Erfolgs-Tandem des Theaters: Topol, Krejča und das „Divadlo za branou“
Josef Topol und Otomar Krejča wurden schon zu Lebzeiten zu einem Begriff – der eine als Dramatiker, Dichter und Übersetzer, der andere vor allem als Theaterregisseur. Das Theater „Divadlo za branou“, in dem sie eng zusammenarbeiteten, bedeutete seinerzeit die sprichwörtlichen Bretter der Welt. Neun Jahre nach dem Tod von Regisseur Krejča ist am 15. Juni dieses Jahres auch der Dramatiker Topol im Alter von 80 Jahren verstorben. Im Folgenden mehr über das erfolgreiche Theater-Tandem.
1965 schilderte Topol im Tschechoslowakischen Rundfunk die keineswegs einfache Beziehung zu „seinem“ Regisseur:
„Vom ersten Treffen mit Krejča kann ich mich nur an seinen bohrenden Blick erinnern, in dem sich allerdings seine innere Augenkraft widerspiegelte. Auf eine ähnliche Weise hörte er mir auch zu, bis ich ein unangenehmes Gefühl bekam. Dementsprechend schlichen wir eine ganze Zeitlang umeinander herum. Ich hielt ihn für einen verschlossenen Menschen, er mich für einen Unantastbaren. Erst seit Kurzem bin ich fähig, mit ihm über die gewöhnlichsten Dinge zu sprechen.“1962 schrieb der damals 27-jährige Topol unter dem Titel „Konec masopustu“ („Das Fastnachtsende“) sein drittes Stück für das Nationaltheater. Die tschechoslowakische Premiere fand allerdings nicht in Prag, sondern im mährischen Olomouc / Olmütz statt. Der Grund ließ sich erst während des Prager Frühlings im deutschen Wochenmagazin „Der Spiegel“ lesen. In einer Rezension zur Aufführung des Stücks am Wiener Akademietheater hieß es:
„Der Prager Regie-Champion Otomar Krejča, 47, deutet das Schauspiel zeitgerecht: Es prangere an, was der Tschechoslowakei in den schweren Jahren geschehen ist‘.“Gemeint waren die 1950er Jahre. Die Handlung von Topols unvergesslichem Drama spielt an der Wende zu den 1960er Jahren. Zu dem Zeitpunkt waren die Großgrundbesitzer bereits enteignet, zumeist ausgesiedelt und zum Teil auch als sogenannte Kulaken in Arbeitslager geschickt. Handlungsort ist ein nicht genanntes Dorf, in dem sich nur noch ein einziger Kleinbauer mit dem Namen Král, auf Deutsch König, gegen die Mitgliedschaft in der landwirtschaftlichen Genossenschaft wehrt. Alle anderen haben längst nachgegeben. Aus der Kreisstadt kommt der frischgebackene KP-Sekretär, um Král zum Eintritt in die Genossenschaft zu bewegen. Dies geschieht ausgerechnet vor Fastnacht, wenn die in Narrenmasken verkleideten Dorfbewohner symbolisch die Führung im Dorf übernehmen. Um dem Parteigenossen den alten Volksbrauch verdaulicher zu machen, soll er auf Initiative des Barbiers Smrťák, auf Deutsch etwa „Knochenmann“, einen „zeitgemäßen“ Inhalt bekommen. Aus dem lärmenden Narrenumzug deklamiert einer der Dorfbewohner: „Wir tragen den privaten Eigentumssektor zu Grabe.“ Doch Králs geistig behinderter Sohn wird zum Opfer einer Tragödie, in der aber auch eine alte Geschichte aus der Kriegszeit auflebt.
„Ein schönes, starkes, vielschichtiges Volksstück…Manche erkennen dies erst mittendrin und manche gar nicht“, so zitierte der Autor des „Spiegel“ in der erwähnten Rezension von 1968 die österreichische Zeitung „Kurier“.Er fügte zudem seine eigene Meinung hinzu:
„In der Tat verlangt Topols Schauspiel bedächtige Betrachter. Slawisch schwer, mit Poesie befrachtet, zieht die Handlung ihre Bahn, und auch die Anpranger-Töne sind für West-Ohren nicht sehr laut.“
Immerhin, Josef Topol, dem „Spiegel“ zufolge „ein reservierter, stiller Mann und neben Václav Havel und Ivan Klíma der Begabteste der Prager Dramatiker-Garde“, habe seine Protagonisten nicht ganz frei erfunden:„Der Unmut der Vorbilder blieb nicht aus. Der Herr vom Hradschin, Präsident Novotný, und der damalige KP-Chefideologe Vladimír Koucký ließen rügen, dass der reaktionäre Bauer König ‚Mitleid erweckt‘, eine ‚Gnädige Frau‘ aus der Bourgeoisie sympathisch wirke und im Stück zynische Reden geführt würden, wie zum Beispiel ‚Heutzutage hat keiner etwas, dafür schaut jeder zu, dass er hinaufkommt´.“
Auch vieles Weitere passte dem damaligen Regime nicht ins Konzept.
Im Mai 1968 inszenierte Krejča „Das Fastnachtsende“ bereits zum dritten Mal in Wien. Nach Meinung des Spiegel-Rezensenten war es „ein Glanz-Stück im Stil des Stanislawskischen Emotions- und Präzisionstheaters – und eine getreue Kopie der Prager Aufführung“.
Damals kam Krejča nicht allein nach Wien. Geladen war auch sein „Prager Topol-Team“. Mit dabei waren der international anerkannte Bühnenbildner Josef Svoboda, der Komponist Jan Klusák und die Kostüm-Designerin Jindřiška Hirsová.Auf Topols Stück „Fastnachtsende“ folgte 1965 „Die Katze auf dem Gleis“. Zur Premiere am 23. November 1965 schrieb Topol im Programmheft:
„Mir hat es Spaß gemacht, Dialoge zu schreiben und nicht zu schildern, wie etwas aussieht.“
Beim Schreiben dieses Theaterstücks habe er sich ausruhen wollen, so Topol. An weiteren Werken vom Typ „Fastnachtsende“ zu arbeiten, hätte ihm keine Freude mehr bereitet, erinnerte sich Topol 1991 im Interview für die „Revolver Revue“:
„Es jagte mir Schrecken ein, dass man von einer ‚Topolschen Sprache‘ beziehungsweise von einer ‚Topolschen Sichtweise‘ zu sprechen begann. Darin hätte ich mich wie eingekerkert gefühlt. Ich wollte etwas Intimes schreiben, was auf keiner großen Geschichte fußte. Am Anfang wusste ich nichts, außer dass zwei Verliebte in einer Bahnstation auf den Zug warten.“In einer verlassenen Bahnstation warten Évi und Véna auf einen Nachtzug und haben viel Zeit, ihre einst große Liebesbeziehung nach sieben Jahren zu beurteilen. Josef Topol:
„Ich wollte die beiden Protagonisten, deren Geburtsdatum zwar auf die Gegenwart verweist, zu einer höheren, tieferen Erkenntnis bringen. Und dazu, dass sie mittels ihrer Sprache über substantielle Dinge des Lebens sprechen und urteilen können, auch wenn es sich nur um eine Kellnerin und einen Möbelpacker handelt. Einen Bogen zu spannen, ist etwas, das mich beim Schreiben am meisten fasziniert und mir dennoch die größten Schwierigkeiten bereitet. Es bedeutet, die Protagonisten wie im wirklichen Leben sprechen, aber nicht ganz am Boden kleben zu lassen.“
1965 verließ Krejča aus Protest gegen die Kündigung von Karel Kraus zusammen mit diesem das Nationaltheater. Im selben Jahr gründeten sie gemeinsam das Theater „Divadlo za branou“ (Theater hinter dem Tor). Unverhohlen kritisierte der Regisseur damals:
„Wir hatten die Nase voll von der ewiggleichen Theatermaschinerie. Wir hätten Schuld auf uns geladen, wenn wir weiterhin dem Nationaltheater gedient hätten. Theater als solches ist keine Maschine, sondern ein Organismus.“
„Das Theater hinter dem Tor“ wurde am 23. November 1965 eröffnet, und zwar mit der Premiere von Topols „Katze auf dem Gleis“. Dass die Vorstellung heutzutage als legendär bezeichnet wird, das lag auch an der schauspielerischen Leistung beider Hauptdarsteller, Marie Tomášová und Jan Tříska. Otomar Krejča hatte hohe Ansprüche nicht nur an sein Mitarbeiterteam. Mit Sorgfalt baute er auch das Ensemble des Theaters auf. Mitte der 1980er Jahre sagte Krejča gegenüber dem italienischen Blatt „Corriere della sera“:„Nach zwei, drei Jahren war aus diesem Ensemble ein fantastisches Werkzeug geworden, ein Klavier, das alleine spielt.“
Auch deswegen erntete das Theater großen Erfolg bei Auftritten im Ausland, besonders in Westeuropa. Topols Drama „Katze auf dem Gleis“ vermittelte die Gefühle einer ganzen Generation, aber ebenso und noch viel intensiver trifft das auf Krejčas weitere Inszenierungen zu. Dazu gehörten Bühnenstücke von Tschechow, Shakespeare und weiterer Autoren, die Josef Topol kongenial übersetzt hat. Dem Theater war allerdings kein langes Leben beschieden. Im Juni 1972 wurde es von der kommunistischen Macht geschlossen. Offiziell wegen unzureichender Brandschutzvorkehrungen im Theatersaal. Für Topol und Krejča bedeutete dies praktisch das Berufsverbot. Der Theaterwissenschaftler Vladimír Just:
„Das Verbot, genauer gesagt die Liquidierung des damals weltweit berühmtesten tschechischen Theaters trotz Proteste namhafter Persönlichkeiten wie zum Beispiel Friedrich Dürrenmatt, Arthur Miller oder Ingmar Bergman war etwas Unglaubliches. ‚Divadlo za branou‘ war in erster Linie kein politisches Theater. Es inszenierte die Wahrheit über den Menschen, über die zwischenmenschlichen Beziehungen und über die Gesellschaft. Otomar Krejča hat das Berufsverbot aber paradoxerweise geholfen, sich im Ausland zu verwirklichen. Er inszenierte am Wiener Burgtheater, in Avignon, Brüssel, Stockholm, Paris und später auch in Moskau. Er war ein europäischer Regisseur von Weltformat.“Krejca führte die Regie bei 84 Theaterstücken, die Hälfte davon im Ausland. Topol arbeitete in den darauffolgenden Jahren als Korrektor, Fabrik- und Bauarbeiter. Seine Theaterstücke und Gedichte waren im Kommunismus jahrzehntelang verboten. Unter dem Namen eines Freundes übersetzte er Werke der Theaterklassiker. Als einer der ersten unterzeichnete er das Bürgerrechtsmanifest „Charta 77“. Nach der Wende kehrte Otomar Krejča nach Prag zurück, doch weder er noch Josef Topol konnten an die früheren Erfolge anknüpfen. Das von ihnen erneuerte Theater „Divadlo za branou II“ wurde 1994 auf Beschluss des Kulturministeriums erneut aufgelöst. Diesmal definitiv.