein beachtliches Niveau erreicht. Dazu Hana Masova:
"Das Gesundheitswesen in der Tschechoslowakei konnte sich von Anfang an auf eine hervorragende medizinische Forschung stützen, die an den beiden Prager Fakultäten - der tschechischen und der deutschen - betrieben wurde. Zudem waren gleich nach dem Jahr 1918 die medizinischen Fakultäten in Brno / Brünn und in Bratislava gegründet worden. Des Weiteren war die junge Republik viel weltoffener geworden: Neben ihrer bislang vorwiegenden Orientierung auf das deutschsprachige Gebiet knüpfte sie jetzt neue, intensive wissenschaftliche Beziehungen mit den USA, Frankreich und anderen Ländern an. Die mitteleuropäische Tradition wurde nun mehr und mehr mit den amerikanischen und anderen modernen sozialmedizinischen Richtungen konfrontiert. Dadurch wurde es den Bürgern möglich gemacht, sich aktiver um ihre persönliche Gesundheit zu kümmern als im System der restriktiven Gesundheitspolitik in den Zeiten der Aufklärung sowie der Herrschaft von Maria Theresia und Josef II."
Das hohe Niveau der tschechoslowakischen Medizin, das sich in einer großen Zunahme von Spezialisten, neuen Fachgebieten, Fachgesellschaften, Zeitschriften und anderem mehr ausdrückte, spiegelte sich jedoch leider nicht im Gesundheitszustand der Bevölkerung wider. Erst im Jahr 1934 kam es in der CSR zu einem Durchbruch beim Kampf mit den Infektionskrankheiten, was im Vergleich mit den westlichen Ländern ziemlich spät war; in der Slowakei gelang dieser Durchbruch sogar erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Hauptgrund der relativ hohen Sterblichkeit in der Zwischenkriegszeit lag in den so genannten Zivilisationskrankheiten begründet.
"Eine Neuerung, die sich im Gegensatz zum Misserfolg bei der Durchsetzung einer Konzeption und eines neuen Grundgesetzes im Gesundheitswesen realisieren ließ, war die Entstehung des Ministeriums für Öffentliches Gesundheitswesen und Körpererziehung, das am 11. November 1918 gegründet wurde. Sein Einfluss in der politischen Szene allerdings war schwach. Vorschläge zu Reformen im Gesundheitswesen wurden regelmäßig ad acta gelegt, und das trotz der zahlreichen Bemühungen vieler Fachmänner aus dem Ministerium, von Universitäten, Krankenhäusern und Hausärzten. Zu deren Umsetzung fehlte es entweder an Geld oder am politischen Willen. Im Ministerium wurden die Minister häufig nach dem Parteienproporz gewechselt und nicht aufgrund ihrer Qualifikation für diesen Posten."
Der relativ häufige Wechsel auf dem Ministerstuhl sowie die damit verknüpften ständigen Änderungen in der Konzeption einer nationalen Gesundheitspolitik sind geradezu typisch für die Arbeit des Gesundheitsministeriums nach der Wende im Jahr 1989. Aber auch hier bietet sich eine Parallele zu den Verhältnissen in der Zwischenkriegszeit an, als sich innerhalb von 20 Jahren nicht weniger als 14 Minister die Klinke in die Hand gaben...
Schon seit 1887 gehörte die Kranken- und Unfallversicherung in der habsburgischen Monarchie zur europäischen Spitze. Knüpfte aber auch die Tschechoslowakei an das gute Niveau an? Hana Máová sagt es Ihnen:
"Die Krankenversicherung war in der Ersten Republik ein erfolgreicher Bestandteil der geglückten Reformen, auch wenn sie in das Ressort des politisch einflussreichen Ministeriums für Sozialfürsorge fiel. Im Jahr 1919 wurde die bereits für Arbeiter geltende Versicherungspflicht (für den Krankheits-, Invaliditäts- und Rentenfall) auch für deren Familienmitglieder und für alle Lohnarbeiter einschließlich der Forst- und Landwirtschaft eingeführt. Im Jahr 1924 erhielten Beschäftigte im Krankheitsfall ein ganzes Jahr über (52 Wochen) 60 Prozent ihres Lohns. Im Jahr 1925 wurde die Versicherungspflicht auch auf öffentliche Angestellte privilegierter Arbeitgeber ausgedehnt, zum Beispiel auf Gendarmen und Lehrer. Allerdings zu vorteilhafteren Bedingungen, denn sie bekamen im Krankheitsfall ein ganzes Jahr lang 100 Prozent ihres Gehalts ausgezahlt. Während der Weltwirtschaftskrise wurden zwar einige weniger attraktive Regelungen getroffen, doch das Versicherungssystem gehörte immer noch zur europäischen Spitze. Mitte der 30er Jahre wurde die imposante Zahl von sieben Millionen Versicherten registriert, was der Hälfte der Einwohnerzahl in der CSR entsprach. Das Versicherungssystem war im Vergleich zu anderen europäischen Ländern also sehr progressiv."Und wie profitierten damals die Versicherungsanstalten von diesem guten Niveau? Hana Masova ergänzt:
"Die Versicherungsanstalten sind im Verlauf ihrer Existenz ziemlich reich geworden und obwohl ihnen schon damals vorgeworfen wurde, dass sie zu viel Geld in den Bau ihrer prunkvollen Gebäude stecken, ist nicht zu übersehen, dass sie auch Ambulanzen, Sanatorien und Beratungsstellen für ihre Versicherten errichtet haben. Seit ihrer Entstehung standen sie wiederholt im Streit mit den Ärzten. Für die Ärzte bedeuteten sie einerseits eine feste Einnahmenquelle, andererseits aber haben sie mit den Versicherungen ständig um die Höhe ihrer Honorare, um die Anzahl der Patienten, die freie Arztwahl oder die Verschreibung von Medikamenten gestritten. Die Ärzte haben sich sowohl durch Boykotts als auch durch Streiks zur Wehr gesetzt. Nach und nach aber hat sich ihre Feindschaft gelegt. Die Versicherungsanstalten wurden reicher und konnten so den Ärzten mehr zahlen. Daher kam es bald zum Waffenstillstand."
Wie man daraus ersehen kann, nicht einmal im Gesundheitswesen gilt noch stets das Prinzip: Historia magistra vitae.